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Ein Haus voll Glorie und Schauer

Überlegungen zum ästhetisch-spirituellen Potential von Kirchenräumen

Wie wirkt ein Kirchenraum auf Besucher? Er hat – sofern gut gestaltet – seine ganz eigene Pädagogik. Werner Schrüfer zeigt die spirituell-theologischen Potentiale auf, die darin liegen.

„Hübsch hässlich habt ihr’s hier!“ Im Laufe meines nun über sechs Jahr­zehnte währenden Lebens als Christ und leidenschaftlicher Besucher von Gotteshäusern aller Art kam mir nicht selten dieses berühmt gewor­dene Diktum des priesterlichen Meisterdetektivs Pater Brown in den Sinn. Ein Gotteshaus-Aufsucher kann die ganze Bandbreite dieser bei­den Pole erleben, wobei mit „hübsch“ die Bedeutungen „gefallend“ und „schön“, die sich seit dem 15. Jahrhundert im deutschen Sprachraum durchgesetzt haben, gemeint sind, wogegen „hässlich“ einfach das Unansehnliche und Verunstaltete zum Ausdruck bringt. Ich sehe vor mir die kleine Dorfkirche in Burgund, die einen mit einer großartig-filigranen Portalfront in Beschlag nimmt, im Innern aber zerstört eine grässliche Mixtur an hineingestellten Kitschprodukten die Atmosphäre dieses Raumes vollends. Ich sehe vor mir die ganz schlicht ausgestaltete fränkische Kapelle, deren einfache gotische Formen durch die Steinsich­tigkeit des Materials eine Anmut entwickeln, die einen gern verweilen lässt. Ich sehe vor mir den gewaltigen Baukörper einer gotischen Kathe­drale in England, bei näherer Betrachtung jedoch muss mit Erschrecken festgestellt werden, dass sie selbst in wesentlichen Räumen zur Rum­pel- und Abstellkammer degradiert ist. Ich sehe vor mir die niederbaye­rische Pfarrkirche, in der man, weil mit neugotischem Mobiliar und üppigen Blumenarrangements vollgestopft, den Raum vor lauter Deko­ration nicht mehr wahrnehmen kann. Ich sehe zahllose Kirchen vor mir, die – aus welchen Gründen auch immer – nach dem Motto eingerichtet sind, für Gott und sein Haus muss das Billig-Serielle gut genug sein; eine Motivation zum Glauben kann sich da wenig einstellen, selbst wenn man bereit ist, länger zu bleiben. Ich sehe zahllose Gotteshäuser vor mir, die einen mit ihrer Stimmigkeit in Raum und Form wie eine Haut umfangen und die unaufdringliche, doch nachdrückliche Botschaft des Gut-aufgehoben-Seins ins Herz legen.

Auch wenn manche derzeitigen Meinungsmacher wie zum Beispiel Richard David Precht meinen, Kirchen werden immer mehr zu Immo­bilien, die herumstehen und die keiner mehr braucht, auch wenn be­sonders im westlichen Europa die Zahl von Gottesräumen steigt, die mangels „Betrieb“ aufgegeben werden müssen, ist die Nachfrage nach Sakralbauten ungebrochen. So berichtet der Schweizer Architekt Mario Botta von seiner paradoxen Erfahrung, dass säkularisierte Gesellschaf­ten von spirituellen Bedürfnissen weit entfernt scheinen, er aber stän­dig für die Errichtung von Kirchenbauten angefragt wird. Botta steht dem durchaus positiv gegenüber: „Ich mag es, auch in der Gegenwart spezielle Räume der Stille, Meditation und des Gebets sowie des Ent­behrens zu schaffen“ – vor allem deshalb, weil hier die Chance bestehe, einen adäquaten Ausdruck für die Kultur unserer Zeit zu schaffen, ohne irgendwelche funktionalen Zwänge (Schweizer Architekt Botta 2019). Keine Frage, es gibt gegenwärtig diese Tendenz zur Resakralisierung, gerade im Bereich des Kirchenbaus. Wie aus der Zeit gefallen wirken dagegen manche multifunktionalen Kirchenbauten der 1970er Jahre im deutschsprachigen Raum.

