Inhalt

Bildern auf den Grund gehen

Was ist ein „Bild“? Georg Maria Roers webt den Leser/​die Leserin in einen kunstvollen bunten Teppich von Farben und Aspekten ein und begleitet ihn/​sie in die Welt des Bildes, seiner Produktion und Rezeption in verschiedenen Epochen und Kontexten. Und dieser Weg geht immer weiter und hört nie auf …

Wer Bildern auf den Grund gehen will, funktioniert wie ein Perpetuum mobile. Je mehr sie oder er sieht, desto mehr neue Bilder treten ihr oder ihm vor das geistige Auge. Neue Geheimnisse tun sich auf. Deshalb frag­te der Kunsthistoriker und Philosoph Gottfried Boehm gemeinsam mit vielen Kollegen: „Was ist ein Bild?“ (Boehm 1994). Diese Frage zu stellen ist sehr mutig, denn es gibt darauf keine eindimensionale Antwort, sondern nur eine Vielzahl von Antwortversuchen. Einer ist die Frage nach dem Begriff Iconic Turn. Was meint er? Wer diesen Begriff im Netz recherchiert, kommt unweigerlich auf diese Seite: www.iconicturn.de/​tag/​bildwissenschaft. Hier sind die Vorlesungen über „Iconic Turn – Das neue Bild der Welt“ nachzuhören, die – getragen von der Hubert Burda Stiftung – 2002 und 2003 in München stattfanden. Einer der markanten Sätze Burdas lautet: „Der größte Iconic Turn, den es in Berlin gibt, ist das Brandenburger Tor.“ Kunsthistorisch mag das Tor seine Relevanz haben. Die entscheidende ästhetische Dimension sei jedoch der Iconic Turn, d. h., was ein Bild bewegt und wie ich durch Bilder bewegt werde. Das Tor in Berlin ist längst zu einem Symbol geworden. Das Original steht übrigens in Potsdam am Luisenplatz.

Zwei Jahre später formuliert der Kunsthistoriker Hubert Burda seine Visionen: „Seit Gutenberg den Buchdruck erfunden hat, haben Buch­staben die Logik, also die rechte Gehirnhälfte, gefordert. […] Aber jetzt bringt Multimedia die Bilder wieder zu den Texten, und so weckt die digitale Revolution wieder die Phantasie in der linken Gehirnhälfte“ (Schweikle 1996). Als Verleger hat Burda u. a. 1993 den FOCUS gegrün­det, ein selbstbewusstes Statement gegen die Bleiwüste des SPIEGEL. Der SPIEGEL hatte den FOCUS an­fangs noch als „Münchner Illustrierte“ verspottet, obwohl er im Zeit­schriftensegment damals sehr innovativ war. Es finden sich hier sehr viel mehr Diagramme und Bilder, ein Trend, der sich im neuen Jahr­tausend auf andere Weise fortsetzt. Das Tempo der Innovationen nimmt mit jedem Update an Fahrt auf. Am 9. Januar 2007 präsentierte Steve Jobs das neue iPhone, indem er verschiedene Produkte ankündigte: „Heute stellen wir Ihnen drei revolutionäre Produkte vor: Das erste ist ein Breitbild-iPod mit Touch­screen. Das zweite ist ein revolutionäres Mobiltelefon und das dritte ist ein neues, bahnbrechendes Internet-Kommunikationsgerät.“ Und weil die Zuhörer wohl nicht so schnell waren wie das Genie Jobs, fragte er nach: „Kapiert ihr es? Das sind nicht drei verschiedene Geräte. Das ist ein Gerät“, erklärte er. „Und wir nennen es: iPhone. Heute wird Apple das Telefon neu erfinden.“ Diese rasante Entwicklung sollte man sich noch einmal vorgegenwärtigen, bevor wir uns wieder den Bildern zuwenden. Die Kombination machte das iPhone so erfolgreich, weil es ein wenig wie das menschliche Gehirn zu arbeiten schien – eine wichtige Voraussetzung für die nächsten technischen Revolutionen, die ohne KI (künstliche Intelligenz) nicht denkbar sind.

