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Vom Umgang mit der ästhetischen Tradition

Die meisten unserer Kirchen sind von der Ästhetik früherer Zeiten geprägt – mit der viele heutige Menschen ihre Schwierigkeiten haben oder gar nichts mehr anfangen können. Wie damit umgehen? Der Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards stellt dazu verschiedene Strategien vor.

Bilderflut und Bildersturm

„Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde“ (Ex 20,4; Dtn 5,8) – das alttestamentliche Bilderverbot hat eine bis heu­te andauernde Wirkungsgeschichte. Da das Christentum die Hebräische Bibel in den Kanon seiner heiligen Schriften übernahm, hatte es sich auch mit dem Bilderverbot im Dekalog auseinanderzusetzen. Die Folge war und ist ein unablässiger Wechsel von bilderfreudigen und bilder­feindlichen Phasen bzw. das Nebeneinander von sinnlich oder intellek­tuell dominierten Ausprägungen von Christianität. Dabei geht es nicht nur um das Visuelle. So stellt etwa das Verhältnis zur Kirchenmusik einen der Konfessionsunterschiede zwischen Luthertum und reformier­ter Kirche dar. Im Hintergrund dieser Konflikte steht die Frage, ob das Christentum (ähnlich wie das Judentum) Religion im eigentlichen Sinn ist oder mehr Religionskritik, die allein auf das Wort der Offenbarung bezogen ist.

Aber gleich, ob es sich um eine bilderfreudige oder bilderfeindliche Epo­che bzw. Institution handelt: Die Ästhetik spielt immer eine tragende Rolle, ob man will oder nicht. Dies gilt insbesondere für intellektualis­tische Diskurse, die die sinnlich gesendeten und empfangenen Subtexte nicht reflektieren und so leicht die tatsächlichen Aussagen verfehlen. Hier wirken ästhetische Reize umso mehr, aber meist im negativen Sinn. Das alles ist seit dem sog. iconic turn bewusst geworden. Die For­schungen über „Atmosphären“ und „Resonanzen“ gehören in diesen Zusammenhang.

Wenn man also akzeptiert hat, dass Christentum (wie Menschsein über­haupt) ohne Ästhetik nicht denkbar ist, so stellt sich doch die Frage, welche Ästhetik der gegenwärtigen Situation angemessen ist. De facto sind unsere Kirchen von einer Ästhetik der Vergangenheit geprägt, was positive und problematische Züge zugleich trägt. Positiv daran ist die Erfahrung von Beheimatung, Verankerung in Tradition und Bekräfti­gung einer überzeitlichen Gemeinschaft. Problematisch erscheint die Erfahrung der zeitlichen Distanz und der damit verbundenen Empfin­dung der Musealisierung der Glaubensaussagen. Die Kernfrage ist also, wie man mit der ästhetischen Tradition umgehen soll. Die radikale Lö­sung wäre, die Kirchen leer zu räumen und sie ganz neu einzurichten bzw. sich gleich von ihnen zu verabschieden und neue ästhetische Er­fahrungsräume zu suchen oder zu schaffen. Das andere Extrem hieße, alles beim Alten zu lassen und höchstens zu versuchen, im Rahmen von Kirchenraumpädagogik die Leute an die Ästhetik der Vergangenheit heranzuführen. Dies gilt im Übrigen auch für Kirchenräume der Moder­ne, deren Ästhetik aus anderen Gründen in vielen Fällen zu keiner Zeit „verstanden“ worden ist. Vorurteile z. B. gegenüber dem Baumaterial Beton versperren leicht den Blick für die ästhetischen Qualitäten dieser Architektur. Im Folgenden geht es darum, Möglichkeiten eines produk­tiven Umgangs mit der ästhetischen Tradition zu reflektieren.