Kirchenräume tragen zweifellos auch heute noch enorme Potentiale in sich. Diese Stärken sollen im Folgenden thematisiert werden. Was ge­schieht, wenn jemand – gehen wir von einem halbwegs Interessierten aus – eine Kirche betritt? Was geschieht mit diesem jemand, wenn er sich auf diesen Raum einlässt? Wie wirkt ein Raum auf den Besucher und was bewirkt ein Raum beim Besucher? Wie wird wahrgenommen? Oder auch nicht wahrgenommen? Dabei sind es in erster Linie die ästhe­tischen sowie spirituellen Potentiale, die es zu bedenken gilt, daneben aber auch anthropologische und psychologische Erkenntnisse.

Ästhetik und Spiritualität

Gerade wenn es um (Kirchen‑)​Räume geht, ist der Eindruck oder sind es die Eindrücke, die unsere Wahrnehmung wesentlich prägen. Die Ästhe­tik, genauer: die Subjektästhetik, als Spielart der Philosophie beschäf­tigt sich mit sinnlicher Empfindung oder Wahrnehmung. Sie wird auch „Eindruckswissenschaft“ genannt. Geht man der Frage nach, wie und durch was dieses Beeindruckende beschrieben werden kann, wird auf die Atmosphäre verwiesen, die wahrgenommen wird. Der Philosoph Gernot Böhme meint: „In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahrnehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stim­mungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, dass ich jetzt hier bin […] Umgekehrt sind Atmosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebungen präsentieren“ (Böhme 1995, 95). Folgen wir letzterem Gedanken, dass die Atmosphäre das wesentliche Prinzip von Präsentation und Vergegenwärtigung ist und damit der Wahrnehmung des mich Umgebenden dient, wird verständlich, dass insbesondere die Wirkung des Kirchenraums davon abhängt, ob es der Architektur, d. h. also der äußeren wie inneren (Aus‑)​Gestaltung ge­lingt, eine Atmosphäre zu schaffen, die subjektiv in ergreifenden Ge­fühlsmächten berührt und bewegt. Früher sagte man dazu, atmos­phärisch das Tremendum und Faszinosum zu bewirken, das faszinie­rend Erhabene und das Unheimlich-Verstörende. Oder wie es einmal ganz bodenständig im Besucherbuch des Erfurter Domes zu lesen war: „Wir glauben nicht an Gott und seine Gläubigen. Wir wollten nur aus Gag in diese Kirche. Doch als wir hier drinnen waren, war plötzlich alles anders. Uns umfasste eine neue Atmosphäre. Jetzt verstehe ich die Gläubigen, ihren Glauben. Hier ist alles anders: die Menschen, die Atmosphäre, die Umgebung.“ Auch wenn dies sehr ambitioniert ist: Zielpunkt dieser Erfahrung einer ästhetisch-atmosphärischen Gefühls­macht ist nicht das im Zitat angesprochene Verständnis für die Gläubi­gen und ihre Räume, sondern er liegt in der Verbundenheit mit Gott und der Welt, in einer tiefen Verankerung mit dem Geheimnis von Schöpfung und Welt, im Ja-Sagen zu einer bergenden Verortung. So wie es die Jünger bei der Verklärung ins Wort stammelten: „Meister, es ist gut, dass wir hier sind“ (Lk 9,33).

