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character indelebilis

Tätowierungen zwischen Bekenntnis und Gedächtnis im christlichen Glauben

Ist der Körper im 21. Jahrhundert der ultimative Ort unserer Auseinander­setzung mit dem Selbst? Die Fragen: Wer bin ich? Wer bist du? finden Ant­worten in einer angewandten Ausdrucksforschung, die den Körper als Handlungsort für das Schauspiel vom menschlichen Schicksal begreift.

Christen sind keine scheuen Enthusiasten ihrer Markenzeichen. Überall hinterlassen sie ihre Symbole – Kreuze, Fische, Monogramme, Tauben, Kelche. Egal wie primitiv oder schematisch sie ausgeführt sind, man erkennt sie sofort als unmissverständliche Zeichen: Jesus was here, halle­lujah. Keine Höhle scheint zu dunkel, keine Grotte zu klamm, keine Wüste zu öd, kein buchtenreiches Eiland zu abgelegen, um dort Symbo­le der Christenheit bis ans Ende aller Tage zu fixieren. Nirgends findet sich ein Gipfel, der zu hoch, zu abweisend oder zu entrückt wäre, um ihn nicht mit einem Kruzifix auszustatten. Die Hände der Getauften wissen jedes Material zu bearbeiten: In Edelstein und Glas, in Messing- und Goldblech, in indisches wie afrikanisches Elfenbein und Narwal­zahn, in Marmor und Kalkstein, in Damast und Wolle, in Korallen, Papayakerne und Sykomoren sind Kreuze und Tauben eingeritzt, gemeißelt, gepunzt, gestickt, graviert oder geschnitzt. Warum aber sprechen wir nicht als Allererstes von der Haut der Gläubigen als Trägerin solcher Zeichen?

Die Entwicklung der Tätowierung ab den 1960er Jahren lässt sich wie eine Art Säkularisierung lesen. Sie löst sich aus bestimmten Bezugs­milieus heraus (Punks, Rocker, Seeleute etc.) und geht in den Main­stream auf, durchzieht alle Schichten und alle Typen. Die spanische Kommunikationswissenschaftlerin Alejandra Walzer hat diesen Prozess als eine Mediengeschichte beschrieben, wo die Zeichen auf der Haut zuerst an öffentlichen Plätzen, Manegen oder Bühnen, sodann in Maga­zinen und auf MTV zu sehen sind, um später gesuchte Bilder in den so­zialen Medien wie Instagram zu werden. Zugleich verschiebt die Ver­wendung im Plot von Romanen, Theaterstücken und Opern die Debatte um Tätowierungen von alltäglichen Beobachtungen der Stadtbewohner in den Bereich ihrer Unterhaltungen, so bei Isabel Ostranders (1883– 1924) Roman „The Tattooed Arm“ oder bei Tennessee Williams’ (1911– 1983) in der sizilianischen Enklave von New Orleans spielendem Thea­terstück „The Rose Tattoo“ oder in der von Victor Herbert (1859–1924) komponierten Oper „The Tattooed Man“ – um nur ein paar sehr wenige zu nennen. Im religiösen Bereich denke man hierbei an Ereignisse mit hoher medialer Resonanz wie die Verfilmungen und Vertonungen um das Rock-of-Ages-Motiv oder Figuren wie Padre Pio, aber auch z. B. an die mexikanische Nuestra Señora de Guadalupe oder die brasilianische Nossa Senhora da Conceição Aparecida.