Ästhetische Modewechsel in jüngerer Zeit

Wer über einige Jahrzehnte ästhetischer Erfahrung im Raum der Kirche verfügt, wird sich an einige „Modewechsel“ erinnern können. In der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte die sog. Nachkriegsmoderne, bei der man auf Schlichtheit und Reduktion setzte. Auch wo noch ältere Ausstattung etwa aus der Zeit des Historismus er­halten geblieben war, beseitigte man sie mit Einsetzen des „Wirtschafts­wunders“ der 50er Jahre oft zugunsten einer „modernen“ Einrichtung. Im Zuge der liturgischen Neueinrichtung nach dem Zweiten Vatikani­schen Konzil wurde diese Tendenz teilweise noch verstärkt. Dabei herrschte eine Art Kirchenstil vor, der sich zwar an die Moderne anlehn­te, aber ästhetisch der traditionellen Formensprache verhaftet blieb. Nur selten wagte man radikal neue Lösungen. In der Architektur gab es allerdings zahlreiche zukunftsweisende Resultate, von denen viele in­zwischen auf der Internetseite „Straße der Moderne“ vorgestellt wer­den. Diese Kirchengebäude gehören inzwischen aber auch zu den am meisten gefährdeten, da sie wegen ihrer puristischen Ästhetik (z. B. Betonkonstruktion, Verzicht auf Dekor, Lichtführung) nie wirklich akzeptiert wurden. Die „Ästhetik der Leere“, wie sie wohl zuerst und am eindrucksvollsten in der von Rudolf Schwarz 1930 errichteten Aachener Fronleichnamskirche realisiert wurde, konnte in den seltensten Fällen durchgehalten werden, da sie für die handelnden Personen eine wohl zu große Herausforderung darstellt.

Als Gegenbewegung zum Bildersturm der Nachkriegszeit bahnte sich etwa seit Beginn der 80er Jahre ein „umgekehrter Bildersturm“ an. Offenkundig wurde dies im Zusammenhang mit der künstlerischen Ausgestaltung einiger der wiederaufgebauten romanischen Kirchen Kölns, deren Steinsichtigkeit und Weißverglasung von den einen als unerträgliches Provisorium, von den anderen als Ideal angesehen wur­den. Der Streit ist, etwa in Bezug auf die neuen Kirchenfenster von Markus Lüpertz in St. Andreas, bis heute nicht beigelegt.

Neuere Kirchenbauten bzw. ‑renovierungen sind nach wie vor eher puristisch konzipiert. Farbe und Dekor werden, wenn überhaupt, nur spärlich verwendet. Dies gilt etwa für die Propsteikirche in Leipzig als Neubau oder für St. Moritz in Augsburg sowie den Hildesheimer Dom als Renovierungen. In der barocken Augustinerkirche in Würzburg hat man dagegen durch große farbige Ölbilder einen modernen Gegenakzent gesetzt.

Auf der „Verbraucherebene“ lässt sich seit langem die Beobachtung ma­chen, dass man die Leere auf unterschiedliche Weise zu füllen sucht, sei es durch Topfpflanzen oder durch Installationen aus Kreativgottes­diensten. Manche Kirche, die einmal von allerlei historischem Beiwerk „geklärt“ worden war, ist inzwischen wieder mit Stücken aus dem Be­stand oder Neuerwerbungen zugestellt. Diese stammen zunehmend aus aufgelassenen Kirchengebäuden und fügen sich oft kaum in das Vor­handene ein.