Jedes Bild hat einen Rahmen

Wer kreativ ist, benutzt Bilder. Caspar David Friedrichs „Frau am Fens­ter“ (1818/​1822) in Öl auf Leinwand (44 × 37 cm) schaut in der Berliner Nationalgalerie aus dem Fenster. Sie hat dem Betrachter den Rücken zu­gewandt. Dieser Blick in die Welt entspricht heute dem Blick auf einen Laptop mit 17 Zoll. Was dort heute alles über den Bildschirm läuft, ist schier uferlos. Es sprengt förmlich den Rahmen nicht nur einer kunst­geschichtlichen Betrachtung. Es mag zweitrangig sein, ob es Drehbuch­stoffe sind oder Originale aus dem Bereich der bildenden Kunst: Die Epoche eines Kunstwerkes tritt nur dann einen Schritt in den Hinter­grund, wenn ich meine subjektiven Empfindungen im Bereich der Künste zum Ausdruck bringe oder einbringe und geschichtsvergessen auf das Werk schaue. Dann ist es auch banal festzustellen, dass die ba­rocke Sprache bilderreicher ist als eine Nachricht auf Twitter. Niemand würde auf die Idee kommen, eine gotische Kathedrale mit einem White Cube in Verbindung zu bringen. Neue Bilder wurden damals noch in Kirchen gezeigt. Im 20. Jahrhundert hat sich der schlicht weiß gestri­chene Raum (White Cube) durchgesetzt, der der gewohnte Ort wurde, an dem wir als Flaneure der Gegenwart in den Großstädten zeitgenössi­sche Kunst rezipieren. Obwohl im Alltag nicht wirklich reflektiert, sind die Rahmenfaktoren bei der Rezeption von Kunst eminent wichtig. Auf der einen Seite steht die Kunstproduktion, auf der anderen die ‑rezep­tion. Hier ist unsere Sinneswahrnehmung gefragt. Es braucht vermut­lich einen Hirnforscher wie Ernst Pöppel, um ein Buch darüber zu schreiben: „Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich“ (Pöppel 2006). Ohne uns an Begebenheiten und Bilder, an Begegnungen und Begriffe, an Erfahrungen zu erinnern, wäre jegliche Kommunikation unter uns Menschen völlig unmöglich. Unsere Persönlichkeit spielt bei der Rezeption von Musik, Tanz, Literatur etc. eine eminent wichtige Rolle. Die Sensibilität für die Künste wird im Laufe eines ganzen Lebens ausgeprägter und der Fokus geschärft. All das sind äußerst komplexe Vorgänge, die heutzu­tage mehr oder weniger auf die Frage reduziert werden, welches Bild, welchen Song, welchen Text ich gut oder schlecht finde. Als ginge es in der Ästhetik um diese völlig überschätzte Frage. Deutlich ist bisher allerdings geworden, dass ohne das Smartphone und ohne das Kino, ohne Apps und verschiedene Streaming-Dienste heutzu­tage nicht mehr seriös über Kunst, Musik und Tanz und deren Rezeption nachzudenken ist. Ob wir aber anhand von Facebook und Instagram unserer Ausgangsfrage näherkommen oder uns etwa davon wieder entfernen, müssen wir an dieser Stelle zunächst zurückstellen.

Dokumentation versus Original

Nur weil heute über die digitalen Medien mehr Bilder verbreitet werden als je zuvor in der Menschheitsgeschichte, nimmt die Bildkompetenz nicht automatisch zu. Im Gegenteil, wie wir gerade am politischen Ge­baren einiger Politiker gesehen haben, die eine Menge von ethischen Regeln unterlaufen, die sich herausgebildet haben. Die Flut an Bildern bewirkt u. a., dass das Interesse am originalen Bild verloren geht. Wie gesagt: Wer weiß heute noch, wo das echte Brandenburger Tor steht? Würde man sich näher damit beschäftigen, müsste man sich in ein anderes Jahrhundert begeben. Die Lust dazu scheint begrenzt zu sein, oder? Vielleicht ist das Gegenteil der Fall, wie wir an der Ausstellung „Emil Nolde - Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialis­mus“ im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart in Berlin sehen. Es ging an erster Stelle um die „Neubewertung“ des Malers im Dritten Reich. Die „neuen“ Erkenntnisse waren in der Forschung längst be­kannt. Dennoch sah sich die Politikerin Angela Merkel offenbar genö­tigt, sich von dem Noldegemälde, das bisher in ihrem Büro im Kanzler­amt hing, zu trennen. Fand sie es nicht mehr schön? Das Bild war in der Schau im Hamburger Bahnhof zu sehen. Bezeichnenderweise trat die Malerei des Malers Nolde hier aber in den Hintergrund. Dies hatte zur Folge, dass in einem Raum im Raum (ein White Cube) die Originale so gezeigt wurden, wie sie in Noldes Atelier in Seebüll hingen und auf dem Boden standen. Vom durchschnittlichen Besucher wurden also die Ori­ginale weniger als Kunstwerke wahrgenommen. Der dokumentarische Charakter war wichtiger als ästhetische Kategorien. Nolde hat man schon viel schöner ausgestellt gesehen. Man könnte der Ausstellung böswillig unterstellen, es komme hier gar nicht auf die Schönheit der Malerei an. Die Kunst von Nolde schön finden, das darf man so oder so von nun an nicht mehr, weil es politisch unkorrekt ist. Das wird in der Schau freilich so nicht gesagt, aber geradezu insinuiert. Die Konzeption der Schau lässt dem Ästheten kaum Raum.