Oft entstand besonders im 19. Jahrhundert nach und nach der Eindruck von der Tätowierung als einer Gegenwelt zum zivilisierten Körper. Diese Lesart in Europa und Amerika überdeckte allerdings eine bereits alle Schichten sowie Spitzen der geistlichen und weltlichen Eliten durch­ziehende Praxis der Tätowierung, ob es nun adelige Ritter auf dem Kreuzzug oder Jakobspilger waren, englische Könige (wie George V.), russische Zaren oder amerikanische Senatoren des 19. Jahrhunderts (etwa James G. Blaine), viktorianische Ladys oder rheinische Stigmatis­tinnen wie die seliggesprochene Begine Christina von Stommeln (1242– 1312). Für sie findet sich eine Beschreibung ihrer Tätowierungen durch Zeitgenossen, die die Tätowierungen als Beleg für ihre Erwählung wer­ten. Sie sind aber wegen ihrer verborgenen Position nicht jedem sicht­bar und ihr Vorhandensein sei wie ein Geheimnis zu hüten: „[…] mit drei Kreuzen in wunderbarer Farbe, Anordnung und Beschriftung ge­zeichnet […] Zwei von ihnen zogen sich bis zur Brust hin, und das dritte befand sich an der linken Seite […] Die zwei Kreuze, die sich auf der Brust befinden, sind kleiner. Das dritte aber, das an der Seite ist, er­scheint größer und hinsichtlich der Inschrift erstaunlicher. Rund um die zwei kleinen Kreuze steht in äußerst schönen Buchstaben geschrieben: JESUS CHRISTUS“ (Landfester 2012, 129 f.; vgl. dort 127–133).

Ist es daher nicht seltsam, dass in einer Religion, in der Schädel und Gehörknöchelchen zu Reliquien von Märtyrern erklärt werden, in der der Eifer der Flagellanten die bizarrsten Methoden der körperlichen Selbstkasteiung hervorgebracht hat, in der die Tonsur, die Beschnei­dung, die Salbung, das Besprengen und Übergießen mit Wasser, das Fasten, das Aschekreuz auf der Stirn den Körper auf dramatische Weise involvieren, in der sogar die Heilige Schrift Jahrhunderte hindurch vornehmlich auf der Haut von toten Tieren kopiert worden ist und keine sakrale Fläche frei von Fresken und Graffiti geblieben ist, dass in eben dieser Religion bisher so wenig oder nur zaghaft über die Tätowierung gesprochen worden ist? Müsste nicht die Tätowierung die erste und vornehmste Kunst des österlichen Menschen sein?

Bild 1: Damiano Lucidi – Passion of Jesus.

Zeichen der Befreiung, Zeichen der Offenbarung

Bereits in frühester Zeit entwickelten Christen eine Beziehung zur Täto­wierung. Noch mehr: Sie betrachteten die Tätowierung weder als eitlen Schmuck noch als fremden Brauch, sondern bezogen sie in ihr religiöses Leben ein. Beim Apostel Paulus finden sich die ersten neutestament­lichen Überlegungen dazu. Und fortan, wie in allen anderen monotheis­tischen Religionen, z. B. dem Islam (vgl. Ibrić 2010) und dem Judentum (vgl. Torgovnick 2008), konkurrierten Verbote mit den wechselnden Launen der Frömmigkeit, die Tätowierungen als essentielle Prüfung und als Beleg für wahre Hingabe bzw. als Vorboten der Erlösung ver­standen. Die Tätowierung als christliche Prägung findet sich nahezu überall, wo Christen sind: am Horn von Afrika, auf dem Balkan, im westindischen Goa, an den Ufern des Amazonas und den Hängen der Sierra Madre, entlang des Nils, am Rhein und in den Tälern des Mohawk Rivers im amerikanischen Nordosten.

Während Tätowierungen in den antiken Kulturen unterschiedliche Ausprägungen fanden (vgl. hierzu etwa die Beschreibung der Thraker durch Herodot [Historien V,6] im Zusammenhang mit dem griechischen Feldzug in den makedonisch-thrakischen Norden: „Wer sich Zeichen einritzen lässt, wird für hochgeboren erkannt, und wer nicht geritzt ist, für unedel“), ist die neutestamentliche Auseinandersetzung von der römischen Straftätowierung (vgl. Gustafson 2000) geprägt und weitet sich später zu einem In-Group-Zeichen, etwa in Eritrea oder Ägypten, aus.

