Projektion 2060
Eine Studie zur langfristigen Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft und des Kirchensteueraufkommens in Deutschland
Das Forschungszentrum Generationenverträge (FZG) der Universität Freiburg/Br. hat unter der Leitung von Bernd Raffelhüschen sowie der Mitarbeit von David Gutmann und Fabian Peters erstmals eine langfristige Vorausberechnung der Mitgliederzahlen und des Kirchensteueraufkommens bis zum Jahr 2060 für die katholische und die evangelische Kirche erstellt. Die Studie wurde im Mai 2019 veröffentlicht; die entsprechenden Zahlen liegen außer auf Bundesebene auch für die 20 evangelischen Landeskirchen und die 27 katholischen (Erz‑)Bistümer vor. Bereits 2006 wurde das FZG mit einer Langfristprojektion beauftragt, damals jedoch nur für den Bereich der katholischen Kirche. Die aktuelle Untersuchung wurde sowohl von der Deutschen Bischofskonferenz als auch der Evangelischen Kirche in Deutschland gefördert und bezieht erstmals Daten der vom Statistischen Bundesamt durchgeführten „Sonderauswertung Kirchensteuer aus der staatlichen Lohn- und Einkommensteuerstatistik“ ein.
Laut der Studie werden sich bis 2060 die Mitgliederzahlen sowohl der katholischen als auch der evangelischen Kirche halbieren: Die Anzahl der Katholik*innen wird von 23,3 Mio. (2017) über 18,6 Mio. (2035) auf 12,2 Mio. (2060) sinken; die Zahl der Evangelischen entwickelt sich von 21,5 Mio. (2017) über 16,2 Mio. (2035) auf 10,5 Mio. (2060) hin. Damit wird sich die Zahl der Katholik*innen in Deutschland im Jahr 2060 gegenüber heute um 48 % reduzieren und die der Evangelischen um 52 %. Auch die deutsche Wohnbevölkerung insgesamt wird sich in diesem Zeitraum verringern, jedoch weniger stark als die Kirchenmitglieder: von knapp 82 Mio. (2017) auf 73 Mio. (2060). Während der Anteil der Mitglieder der katholischen und der evangelischen Kirche an der Gesamtbevölkerung 2017 bei 54 % lag, wird er etwa 2025 50 % erreichen und bis 2060 auf 31 % absinken. Damit werden die Christen auch im Jahr 2060 immer noch die größte Glaubensgemeinschaft in Deutschland sein, aber dann eben in einer deutlichen Minderheitsposition gegenüber einer Mehrheit, die keiner Glaubensgemeinschaft (mehr) angehört.
Auf welche Gründe ist dieser Rückgang zurückzuführen? Die Studie unterscheidet zwischen dem demographischen Wandel und anderen, kirchenspezifischen Faktoren. Als neue und überraschende Erkenntnis ist festzuhalten, dass die demographischen Faktoren weniger stark ins Gewicht fallen: Sie sind im Fall der katholischen Kirche nur für ein Drittel des Mitgliederrückgangs verantwortlich, während Austritte und unterlassene Taufen zwei Drittel des Rückgangs bewirken. Konkret bedeutet dies: Die erwarteten katholischen Sterbefälle überschreiten die Geburten von Kindern katholischer Eltern sowie die katholische Zuwanderung aus dem Ausland. Nähme man nur diese demographischen Faktoren in Anschlag, würde sich die Zahl der Katholik*innen bis 2060 um nur 19 % reduzieren (statt 48 %). Hinzu kommen aber die kirchenspezifischen Faktoren, die für 29 % Rückgang gegenüber heute verantwortlich sind: Nicht alle Kinder katholischer Eltern werden auch getauft, und die Austritte aus der katholischen Kirche übersteigen die der Eintritte (sei es in Form von Erwachsenentaufen, Konversionen oder Wiedereintritten) bei weitem.
Die Studie gibt auch Auskunft über die Altersstruktur der Kirchenmitglieder und ihre Veränderung im Zeitverlauf. Im Basisjahr 2017 waren 24 % aller Katholik*innen 65 Jahre und älter, der Anteil der bis 19-Jährigen betrug 16 %. Deutlich werden drei mitgliederstarke Altersbereiche: die so genannten Babyboomer (Geburtsjahrgänge 1955 bis 1965), deren Eltern (Geburtsjahrgänge vor 1940) und deren Kinder (Geburtsjahrgänge Mitte der 80er Jahre). Diese geburtenstarken Jahrgänge rücken im Zeitverlauf in der Alterspyramide nach oben. Aufgrund von Sterbefällen und Kirchenaustritten sowie dem gleichzeitigen Nachrücken geburtenschwächerer Kohorten wird die Alterspyramide insgesamt schmaler und flacher. 2035 wird der Anteil der 65-Jährigen und Älteren 35 % betragen und 2060 auf 40 % anwachsen; die bis 19-Jährigen machen 2035 14 % und 2060 noch 12 % aus. Die katholische Kirche wird also nicht nur kleiner hinsichtlich ihrer Mitgliederzahl, sondern auch älter. Prozentual verliert die evangelische Kirche bis 2060 geringfügig mehr Mitglieder als die katholische, was v. a. an stärkerer Zuwanderung aus dem Ausland in der katholischen Kirche sowie an einer unterschiedlichen Altersstruktur im Basisjahr liegt.