Weiterführen kann dabei, was wir als zeitgenössische, und dann ver­stärkt, was wir als christliche Spiritualität bezeichnen. Wenn der Theologe Hans Urs von Balthasar (1905–1988) Spiritualität als „Durch­stimmt­heit des Lebens“ definierte, dann sind wir dem sehr nahe, was im Wahrnehmen dieser ästhetisch-atmosphärischen Gefühlsmacht eines Raumes, natürlich immer nur punktuell sowie orts- und zeitbe­dingt, geschehen kann. Für viele, die dies erfahren, handelt es sich zu­erst und anfanghaft um ganz allgemeine Wahrnehmungserfahrungen wie Ruhe, Stille, Klarheit, Überschaubarkeit, Licht, Zufriedenheit, Ge­borgenheit. Bestätigt wird diese Ebene des Atmosphärischen durch manche Antworten derer, die nach einem Kirchenbesuch befragt wur­den. Und sie wird in der Architektur des Kirchenraumes konkretisiert, weil kirchlich u. a. die Forderung besteht, Räume zu schaffen, in denen der Einzelne die Möglichkeit erfährt, Ruhe zu erleben, jenseits der all­täglichen Verunruhigung.

Da wir uns im Kontext kirchlicher Traditionen bewegen, kann das gera­de Beschriebene im Hinblick auf die Potentiale eines Kirchenraumes selbstverständlich nicht das Ende sein. Das spezifisch Christliche in der Spiritualität drückt sich in der Bereitschaft aus, nicht mehr nur um sich selbst zu kreisen, sondern für das ganz Andere, für das Heilige, für das Transzendente empfänglich zu sein beziehungsweise zu werden. Christ­lich spirituell zu sein will nicht zu einem endlosen, selbstverliebten Staunen anspornen. Zielorientierung ist der Lobpreis Gottes, der sich insbesondere in der (feiernden) Begegnung mit ihm ausdrückt. Daher sollen Kirchenräume so gestaltet werden, dass sie – grundgelegt im „cor do“, im Geben des Herzens – zu einem Dreifachen motivieren: zum Festerwerden im persönlichen Bekenntnis des Glaubens, zur Erfahrung der Nähe des Gottes bzw. des Heiligen, zur Möglichkeit des bewussten Mitfeierns in der Gemeindeversammlung. Biblisch wird dies im 1. Pe­trusbrief ausgedrückt: „Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist! Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus auf­bauen …“ (1 Petr 2,4–5a).

Emotionen und Wirkungen

Ein gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt der Emotionspsychologie ist die Suche nach Orten guten Lebens. Ein Kirchenraum als Ort des guten Lebens? Dieser Gedanke mag für manche abwegig sein, riecht er doch schon zu sehr nach Wellnessangebot. Natürlich kann und darf ein Got­teshaus nicht einfach zur persönlichen Wärmestube werden, doch sind manche Kriterien, einen guten Ort zu beschreiben, auch für einen Kir­chenraum diskussionswürdig. So gehört z. B. Belastungsfreiheit, was mit Unbeschwertheit und Entspanntsein beschrieben werden kann, zu einem guten Ort. War es nicht der seelenstrenge und eifrige Pfarrer von Ars, Jean-Baptiste Marie Vianney (1786–1859), der erklärte: „Ich ruhe mich zweimal am Tag aus: einmal am Altar, zum anderen auf der Kan­zel“? Oder die Freude, die jemand empfindet, der Zustand des Sich-gut-Fühlens, zählt auch zu einem guten Ort, denn es war ja mitnichten un­richtig, im alten Stufengebet von Gott zu sprechen, der einen von Ju­gend an erfreut hat. Oder das Glück als die Erfahrung von Ganzheitlich­keit und tiefer Sinnstiftung.