Hinzu kommt ein für ein Museum geradezu existentielles Problem. Es wurden dort auch einige Kopien mit derselben Konzentration ange­schaut wie die echte Malerei. Damit wird in der Praxis gar nicht mehr unterschieden zwischen dem großen Foto (Kopie) einer Malerei und der echten Malerei selber. Damit sägt sich das Museum den Ast ab, auf dem es bisher saß. Ist es nicht das Charakteristikum eines Museums, Origi­nale zu zeigen, um diese zu rezipieren? Positiv gesagt: Die Museen müs­sen die Menschen da abholen, wo sie mit ihren Smartphones sitzen. Ein anderes Beispiel: In Zukunft werden wir die großen Fresken des Neuen Museums in Berlin, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, mit einer entsprechenden digitalen Brille wiedersehen. Wilhelm von Kaulbach (1805–1874) hatte die Bilder zu einer „Weltgeschichte“ im Treppenhaus des Neuen Museums 1842 geplant und 1865 vollendet. Es wäre spektakulär, sie vor Ort – wenigsten digital – wieder bewundern zu können. Es wird deutlich: Ohne museumspädagogische Hilfen (Apps) und Audio-Guides geht heute gar nichts mehr. Aber sorgen die zuweilen wichtigen Informationen nicht auch dafür, dass ich mehr und mehr abgelenkt werde? Kann ich in das Kunstwerk eintreten oder bleibe ich wegen der vielen zu verarbeitenden Fakten, die mir an die Hand gege­ben werden, einfach draußen? Wie schaffe ich es, die Schwelle des Informationszeitalters zu überschreiten und mir z. B. einen Jahrhun­derte alten Kirchenraum vorzustellen, der die meiste Zeit seiner Exis­tenz nur von Kerzen beleuchtet wurde?

Das Natur- und das Kunstschöne

Im 19. Jahrhundert wurde noch im Natur- und Kunstschönen ge­schwelgt. Niemand hat das besser verkörpert als der bayerische König Ludwig II. Nun ist es aber bemerkenswert, dass ausgerechnet dieser hoffnungslose Romantiker seine Träume mit modernster Technik ins Werk gesetzt hat. Das gilt nicht nur für die Architektur von Neuschwan­stein, sondern auch für die Venusgrotte hinter Schloss Linderhof, die zurzeit aufwändig restauriert wird. Über das Wunderwerk der Illusion und Technik ist auf der offiziellen Website zu lesen: „Die künstliche Tropfsteinhöhle mit See und Wasserfall wurde nach dem Vorbild des Hörselberges aus dem ersten Akt der Wagneroper ‚Tannhäuser‘ gestal­tet. Diese 1876/77 durch den Landschaftsplastiker A. Dirigl gebaute naturalistische Raumbühne wurde mit Bogenlampen ausgeleuchtet. Den hierfür notwendigen Strom erzeugten 12 Dynamos in dem 100 m entfernten Maschinenhaus; einem der ersten bayerischen Elektrizitäts­werke“ (Park Linderhof. Venusgrotte 2019). Romantik, die mit Hilfe von damals neuester Technik ins Werk gesetzt wurde? Macht das nicht jede Oper bis heute? Ja. Aber, Gott sei Dank, brennen heute nur noch selten Opern ab, was im 19. Jahrhundert recht häufig passierte; man hatte die Pyrotechnik offenbar noch nicht im Griff.