Die skizzierten widersprüchlichen Phänomene können eigentlich nicht verwundern, da sie der pluralen Wirklichkeit unserer heutigen Gesell­schaft entsprechen. Auf die ästhetische Tradition der Kirche(n) ange­wandt heißt dies: Ein Teil der Bevölkerung wird die traditionelle Ästhe­tik (Architektur, Kunst, Musik, Liturgie) nach wie vor goutieren, teils aus innerer Kenntnis der Geschichte, teils aus Gefallen am Schönen. Diesen Menschen ist an einem möglichst unveränderlichen Erhalt die­ser Tradition gelegen. Das gegenteilige Extrem ist der weitgehende Ver­zicht auf ästhetische Reize, wie er z. B. in Versammlungsräumen evan­gelikaler Gemeinden anzutreffen ist. Hier bilden allenfalls ein schlichtes Kreuz und ein Bibelspruch den Bezugspunkt. Freilich ist auch dies im Vergleich zur ästhetischen Revolution in der Aachener Fronleichnams­kirche noch konventionell, da die Wand mit Kreuz und Bibelspruch noch immer als Informationsträger fungiert, während die weiße Wand über dem Altar in Aachen die Bildfindung ins Innere der Betrachtenden verlegt. Das intendierte Bild (in diesem Fall des in die Gemeinde Einzug haltenden Christus) entsteht nach den Vorstellungen der zeitgenössi­schen liturgischen Bewegung durch die liturgische Feier, die selbst Bild ist. Allerdings war man auch in Aachen zeitweise dem hohen Anspruch nicht gewachsen, so dass für einige Jahre ein monumentales Kruzifix die Leere überdeckte, von der Romano Guardini schrieb: „Das ist nicht Leere, das ist Stille, und in der Stille wohnt Gott.“

Die Frage nach dem Umgang mit der ästhetischen Tradition der Kirche radikalisiert sich heute in noch stärkerem Maße als in der Zeit der klassischen Moderne, die sich von einem erstarrten Historismus des 19. Jahr­hunderts emanzipieren wollte. Konnte man damals noch auf die innere Kraft des Religiösen bauen – Guardini prägte das Wort „Die Kir­che erwacht in den Seelen“ –, so ist heutzutage ein solcher Aufbruch nirgends in Sicht. Erschwert wird ein ästhetischer Neuansatz zudem durch die Revolutionierung der Wahrnehmung infolge der elektroni­schen Medien, deren physische und psychische Folgen noch lange nicht abzusehen sind. Bei jungen Menschen sind zurzeit völlig entgegenge­setzte Verhaltensweisen festzustellen. Ist für die einen die Welt der traditionellen Ästhetik (nicht nur der religiösen) vollkommen entfrem­det und damit gleichgültig – dies äußerte sich z. B. in Reaktionen von völliger Indifferenz in Bezug auf den Brand von Notre Dame –, boomt bei anderen eine Retro-Welle bis hin zur Wahl klassischer religiöser Motive für Tattoos. Andachtsbilder, die vor einigen Jahrzehnten eher Erheiterung auslösten, sind heute durchaus für nicht wenige Jugend­liche ernsthafte Bezugsobjekte. Bewegungen wie Nightfever nutzen mit Erfolg gefühlsbetonte Formen traditioneller Ästhetik, Institutionen wie das Gebetshaus Augsburg verbinden solche Elemente mit denen der heutigen Eventkultur. Aus alldem stellt sich die Frage, ob hier das Prinzip „anything goes“ gilt.

Strategien zur Vermittlung der ästhetischen Tradition zwischen Musealisierung und Eventisierung