Die Schlussformel des Paulusbriefs an die Galater (Gal 6,17) steht in diesem Zusammenhang: „In Zukunft soll mir niemand mehr solche Schwierigkeiten bereiten. Denn ich trage die Leidenszeichen Jesu an meinem Leib.“ Was hier bereits durch die Einheitsübersetzung inter­pretierend mit „Leidenszeichen“ übertragen wird, heißt eigentlich nur τὰ στίγματα – die Zeichen. Kurz davor spricht Paulus über die Körper­modifikation der Beschneidung sowie über die Gesetzestafeln, außer­dem weist der Brief hin auf die Situation der Juden und Christen in dem keltischen Siedlungsgebiet Galatiens (Heute heißt „Galata“ ein jüdisch geprägter Stadtteil Istanbuls am Nordufer des Meeresarmes „Goldenes Horn“). Der etymologische Zusammenhang zwischen dem griechischen Wort „Stigma“, das in seiner Grundbedeutung so viel wie „Stich“ oder „Punkt“ und explizit „Malzeichen“ meint, und etwa dem deutschen „Stechen“ oder dem englischen „Stitching“ ergibt sich aus ihrem indogermanischen Ursprung.

Der deutsche, später in Chicago lebende Neutestamentler Hans Dieter Betz diskutierte, anders als seine in Deutschland gebliebenen Kollegen, die soziale und politische Wirkung dieser Formel in seinem Buch über Lukian von Samosata: „Die politische Unterdrückung der Juden und Christen führte zu Straftätowierungen, die als besonders schlimm empfunden werden mussten, weil sie dem levitischen Gesetz wider­sprechen, wonach die Tätowierung untersagt ist. Paulus jedoch spricht in seinem Brief über die von allen äußeren Einflüssen und Unterdrü­ckungen freie Willenskraft und das freie Gewissen des Subjekts. In dieser Denkungsart kann Paulus die Zeichen der Schande, als die diese Straf­tätowierungen angesehen worden sind (und intendiert waren), um­deuten in Zeichen der Befreiung. Ähnlich wie die Marterwerkzeuge und Wundmale Christi durch die Auferstehung und die damit deutlich wer­dende unverbrüchliche Heilszusage Gottes umgedeutet werden kön­nen, spricht Paulus den Appell aus, die Zeichen mit Stolz zu tragen“ (vgl. Betz 1961, 134).

Aus diesem Befreiungsgedanken einerseits und dem inkarnatorischen Nachvollzug der Leiden Christi andererseits avanciert die Tätowierung zu einem Zeichen der Zugehörigkeit unter vielen frühen Christen, wie auch der Ägyptologe Otto Friedrich August Meinardus bemerkte (vgl. Meinardus 1978 und 1982). Auch gibt es im Umfeld der Dionysos-Ver­ehrung den Brauch, den Adepten ein Efeublatt einzubrennen – verglei­che hierzu auch Offb 13,16: „Und es macht, dass sie allesamt, die Klei­nen und Großen, die Reichen und Armen, die Freien und Sklaven, sich ein Zeichen machen an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn“.

Eine andere Linie verfolgt die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Land­fester in ihrem Buch „Stichworte“. Sie skizziert die Erzähllogik des Alten Testaments und verbindet dieses „zeigende Erzählen“, durch das Zei­chen der Offenbarung exponiert werden, mit der inkarnatorischen Stoß­richtung, die dieses Erzählen im Christentum gewinnt. Ihr Ausgangs­punkt ist die Offenbarung des Johannes, wo das Siegelbuch mit der jesuanischen Geste identifiziert wird, also: mit dem Finger auf seine Wunde zu zeigen: „Was das Buch Exodus im Pentateuch sukzessive aus den Zeichen, die Gott Mose in die Hand legte, aus der Zeichnung der Hände des aus Ägypten befreiten Volkes Israel und schließlich aus der Niederschrift der Gesetze zur Gründungsgeschichte kultisch-rituellen Schriftgebrauchs konfiguriert hat, verdichtet Johannes zu einer direkten metaphorischen Übertragung zwischen dem Handzeichen Christi und der Archivierung dieses Zeichens durch den Evangelisten“ (Landfester 2012, 99). Man vergleiche hierzu im Übrigen das Tetragramm oder Christogramm, das häufig auf die für den liturgischen Gebrauch von Bischöfen und Äbten hergestellten Pontifikalhandschuhe gestickt ist.