Was Menschen beim Besuch in unseren Kirchen erfahren, besser viel­leicht sogar erleben können, wissen wir aus den Untersuchungen einer anderen Teildisziplin der Psychologie, und zwar der Wirkungspsycho­logie. Dem Wirtschafts- und Medienpsychologen Christoph B. Melchers zufolge erfahren bzw. erleben Gotteshaus-Aufsucher zuerst und vor allem Sicherheit, Beständigkeit und Zuverlässigkeit in einer sonst so unübersichtlichen und gefährdeten Welt; dann Angenommensein und Verankerung statt Unbehaustheit und Ausgeschlossensein; auch einen bleibenden Sinn, wie eine Art überzeitliches, sinnstiftendes Gedächtnis, bei aller Verzwecktheit und Beliebigkeit, der der Mensch ausgeliefert ist; ebenso eine Mitte, ein Zentrum in einer Welt, die in unterschied­lichste Systeme, Werte und Überzeugungen auseinandergebrochen ist und täglich auseinanderdriftet; endlich angesichts der Flut von Bildern, Erlebnissen und Reizen, denen wir ständig ausgesetzt sind, die Erfah­rung von Stille und Ruhe für Ohren und Augen (vgl. Melchers 2008).

Offensichtlich sind unsere Kirchenräume alles andere als gleich‑gültige und wirkungslose Räume. Sie lösen ganz bestimmte Resonanzen aus, ja müssen es sogar, wenn sie ihren „Charakter“ und „Zweck“ als besonders „gestimmte“ Orte nicht verfehlen sollen. Offensichtlich enthalten sie mannigfaltige Potentiale, die es immer wieder zu entdecken gilt, manchmal mit großem Aufwand von Bewusstheit und Zeit, nicht zu­letzt aufgrund mancher Verwüstungen in Gestaltung und Formgebung. Offensichtlich können wir unseren Räumen wirklich trauen und ihnen zutrauen, mehr zu sein als museal gestimmte Umgebungen und mehr oder weniger mit Kunst ausgestattete Sakralrefugien. In diesem Zu­trauen geht die Kirche mit ihren Riten und Gebeten kraftvoll voraus. Beispielsweise, wenn im Ritus der Kirchweihe die Erhabenheit göttlich-menschlicher Berufung ausgesprochen wird: „Hier mögen die Armen Erbarmen finden, die Bedrückten wahre Freiheit erlangen und alle Men­schen die Würde deiner Kinder anlegen.“ Das ist eingebettet in das Wozu dieser Benediktion, wenn der Bischof der geplagten Menschen­seele schon beim Einzug zuruft: „Wer immer diese Schwelle über­schreitet, erfahre hier Heil und Segen, Hilfe und Trost“ – alles andere als schüch­tern anmutende Hoffnungen und Erwartungen an einen Kirchenraum!

Potential der „leisen Angebote“

Was sind also die Stärken unserer Kirchenräume? Die Schriftstellerin Eva Demski hat in ihrem Essay „Rasthaus Gottes mit stiller Bedienung“ die Kirchenräume ihrer Stadt als „leise Angebote“ (Demski 1992, 209) beschrieben. Was kann sich in diesen Angeboten ereignen? Ich versu­che, mit Hilfe von motivischen Dreiklängen unser Kirchen-Raum-Angebot zu deuten:

  • Richtung/​Weg/​Sinn: Da sich der Mensch als geschichtliches Wesen in einer voranschreitenden Zeit vorfindet, braucht er eine Richtung für das Leben, sonst besteht die Gefahr, sich im Daseins-Irrgarten zu ver­laufen. Aus der Bestimmung der Richtung ergibt sich der Sinn. So ist jeder Sakralbau „gebauter“ Sinn, gerade in der Erfahrung des Unter­wegsseins. Zwar ist jeder Kirchenraum dem Irdischen verpflichtet, kann sich aber darüber erheben, weil sein Anspruch im Dazwischen, im Zwischen-Himmel-und-Erde liegt. Da­her verstehen sich Kirchen­räume als Bauten der „Übergänge“: Gott, das Heilige, ist anwesend, und doch ist alles im Fließen und Werden, ist alles im Wandel, nichts ist festzuhalten. Dieses Angebot von Richtung/​Weg/​Sinn hat sich be­sonders im gotischen Kirchenbau manifestiert, der eine Einladung sein will, sich aus den Dunkelheiten und Bedrängnissen dieser Welt auf den Weg zu machen, hin zum Orientierung gebenden Gott. „Eine Kirche, die, als Segensraum erfahren, die Zusage ergreifend zur Auf­führung bringt, dass ein gnädiger Gott ist, der mitgeht, auch auf un­wegsamem Lebensgelände, macht sich mit ihren Gottesdiensten in der pluralen Kultur der Gegenwart unverzichtbar“ (Gräb 2003b, 16). Prägnanter vermochte es Nelly Sachs zu formulieren: „… welch großer Empfang, unterwegs …“