Die Frage nach dem Umgang mit der ästhetischen Tradition führt letzt­lich zur Frage nach dem Umgang mit der Glaubenstradition selbst. Denn diese ist ja nie in Reinkultur zu haben. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils, das sich in seinem ersten Dokument, der Litur­giekonstitution, prinzipiell von einem festlegten Kanon der Glaubens­ästhetik verabschiedet und der Inkulturation die Türen geöffnet hatte, warf Romano Guardini die Frage nach der „Liturgiefähigkeit“ des heu­tigen Menschen auf. Die Anfrage Guardinis traf insofern ins Schwarze, als er das Reformieren der römischen Liturgie im herkömmlichen Sinne als authentisches Fortschreiben einer Tradition für möglicherweise ob­solet erklärte. Wenn die Prämisse stimmt, dass der „moderne“ Mensch zum liturgischen Akt (im herkömmlichen Sinn) nicht mehr fähig ist, müsste man die klassische Liturgie wohl ganz aufgeben. „Und sollte man, statt von Erneuerung zu reden, nicht lieber überlegen, in welcher Weise die heiligen Geheimnisse zu feiern seien, damit dieser heutige Mensch mit seiner Wahrheit in ihnen stehen könne?“ Zwar relativierte Guardini anschließend diese Frage („Es klingt hart, so zu sprechen. Es gibt aber nicht Wenige, vielleicht, aufs Ganze gesehen, sogar Viele, die so denken“), aber sie steht seitdem im Raum. Bemer­kenswert ist an dieser Aussage, dass der Text dem „heutigen“ Menschen „seine Wahr­heit“ zuschreibt, die in irgendeiner Weise in der Liturgie ihren Ort fin­den muss. Da ist zwar von „heiligen Geheimnissen“ die Rede, die unab­hängig von den veränderlichen – antiken, mittelalter­lichen oder ba­rocken – Formen Bestand haben, also von einer für uns Menschen unverfügbaren Wirklichkeit, aber nicht von unverrückbaren Wahrhei­ten, ehernen Traditionen, denen der Mensch sich bedingungs­los unterzuordnen habe. Es geht vielmehr um eine Begegnung zweier Größen: Der Mensch mit seiner Wahrheit soll so mit den heiligen Ge­heimnissen in Berührung kommen, dass er „in ihnen stehen“ kann (Guardini 1992, 16). Auf die ästhetische Erfahrung angewandt hieße dies: Welche Ästhetik braucht der heutige Mensch, dass er authentische Erfahrung über die Sinne machen kann? Guardini, der ein Leben lang um Vermittlung der europäischen Kultur bemüht war, wollte wohl kaum die ganze rituelle Tradition über Bord werfen; aber offenbar be­gegnete er gegen Ende seines Lebens den von ihm und seinen Gefährten eingeübten Formen der Vermittlung mit größerer Skepsis, da er wohl früher als andere spürte, dass der Ansatz aus der Zeit der großen Bewe­gungen seine Tragfähigkeit zu verlieren begann.

Hat die ästhetische Tradition des Christentums also nur noch eine Über­lebenschance in musealen Nischen und in einigen exklusiven Zirkeln? Wird sie nur noch da wahrgenommen, wo sie als Eventkulisse, als Staf­fage oder gar als Karikatur oder Chiffre des Bösen im Film herhalten muss? Hier sind einige Gegenoffensiven zu nennen, die die traditionelle Ästhetik auf unterschiedliche Weise mit den Facetten heutiger Kultur in Beziehung setzen.

Das Kölner Diözesanmuseum Kolumba, hervorgegangen aus einer Sammlung von Sakralgegenständen des Vereins für christliche Kunst, erfindet sich von Jahr zu Jahr neu, insofern bis auf ganz wenige Stücke eine ganz neue Ausstellung konzipiert und jeweils am 14. September eröffnet wird. Klassische Sakralkunst, meist aus dem Bestand, wird in Beziehung gesetzt mit Gegenwartskunst und mit Alltagsgegenständen, wodurch im Betrachtenden spannungsvolle, manchmal auch schmerz­hafte Dialoge entstehen. In dem 2019 erschienenen Band „Auswahl 3“ heißt es: „Kunst ist in Kolumba kein Selbstzweck […] Kunst ist ein Medi­um der Welterfahrung; sie stellt Fragen und schafft Erkenntnis, wo in­tellektuelle Theorie, wissenschaftliche Beweisbarkeit und das Vermö­gen der Sprache zu kurz greifen. Kunst ist aber auch Produkt und Produ­zent von Diskursen, eingebunden in Praktiken der Gesellschaft, die in Sammlungen gespeichert und weitergetragen werden. Als Museums­leute sind wir Hüter dieses Wissens und damit der Geschichten und Erfahrungen all jener, die diese Objekte geschaffen haben. Wir betreiben eine Wissenschaft des Konkreten; mit der Inszenierung von Kunst und in ihrem Zusammenwirken mit Ort und Architektur möchten wir diese Geschichten wieder lebendig werden lassen und die Bedingungen schaf­fen für ein ästhetisches Erlebnis, das Sinnlichkeit und Ratio gleicher­maßen miteinschließt“ (Kraus u. a. 2019, 17).