Zurück nach Bayern! Hier wurde der Gegensatz von Technik und Natur längst aufgehoben: Laptop und Lederhose. Also gehen wir nicht ins Mu­seum, sondern stattdessen in die Natur! Dort hat mein Smartphone ja oft keinen Empfang. Dennoch ermöglicht mir die Technik mithilfe einer Vogelstimmen-Erkennungs-App, durch den Wald zu laufen und mich wie ein Ornithologe zu fühlen. Hier pfeift der Pirol, dort trällert die Nachtigall. Alles wird geklärt, es bleiben keine Fragen offen. Dagegen hat Bertolt Brecht in „Der gute Mensch von Sezuan“ den Spieler im Epilog sagen lassen: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Ist es also nicht viel schöner, den Wald und die Tiere erst einmal ohne jedes technische Hilfsmittel wahr­zunehmen und ohne jede Kenntnis von Theorie? Sollten nicht auch hier viele Fragen ehrlicherweise offenbleiben, weil wir letztlich immer noch nicht wissen, warum der Flug einer Libelle nicht nur eleganter aussieht als der Start eines Flugzeuges, sondern vor allem auch ökologischer ist? Es mag sein, dass G. F. W. Hegel (1770–1831) in seiner Ästhetik das Kunstschöne höher wertete als das Naturschöne, weil jenes aus dem Geist heraus entstanden ist, dieses aber nicht. Da das Geistige nach seiner Ansicht höher steht als das Natürliche, sei auch das Kunstschöne über das Naturschöne erhaben. Wie anders klingen da die wohltuenden Worte eines H. D. Thoreau (1817–1862): „Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten, was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt hatte.“ Der amerikanische Philosoph und Mystiker scheint aktueller denn je zu sein. Ob es für dieses Zitat aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807): „Die Ungeduld verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die Mittel“ auch gilt? Ungeduld ist kein guter Partner, wenn es um Kunst geht. Ohne Muße und Musen wird der Mensch nicht leben können. Wie real das alles sein muss, werden die nächsten Jahrzehnte zeigen. Eine gewisse Skepsis allem Neuen gegen­über war dem Menschen immer schon zu eigen.

Der Aesthet

Niemand hat sich über die Ästheten und ihren metaphysischen Nonsens so schön lustig gemacht wie Christian Morgenstern in seinen „Galgen­liedern“. Im Gedicht „Der Aesthet“ heißt es: „Wenn ich sitze, will ich nicht / sitzen, wie mein Sitz-Fleisch möchte, / sondern wie mein Sitz-Geist sich, / säße er, den Stuhl sich flöchte.“ Am Ende überlässt „Der Aesthet“ ganz abgehoben „den Zweck des Möbels / ohne Grimm der Gier des Pöbels“. Ähnlich geht es mir, wenn ich mir in einer schwachen Stunde die Diskussionen auf Facebook anschaue. Hier wird die Welt in ein Schwarz-Weiß-Denken eingeteilt, das für eine differenzierte Be­trachtung und eine nachhaltige Beschäftigung mit dem Bild einfach nicht taugt. Für einen Wahlkampf mag das anders sein. Daumen hoch oder runter … Man kommt dann aber über ein „Gefällt mir“ oder „Gefällt mir eben nicht“ gerade nicht hinaus. Es ist lediglich ein Ge­schmacksurteil, das in der Ästhetik schnöde abgelehnt wird. De gustibus et coloribus non est disputandum. Nicht erst die scholastische Philosophie ist auf den Gedanken gekommen, dass man über Geschmack und Far­ben nicht streiten kann. Das wissen wir seit der Antike.

Ein Bild, sei es virtuell oder nicht, ist in aller Regel ein sehr komplexes Gebilde. Da lässt sich ein Künstler nur ungern hineinreden. Jedes Bild kann analysiert werden, vorausgesetzt, man taucht tief genug in die Motivvielfalt und in die Zeit ein, in der es entstanden ist. Ähnliche Sujets, die mit meinem Gegenstand ins Gespräch kommen, finden sich dann, wenn man lange genug und geduldig danach sucht. Dabei hat die interdisziplinäre Forschung viel geleistet, könnte aber noch intensiver betrieben werden. Es kann nicht schaden, kunstwissenschaftlich und kunsthistorisch gebildet zu sein, noch, z. B. einen Arnold Hauser (Sozio­logie der Kunst, 1974) zu Rate zu ziehen. Es kann sehr aufregend sein, zu wis­sen, welche Musik, welche Politik, welche Theaterstücke zu einer be­stimmten Zeit im Trend waren, um wichtige Gemälde einer Zeit besser zu verstehen. Und wenn sie aus der Zeit gefallen sind, ist es ratsam, sich mit Literaten, Theologen oder Philosophen zu unterhalten oder deren Quellen aufzutun. Allerdings bleibt auch dabei im Hinter­kopf, dass weder der Theologe Gott erklärt noch der Philosoph die Welt. Beide stellen lediglich ganz spezifische Fragen, die nicht selten abgründig sein können.