  • Ordnung/​Geborgenheit/​Aufgehobensein: Zeitgenössische Theologie spricht vom „Baldachin der Religion“ und meint damit die Möglich­keit des Menschen, sich unter etwas zu begeben, das Geborgenheit schenkt, gerade in den existentiell bedrohlichen Unsicherheiten des Daseins, sich unter etwas zu stellen, das gestern war, heute ist und morgen auch noch Bestand hat. Ein Kirchenraum kann eine Antwort sein, dem menschlichen Bedürfnis nach Ordnung und Sicherheit Rechnung zu tragen. Kirchenräume sind daher Orte der Verlässlich­keit sowie der Beheimatung. Auch das urmenschliche Bedürfnis, für sich einen Platz zu finden, der mich und mein Dasein verlässlich verankert, kann in einem Kirchenraum Wirklichkeit werden, beson­ders eindrucksvoll biblisch zu begründen mit dem Propheten Jesaja: „Darum, so spricht Gott, der Herr: Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen harten und kostbaren Eckstein, ein fest gegrün­detes Fundament: Wer glaubt, treibt nicht zur Eile“ (Jes 28,16). Im Erschließen von gotischen Kirchenräumen hat der Verfasser dieser Zeilen oft erklärt, dass gerade zu Beginn des hochmittelalterlichen Kathedralenbooms in Europa das einfache, doch funktionierende Prinzip AEG – aus Erfahrung gut – diese riesigen Hallen hat erstehen lassen. Noch heute gilt für sie das Wort aus der Werbung: „Auf diese Steine können sie bauen.“

  • Ruhe/​Stille/​Leere: Fast wie im Sinn des mittelalterlichen Gottes­­friedens bieten unsere Kirchen Räume an, die einem Frieden ver­pflichtet sind, den die Welt nicht geben kann. Dies wird heute umso kostbarer, weil das gegenwärtige Leben in allen Bereichen Zwecken und wachsenden Ansprüchen unterworfen ist. Die Sehnsucht wächst nach Orten, an denen man nicht einem permanenten Funktionsdruck ausgesetzt ist. Um diesem Frieden wenigstens annähernd einen Weg bahnen zu können, braucht es Kirchenräume, die helfen, ruhig wer­den zu können, in denen unsere menschlichen Sinne nicht durch ein überbordendes Durcheinander, durch eine materiale Fülle „aufge­­scheucht“ werden. Haben wir Mut zum leeren, zum nicht überlade­nen Sakralraum, der nur mit dem Notwendigsten (liturgische Orte, Kreuz) ausgestattet ist und der so Einkehr, Herzensruhe und Halt ermöglichen kann. Dem Kulturanthropologen Ralf Friedrich Neuhaus ist zuzustimmen, wenn er sagt: „Erst wenn Ruhe nicht mehr Zwang und Bewegung nicht mehr Not bedeutet, haben wir lebensfreund­liche Orte geschaffen“ (Neuhaus 2007, 101; im Original kursiv). Sol­che lebensfreundlichen Orte dienen vor allem der Gotteserfahrung: Gerade in Ruhe und Stille kann das reifen, von dem Menschen erzäh­len, die von Gottesbegegnungen berichteten, in denen und während­dessen eine unfassbare, tief berührende Ruhe spürbar wurde.