Das Konzept der Kunststation Sankt Peter Köln verbindet ebenfalls Ästhetik der Gegenwart in Form von temporären Ausstellungen und Musikaufführungen mit der Ästhetik der Tradition, hier der spartanisch eingerichtete spätgotische Kirchenraum mit seinen Glasmalereien und dem Bild der Kreuzigung Petri von Peter Paul Rubens. Einen ständigen modernen Bezugspunkt bildet der Kreuzaltar von Eduardo Chillida, der allerdings von seinem ursprünglichen zentralen Aufstellungsort wei­chen musste. Hier treten jedoch die gefeierte Liturgie und die Verkündi­gung als wesentliche Elemente hinzu.

Temporäre künstlerische Interventionen in alten Kirchenräumen kön­nen dazu verhelfen, die glatte Oberfläche des allzu Bekannten aufzu­rauen und die Tiefendimensionen dahinter wahrzunehmen. Dies ge­schieht inzwischen in vielen evangelischen wie katholischen Kirchen­gebäuden. Im Grunde hat die Verfremdung in der Bilderverhüllung während der Passionszeit eine alte kirchliche Tradition. Man sieht das zeitweilig Verborgene bzw. Veränderte gleichsam mit neuen Augen. Geht es dabei um Reduktion, wird auf der anderen Seite mit Hilfe moderner Technologien versucht, die ästhetische Tradition in die Wahrnehmungsgewohnheiten von heute zu übersetzen. Dies kann durchaus gelingen, gerät aber auch leicht in eine Eventisierung und Instrumentalisierung, die einer wirklichen Wahrnehmung im Wege steht.

Bei der liturgischen Neueinrichtung alter Kirchenräume stellt sich immer wieder die Frage, ob man die neuen Elemente möglichst unauf­fällig dem Bestehenden anpassen oder doch mit ihnen einen zeitgenös­sischen Gegenakzent setzen soll. Wählt man den zweiten Weg und ge­lingt dies, kann auch der musealisierte Raum eine neue Vitalität entfal­ten. Dies gilt z. B. für die Namen-Jesu-Kirche in Bonn, für die nach der Übernahme durch die altkatholische Gemeinde der Bildhauer Klaus Simon die Prinzipalstücke geschaffen hat.

Noch radikaler ist man mit einem – allerdings weniger prominenten – Kirchenraum in Kehl-Goldscheuer umgegangen. Durch die avantgardis­tische Neufassung des gesamten Innenraums der Kirche Maria – Hilfe der Christen durch den Künstler Stefan Strumbel konnte nicht nur das Gebäude in seiner kirchlichen Nutzung erhalten bleiben, sondern es wurde darüber hinaus zum Kristallisationsort eines neuen Gemeinde­bewusstseins.

Eine wohl immer bedeutendere Möglichkeit der Vermittlung der ästhe­tischen Tradition bietet die Hybridisierung von Kirchengebäuden, wie sie inzwischen in vielfältiger Weise geschieht. City- und Wandererkir­chen, Kinder- und Jugendkirchen, Kultur- und Sozialkirchen dienen nicht mehr nur einer Nutzung, nämlich der liturgischen, sondern meh­reren Nutzungen und oft auch mehreren Zielgruppen. Mehrfachnut­zung von Kirchen kann hier eine Chance sein und nicht nur eine Notlö­sung, wenn man verantwortungsvoll damit umgeht. Dies gilt selbst für veräußerte Kirchengebäude, die aus Grün­den des Denkmalschutzes Teile ihrer sakralen Ausstattung behalten haben, etwa im Fall der ehemaligen St.-Elisabeth-Kirche in Aachen, jetzt Digital Church. Der Besitzer ist durchaus offen für kirchliche Ange­bote, die aber bislang ausgeblieben sind. Gerade hier ist die traditionelle Ästhetik einer Kirche aus der Zeit des Historismus ein spannender An­knüpfungspunkt, inso­fern der Raum eine Art Gegenästhetik gegenüber dem Mainstream dar­stellt und zur Nachdenklichkeit einlädt. Dies entspricht ja durchaus sowohl dem Anspruch der Kunst wie auch der christlichen Religion: Es geht um das notwendig Widerständige, und der Gottesdienst als zweck­freies Tun ist der Resonanzraum.