An die alttestamentliche Anthropologie anknüpfend, könnte man bei diesem Vorgang der Offenbarung über die Geste des Zeigens auf ein Wundmal/​Stigma, die Christus macht, eine Brücke schlagen zur Vor­stellung von dem, was die Bibel göttliche kabod (כָּבוֹד) nennt, also die Gewichtigkeit, die Ehre, die Herrlichkeit Gottes oder, wie es Martin Buber ausdrückt: „die ausstrahlende und so Erscheinung werdende Wucht oder Mächtigkeit eines Wesens“ (Buber 1936, 234).

Ich schlage vor, diese Denkweise auf den heutigen Gebrauch der Täto­wierung zu projizieren: Sie ist Bestandteil des Selbstverständnisses ihres Trägers, unbeschadet der zugeschriebenen oder inhaltlich gefüll­ten Bedeutung, die das Subjekt selbst vornimmt. Die Tätowierung ist ein Zeichen des Ich-bin. Der Theologe Hans Urs von Balthasar legte diese Offenbarungsgestalt wie folgt aus: „Die Theophanien wollen als über­wältigende Vergegenwärtigungen des lebendigen Gottes verstanden sein, und zwar einerseits so, dass die sinnliche Sphäre […] mit in An­spruch genommen wird, dass es also zu einem äußerlichen ‚Sehen‘ und ‚Hören‘ Gottes kommt, andererseits aber der angegangene Mensch klar versteht, dass die sinnliche Manifestation die Anzeige – gleichsam das Signal und Symbol – für das Hiersein der absoluten, geistigen und un­sichtbaren Mächtigkeit ist, vergleichbar der Art, wie ein Mensch sein Gegenüber fixiert, ehe er mit ihm zu sprechen beginnt“ (Balthasar 1967, 34). Und selbst wenn die Tätowierung ausschließlich „eye catching“ ist, dann ist es dennoch ein Blickfänger, der die gesamte Wucht des Tattoo-tragenden Menschen auf die andere Person hin sammelt.

Etwas weniger theologisch, eher existenzialistischer gesprochen könnte man dem philosophischen Konzept von einem „ego extraneus“ des Franzosen Jean-Luc Nancy einige Beachtung schenken, wenn man er­gründen will, was die spirituelle bzw. existenzielle Dynamik der Täto­wierung sein könnte: „Ja, Außen-Ich. Keineswegs ‚außerhalb meiner‘, denn das einzige Innen ist nicht das ‚Ich‘, sondern das Aufklaffen, in dem ein ganzer Körper sich sammelt und danach drängt, sich zur Stim­me zu machen und sich zum ‚Selbst‘ zu erklären, sich wachzurufen, sich zu begehren im Begehren nach dem Echo, das andere Körper ringsum vielleicht zurücksenden werden. Sich fremd im Appell, im Selbstappell; andernfalls würde es sich nicht anrufen, würde es das Verlangen, die­sem Fremden zu begegnen, nicht in seiner ganzen Spannweite zum Ausdruck bringen“ (Nancy 2010, 56 f.).

Bild 2: Jerusalem-Pilgertätowierung – Wassim Razzouk.