  • Heil/​Herrlichkeit/​Dank: Der Anspruch, dass ein Kirchenraum ein Raum des Heils zu sein hat, ist nicht verhandelbar. In ihnen soll Gott als heilende und erlösende Kraft erfahrbar werden. Wie wenn mit Hilfe des Raums ein heilender Verband um die Seele eines Menschen gelegt wird. Als helfendes Medium kann dazu insbesondere Licht dienen, von dem gerade Christenmenschen überzeugt sind, dass es von allen Dingen die schönste Manifestation Gottes darstellt, denn nach Psalm 34 schauen wir in diesem Licht das Licht Gottes. Eine ge­heimnisvolle, zum mystischen Erleben geleitende Lichtführung ist deshalb für jeden Kirchenraum unabdingbar. Sie unterstützt nicht nur das spirituelle Argument, dass ein Kirchenraum in die Begegnung mit Gott führen kann, sondern die biblisch-theologische Heilsaus­sage, dass Gottes Herrlichkeit in ihm erscheint. Diese Erfahrung führt dann weiter zu dem, was wesentlich zur christlichen Existenz zählt: der Dank. Vermitteln unsere Kirchenräume dieses Grundaxiom des Christseins? Sicher, das ist für alle, die sich dem Bauen und Gestalten verschrieben haben, ein fast übermenschlicher Anspruch, doch es be­darf eigentlich „nur“ einer Raumgestaltung, die die versammelte Ge­meinde motiviert, den Dank zu feiern und folglich zu vervielfältigen (vgl. 2 Kor 4,15).

  • Fragen/​Erkennen/​Sich-Einfinden: Man nennt Kirchenräume auch „Wurzelräume“, denn in ihnen wird eine existentielle Bühne aufge­baut, die an die Grundlagen und die Grundfragen menschlicher Existenz erinnert. Viele werden dieses In-Frage-gestellt-Sein als unangenehm und belastend empfinden, doch ohne wird’s nicht gehen. Nur wenn der Mensch sich selber fraglich wird, wenn er in sich hineinblickt und sich von sich selbst erlöst, kann er sich ver­stehen. Demnach sollen Kirchenräume dem Menschen keine Ant­worten liefern, sondern Wege zu einer persönlichen Auseinanderset­zung aufschließen. Sie mögen Spuren und Hinweise des unvorstell­baren Gottes eröffnen, die im Lebensschicksal und in der Botschaft Jesu vorgezeichnet wurden. Sie mögen die Bereitschaft des Einzelnen bestärken, sein Leben suchend und tastend einzufügen in die Lebens­spur dieses Jesus von Nazareth, mit allen Facetten menschlicher Existenz, besonders aber mit den Schattenseiten, mit denen wir Irdischen uns herumplagen. Derjenige, der sich auf diese Fraglichkeit menschlichen Daseins einlässt, wird im Sakralraum immer zwischen dem deus absconditus (verborgener Gott) und dem deus revelatus (offenbarter Gott) sich einfinden (müssen), aber auch können. Dies ist nur konsequent, weil Gott die Frage schlechthin ist und bleiben wird. Verstörend wirkende Räume, nicht einer falschen Gemütlichkeit ver­pflichtete Kirchen halten so die Gottesfrage offen.

 

In dem erwähnten Essay von Eva Demski geht es vor allem um die Sehn­sucht des zeitgenössischen Menschen, Ruhe und Frieden zu finden. Sie beendet ihre Überlegungen mit der „verblüffenden“ Möglichkeit, in einem dieser Räume zu sitzen, „einfach nur zu sitzen und zu schauen und zu hören. Es gibt sie ja. Man braucht nur hinzugehen. Auch ein zweifelndes, ungeduldiges Kind des zwanzigsten Jahrhunderts wird freundlich aufgenommen“ (Demski 1992, 209). Diese Aufnahme bedarf – im antwortenden Gegenüber – des stimmig-geheimnisvollen Sakral­raums, voll Glorie und Schauer.