Das Paradigma ästhetischer Erfahrung: der Gottesdienst

„Seid nicht gleichförmig“, ermahnt Paulus seine römische Gemeinde (Röm 12,2). Es geht heute mehr als früher um die Frage, wie sich singu­läre Subjekte zu neuen kollektiven Subjekten gleicher Intentionalität zusammenschließen können. Dies ist wesentlich auch eine Frage der Ästhetik. In einer medial dominierten Kultur gibt es dafür unendlich viele Möglichkeiten suggestiver Beeinflussung, wobei sich am Ende die Frage stellt, ob das Resultat nicht doch ein kollektives Objekt ist. Dem­gegenüber hat sich in den biblischen Religionen ein Typ von Gottes­dienst entwickelt, der Authentizität auf der Grundlage autonomer Frei­heit wahrt. „Hier bildet sich eine kollektive Intentionalität wesentlich dadurch aus, dass die beteiligten Akteure die Wünsche, Urteile und Intentionen einer ganz bestimmten Person frei übernehmen: der Person Jesu Christi. Gott ermöglicht diese Übernahme restlos selber in der Kraft seines Geistes durch die ganzheitliche Teilgabe an der Person seines Sohnes, insbesondere in Taufe und Eucharistie“ (Winter 2017, 146). Das erschließt sich allerdings nicht von selbst und erfordert eine Einübung, die heutigen Lebensgewohnheiten eher entgegensteht. Aber gerade weil der Gottesdienst Widerständiges beinhaltet oder, mit anderen Worten, Differenzerfahrungen zulässt, kann er zum Resonanzraum werden, in dem selbst einander Widersprechendes nebeneinanderstehen kann: „Authentizität und Entfremdung, Beschleunigung und Entschleuni­gung, tröstende und fehlende Resonanzen … Liturgie ist nicht weltab­gewandtes Paradies wohltuender Resonanz, sondern birgt neben den vielen heilsamen Erfahrungen der Glaubenstradition auch Erfahrungen der Entfremdung wie der Gottesferne“ (Odenthal 2018, 54).

Auf die ästhetische Tradition angewandt bedeutet dies, dass man auf kreative Weise mit ihr umgehen muss. Der Maler Georg Meistermann hat einmal Avantgarde als ein „Nach-vorne-Bewahren“ umschrieben: Im künstlerischen Prozess geschieht traditio, Weitergabe nicht durch bloßes Wiederholen, sondern durch kreative Aneignung und Umwand­lung. Dazu bedarf es einer Vision des Kommenden. Das ist im Tradie­rungsprozess der Religionen, insbesondere des Christentums, nicht anders. Lebendig bleibt der christliche Glaube nicht durch sklavische Repetition, sondern durch ständige Innovation aus der Interaktion von Überlieferung und jeweiliger Gegenwart. Auch das ist ein schöpferi­scher Prozess, der nach christlichem Selbstverständnis nicht auf eigene Leistung zurückgeht, sondern vom Creator Spiritus geleitet ist. Wahr­scheinlich steht am Ende des Weges kreativer Aneignung ein anderes ästhetisches Bewusstsein, als man anfangs gedacht hatte, aber nur so geht lebendige Tradition. Wie also umgehen mit der Tradition? – Avantgardistisch bewahren!