Die fromme Minne

Ein bekanntes Beispiel ist der schwäbische Dominikaner und Mystiker Heinrich Seuse (1295–1366; vgl. Landfester 2012, 115–148), der das Tattoo nicht als Gruppenzeichen versteht (wie es etwa die Kopten in Alexandrien tun), sondern (wie Franziskus) es zum individuellen Mo­ment der Christusnachfolge stilisiert, das er im Gestus der privaten An­dacht adaptiert: „O Herr, ich bitte Dich, dass Du es nun vollbringst und Dich noch weiter in den Grund meines Herzens drückst und Deinen hei­ligen Namen also in mich zeichnest, dass Du nimmer scheidest aus mei­nem Herzen. So stach er sich mit dem Griffel die Buchstaben IHS auf die Brust. Herr, die Minner dieser Welt zeichnen ihr Lieb auf ihr Gewand. Ich aber, Du meine Minne, habe Dich in das frische Blut meines Her­zenssaftes geschrieben“ (zitiert nach Oettermann 1995, 15). Betrachtet man die reich illuminierte mittelalterliche Handschrift (Seuse o. J.), so ist leicht zu erkennen, dass der Verfasser und Illustrator dieser Schrift von dem Christusmonogramm (IHS) besessen zu sein scheint (die Autorschaft ist umstritten).

Es überschneiden sich auf dieser Deutungslinie mehrere Elemente, die ich festhalten möchte: Einerseits die Zelebration des Gezeichnetseins im Sinne einer Emanzipation und andererseits die durch den inkarnato­rischen Nachvollzug des Bildes verursachte Nähe, welche auf eine exis­tenzielle Radikalität hinweist (vgl. Campbell 2017).

Wie bei allen anderen Frömmigkeitsformen, die häufig von den institu­tionell-theologischen Positionen abweichen, steht die Tätowierung immer hart an der Grenze zur Idolatrie oder zum Aberglauben. Dieser Umstand lässt sich in zahllosen britischen, skandinavischen und nord­deutschen Pilgerberichten nachvollziehen, wo die Praxis eindeutig nicht den christlichen Reinheitsfantasien entspricht. (Besonders reich dokumentiert ist die Jerusalemer Pilgertätowierung. Zudem führt ge­rade Christian Kurrant eine qualitative Befragung und Analyse der gegenwärtigen Tätowierpraxis unter Jakobspilgern in Santiago de Compostela durch. Die Ergebnisse erscheinen 2021.) Zugleich verbietet Papst Hadrian I. die Tätowierung bzw. verschärft die Bedingungen, un­ter denen sie geduldet wird, nach der Synode von Chelsea bzw. dem Konzil von Northumbria, wo zwei Parteien in diesem Thema mitein­ander rivalisierten (eine eher römisch, eine eher iro-schottisch geprägt). Hier wird, um die kirchenpolitische Situation in Britannien einem Kom­promiss zuzuführen, die als heidnisch verstandene Praxis geduldet, denn wenn „jemand diese Verletzung durch Färbung für Gott ertrüge, würde er dafür hoch belohnt werden“ (Haddan/​Stubbs 1964, 458). Solche Streitereien sollten jedoch vor dem Hintergrund gesehen wer­den, dass selbst in den Schriften von Beda Venerabilis zahlreiche bis zum Anathema führende Streitgespräche darüber stattfinden, wie die ordentliche Tonsur geschnitten zu sein habe.

Spuren legen

Eine detaillierte Analyse z. B. der altenglischen Chroniken (die seit Shakespeare offenbar keiner mehr angesehen hat) auf die Frage der Tätowierung bzw. Strategien der Körpertransformation hin wäre sicherlich sehr interessant, zumal viele heutige Tätowier-Künstler die zahlreichen Gestalten und Formen, die sich in illuminierten Manuskrip­ten finden, als Quellen für ihr Bildrepertoire entdeckt haben. Desglei­chen fänden sicherlich Kunsthistoriker viele Parallelen im Vergleich von antiken religiösen Tätowier-Matrizen mit dem Bild- und Zeichenbe­stand von Votivgaben, Petschaften, Siegelstöcken und Goldschmiede­marken.