Interessante Ergebnisse liefert die Studie auch zu den kirchenspezifischen Faktoren. So ist die Zahl der katholischen wie evangelischen Kindertaufen (bis 14 Jahre) seit dem Jahr 2000 absolut gesunken (von über 450.000 auf unter 350.000 pro Jahr); die Taufquote, also das Verhältnis von Taufen und Geburten im gleichen Jahr (bei denen mindestens ein Elternteil Kirchenmitglied ist), ist jedoch in den letzten Jahren sehr konstant: In der evangelischen Kirche beträgt sie 80 %, in der katholischen 77 %. In der evangelischen Kirche findet ein größerer Prozentsatz der Taufen außerhalb des Kleinkindalters statt als in der katholischen: Bei letzterer erfolgen 93 % der Taufen bis zum 6. Lebensjahr, 5 % zwischen 7 und 16 Jahren und 2 % im Erwachsenenalter. In der evangelischen Kirche finden jedoch 15 % der Taufen zwischen 7 und 16 Jahren (ein Effekt, der auf die Konfirmation zurückzuführen ist, sich aber nicht entsprechend für die Firmung im katholischen Bereich nachweisen lässt) und 5 % im Erwachsenenalter statt.
Die Wahrscheinlichkeit des Austritts aus der katholischen bzw. evangelischen Kirche ist im dritten und vierten Lebensjahrzehnt, v. a. im Alter zwischen 25 und 35 besonders hoch, wobei mehr Männer als Frauen die Kirche verlassen: Bis zum 31. Lebensjahr treten 26 % der getauften Männer und 20 % der getauften Frauen aus der Kirche aus. Insgesamt ist die Austrittsquote (Anzahl der Austritte an Mitgliedern insgesamt) pro Jahr in der evangelischen Kirche höher als in der katholischen (mit Ausnahme des Jahres 2010, dem Jahr des „ersten Missbrauchsskandals“), aber in beiden Kirchen nimmt sie über die Jahre tendenziell zu: in der katholischen Kirche von 0,48 % (2000) über 0,35 % (2005), 0,74 % (2010), 0,91 % (2014) auf 0,94 % (2018 – als prozentuales Allzeithoch, auch wenn die absolute Zahl ganz knapp unter dem bisherigem Höchststand von 217.000 Austritten 2014 liegt). Die Austrittsquote in der evangelischen Kirche stand 2014 bei einem Allzeithoch von 1,2 % (bedingt durch die Änderungen bei der Kapitalertragssteuer); in den meisten Jahren lag sie um 0,1 bis 0,2 Prozentpunkte höher als in der katholischen Kirche. Allerdings hat die evangelische Kirche einen zwar insgesamt kleinen, im Vergleich zur katholischen Kirche aber deutlich höheren Anteil von Eintritten: Jedes Jahr gewinnt sie ca. 45.000 Mitglieder über Wiederaufnahmen, Konversionen oder Erwachsentaufen hinzu, was etwa 0,2 % aller Mitglieder ausmacht. In der katholischen Kirche liegt dieser Prozentsatz konstant unter 0,1 %, so dass der Saldo von Aus- und Eintritten in vielen Jahren zwischen beiden Kirchen ausgeglichen ist.
Schließlich informiert die Studie über das in Zukunft zu erwartende Kirchensteueraufkommen. Demnach werden die Einnahmen aus der Kirchensteuer bis 2060 nominell konstant bleiben im Vergleich zu 2017 (gut 12 Mia. EUR für die katholische und evangelische Kirche gemeinsam). Da aber gleichzeitig die Kaufkraft um 51 % abnehmen wird, wird man mit diesem Aufkommen nur noch die Hälfte des (kirchlichen) Warenkorbs finanzieren können. Um den Kaufkraftverlust auszugleichen und sich den gleichen Warenkorb wie 2017 leisten zu können, benötigte man Kirchensteuereinnahmen in Höhe von 25 Mia. EUR.
Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass es sich um eine annahmebasierte Vorausberechnung handelt, deren Validität von der Qualität der verwendeten Daten und der zugrunde gelegten Annahmen abhängt. Bei den kirchenspezifischen Faktoren (Taufen, Aus- und Eintritte) etwa werden die fünfjährigen alters- und geschlechtsspezifischen diözesanen bzw. landeskirchlichen Durchschnittswerte herangezogen. Es werden somit die Trends der Gegenwart in die Zukunft fortgeschrieben. Kurzfristige Entwicklungen können somit nicht berücksichtigt werden. Genauso ist es möglich, dass sich die gesellschaftlichen und kirchlichen Rahmenbedingungen signifikant verändern, so dass die erwarteten Entwicklungen schneller eintreten können (oder auch langsamer, wenn den Kirchen im Fall von zunehmenden Notsituationen unerwarteterweise die Position von „Krisengewinnlern“ zufiele – was nicht zu hoffen ist).
Außerdem sind bedeutsame regionale Unterschiede zu beachten: Da der Altersaufbau und auch die weiteren Einflussfaktoren in den Diözesen und Landeskirchen voneinander abweichen, sind auch unterschiedliche Entwicklungen hinsichtlich der Mitgliederzahlen zu erwarten. Die höchsten absoluten Mitgliederverluste erfolgen im Westen Deutschlands (Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hessen und Saarland) und die relativ größten Verluste in Ostdeutschland. Auch innerhalb von Diözesen und Landeskirchen kann es zu Ungleichzeitigkeiten in der Mitgliederentwicklung kommen, z. B. durch die hohe Zuwanderung in die Metropolregionen Berlin oder Hamburg.
Welche Ansatzpunkte für kirchliches Handeln ergeben sich aus den Erkenntnissen der Studie? Zu bedenken ist: Prognosen wie die hier vorgestellte stellen Wenn-dann-Aussagen dar – unter bestimmten Voraussetzungen werden diese oder jene Folgen eintreten. Kirchliches Handeln müsste also danach fragen, welche der gemachten Voraussetzungen veränderbar sind, um die erwarteten Folgen in eine günstigere Richtung zu beeinflussen. In der Interpretation der Ergebnisse der Projektion 2060 wird oft darauf hingewiesen, dass zwar die demographische Entwicklung dem kirchlichen Einfluss entzogen, aber die kirchenspezifischen Faktoren (v. a. Austritte und unterlassene Taufen) prinzipiell beeinflussbar seien. Dies ist zwar prinzipiell richtig, man darf aber die vorhandenen Spielräume nicht überschätzen. Der in modernisierten Gesellschaften langfristig zu beobachtende Säkularisierungsprozess und der damit verbundene Relevanzverlust von Religion und Kirche lässt sich nicht zurückdrehen durch Erhöhung der Qualität kirchlicher Arbeit und eine verstärkte (oder überhaupt erst in den Blick genommene) Mitgliederorientierung – so wichtig und unterstützenswert Maßnahmen in diese Richtung auch zweifellos sind.
Die noch wichtigere Frage wäre, welche Aufgabe Kirche in einer ihr zukünftig zufallenden Minderheitenposition hat (die sie übrigens in weiten Teilen Ostdeutschlands bereits heute innehat). Prioritär kann dabei bereits aus ekklesiologischen Gründen nicht das Bemühen um Rekrutierung oder Bindung von Mitgliedern sein, sondern die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat in „demütigem Selbstbewusstsein“, wie es der emeritierte Erfurter Bischof Joachim Wanke formuliert hat, und mit leichtem Gepäck.
Das (Noch‑)Kleiner-Werden muss zunächst einmal angenommen und akzeptiert, dann aber auch gestaltet werden. Zu fragen wäre etwa, mit welchen Partnern man zusammenarbeiten kann, um ein gutes Zusammenleben im gemeinsamen Haus der Erde zu fördern („Ökumene“). Man wird kirchlicherseits nicht mehr unbedingt eine flächendeckende Versorgung vorhalten können, sondern stärker exemplarisch handeln. Diejenigen, die in der Minderheitensituation der Diaspora ihr Christsein bewusst leben, werden wahrscheinlich nicht Mission als Mitgliedergewinnung um jeden Preis betreiben, sondern das ihnen anvertraute Geheimnis bewahren und feiern, auch in Stellvertretung für andere und in Offenheit für diejenigen, die bloß gelegentlich und anlassbezogen nach Gott fragen. Statt Untergangs- (oder Rettungs‑)Rhetorik wäre eine geistliche Deutung des Kleinerwerdens nötig: Was mag Gott uns damit konstruktiv sagen wollen, dass er uns in diese veränderte Situation hineinstellt?
Weitere Informationen zur Projektion 2060 finden sich auf den Themenseiten der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) www.dbk.de/themen/kirche-und-geld/projektion-2060 sowie der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) www.ekd.de/projektion2060.
Innovative Modelle und strategische Perspektiven von gelungener Mitgliederorientierung sind gesammelt in: Gutmann, David u. a. (Hg.), Kirche – ja bitte, Neukirchen-Vluyn 2019.