Die christlich beeinflussten Tätowierungen in ethnischen Traditionen konnten häufig faszinieren, wie etwa die bei Christen in Äthiopien, Syrien oder Eritrea, aber auch bei den Aromunen, ein Volk im Norden Griechenlands, in Albanien und Nordmazedonien sowie auf Stećci (mittelalterliche Grabsteine), ebenfalls auf dem Balkan. Hierzu existieren zahlreiche zeitgenössische Fotobände und Flashsets (Tattoovorlagen).

Allerdings gibt es noch so gut wie keine Studien, die zum Beispiel den Einfluss auf christliche Tätowierungen in Nord- und Südamerika durch die dort vorgefundenen indigenen Kulturen untersuchen, die ihrerseits Stammestätowierungen in den Blick nehmen. Weil die Tätowierung eng mit kollektiven Identitätskonzepten zusammenhängt, wäre die Konkur­renz zur Religion der Kolonialisten interessant: Werden die indigenen Formen ausradiert oder behaupten sie sich oder überleben sie z. B. in kreolisierten Formen? Ein Anknüpfungspunkt, den ich in diesem Zu­sammenhang erwähnen will, aber nicht vertiefen kann, wäre die erste Heilige unter den sogenannten „First Nations“, die kanadische India­nerin Kateri Tekakwitha (1656–1680), die Papst Benedikt XVI. am 21. Oktober 2012 kanonisierte. Sie gehörte einer Gruppe der Mohawk-Indianer südlich von Montreal an und wird auch liebevoll „Lily of the Mohawks“ genannt. Die Tätowierung ist unter den Mohawk-Indianern bis heute hervorragend dokumentiert. Gleichwohl zeigt kein einziges der meist aus franko-amerikanischer Perspektive gemalten Portraits sie mit Tätowierungen, wenn auch häufig ihre indianische Tracht unter dem Habit hervorlugt. Ihre frühesten Biographen, die beiden Missionare Claude Chauchetière SJ und Pierre Cholenec SJ, die sie auch „Fleur de la Prairie“ (Blume der Prärie) nennen, erwähnen zwar in ihren Beschrei­bungen der Ureinwohner Amerikas die Tätowierungen. Dennoch ist auf keinem öffentlichen Gemälde oder einer Skulptur ein solches Zeichen zu erkennen.

Insgesamt ist auch in der gegenwärtigen christlichen Tätowierung eine starke Hybridisierung von genuin christlichen Motiven und Symbolen mit nicht-christlichen Elementen bemerkbar. Gleichzeitig hält sich, besonders bei evangelischen Christen, hartnäckig ein seltsam bürger­liches Unbehagen: Dieselben Menschen, die in allen Dingen mit ihrer Verbindlichkeit prahlen, scheuen sich davor, ein Zeichen auf ewig zu setzen. Auffällig sind dabei ihre ethisch aufgeladenen Gegenargumente gegenüber dieser ästhetischen Frömmigkeitsbewegung, etwa, die Täto­wierung sei ungesund. Man will diesen festen Burgen der Christenheit zurufen: War denn je eine religiöse Praxis gesund oder vernünftig? Legt sich denn der Fakir auf ein Federbett?

Die Wiederentdeckung der Tätowierung als produktive Kraft christ­licher Frömmigkeit könnte der sonst so halbherzigen Religionsaus­übung etwas zurückgeben, was sie vergessen hat: ihre entschiedene Unbedingtheit, ihre ungenierte Offenkundigkeit und ihre unvertretbare Individualität. Sie huldigt nicht dem Gott der dunklen Versenkung und der finsteren Innerlichkeit, sondern dem Gott der Oberflächen, dem Gott der Veräußerung. Es ist der Gott, der Feder, Rinde, Schale und Haut ihren Glanz schenkt. Es ist der Gott der Heiterkeit und der Gott der Schönheit. Er bricht das Brot nicht zur narzisstischen, bußfertigen Einverleibung, vielmehr bricht er das Licht zu Farben, die strahlen und leuchten.

Bild 3: Micael de Poissy.

Vom Autor ist jüngst erschienen:
Campbell, Paul-Henri, Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst, Heidelberg 2019.