Wer sich lange und intensiv mit Bildern ganz allgemein und insbeson­dere mit Werken der Kunst beschäftigt hat, sei es mit denen der Vergan­genheit (Fluxus, Video, Kino, Fotographie etc.) oder jenen der Gegen­wart, wird immer eine Reihe von Bildbeispielen finden, die automatisch im Kopf aufpoppen, wenn er oder sie durchs Museum geht oder bestimmte Literatur liest. Es wird niemals der letzte Kriminalroman, die letzte Kurzgeschichte geschrieben werden. Es werden immer wieder neue erfunden. Das macht den menschlichen Geist aus, der hoffentlich auch ein paar Schnittmengen mit dem Heiligen Geist hat. Im gesamten Bereich der Künste, nicht nur in der Architektur, bleibt kein Stein auf dem anderen, wenn es sich um Neuerfindungen handelt. In der Musik wird der letzte Ton niemals erklingen.

Falls nun der moderne Mensch im 21. Jahrhundert behauptet, mit Bildern vertrauter zu sein als andere Generationen, so muss man sich immer fragen, über welche Art von Bildern wir eigentlich reden. Beim Analysieren und Dechiffrieren von originalen Bildern kommt unser Verstand schnell an seine Grenzen – von digitalen Bildern ganz zu schweigen. Wir surfen nicht nur in der Kunst gerne an der Oberfläche. Ob wir die Kunst verstehen können? Darauf antwortet Pablo Picasso: „Jeder möchte die Kunst verstehen. Warum versucht man nicht, die Lieder eines Vogels zu verstehen? Warum liebt man die Nacht, die Blumen, alles um uns herum, ohne es durchaus verstehen zu wollen? Aber wenn es um ein Bild geht, denken die Leute, sie müssen es ‚verstehen‘.“

Vom Frühstück bis zur Macht und zur Zensur

Der französische Maler Édouard Manet lädt uns in seinen Garten ein. Er hat ein Bild gemalt, das heute im Musée d’Orsay in Paris hängt: „Das Frühstück im Grünen“. Auf dem Bild sehen wir zwei Frauen. Die eine, im Profil und in Denkerpose gemalt, sitzt ungeniert und völlig nackt im Vordergrund im Gras, während die andere Frau sich im Hintergrund hält und im Unterkleid auf dem Boden kniet. Ob sie mit ihrer Rechten Blumen pflückt? Mit der linken Hand schützt sie jedenfalls ihren Schoß. Wir sehen außerdem zwei sehr elegant gekleidete Männer, die sich offensichtlich an der schönen Unbekleideten delektieren. Der Früchte­korb im linken Bildsegment ist ausgeschüttet. Er wird vermutlich vor allem vom männlichen Betrachter sehr schnell in Bezug zu den Frauen gesetzt. Das Bild war damals ein Skandal. Es wurde im Jahr seiner Ent­stehung für den Pariser Salon von den Juroren einstimmig abgelehnt.

Ursprünglich trug das Gemälde von 1863 den Titel „Das Bad“. Mir kommt ein Motiv aus dem Ersten Testament in den Sinn. In der Bibel begehrte David einst eine junge Badende, Batseba. Die badende Batseba war ein sehr beliebtes Sujet in der Malerei. David bringt damit seine Familie in große Schwierigkeiten (2 Sam 11,2–5). Statt als König in den Krieg zu ziehen, bleibt David zuhause und bricht die Ehe von Batseba und Urija. Ein vielfaches moralisches Versagen tritt ans Licht. Im Osservatore Romano (Tageszeitung des Vatikanstaats) finden wir das Stichwort „Batseba“ erstaunlicherweise unter der Überschrift „Politik, Macht und Ambiguität“ (Niditch 2016). Susan Niditch resümiert: „Alle von Batseba gespielten Rollen lassen allerdings eine faszinierende Am­biguität erkennen, da man sich ihrer Beweggründe und ihres Vorgehens nie ganz sicher sein kann. Wie in so vielen der reichsten Erzähltraditio­nen der Bibel hat der Leser also beträchtliche Freiheit darin, wie er sie sich vorstellen will.“ Im Osservatore Romano geht es beim Stichwort „Batseba“ also nicht an erster Stelle um Erotik, sondern um Macht und Intrigen. Ist die Macht erotischer als eine schöne Frau? Regina Heyder schreibt über Frauenaufbrüche: „In der Geschichte des Christentums haben Frauen immer wieder die Bibel als Ressource für eigene Emanzi­pationsprozesse genutzt. Von der Kirche wurden sie oft kritisch beäugt“ (Heyder 2019, 13).

Bildende Künstler und ihre Auftraggeber interessierten sich in den ver­schiedensten Epochen der Kirche nicht nur für Macht und Intrigen, son­dern auch gerne für die erotischen Aspekte der Heiligen und der bibli­schen Figuren. In diesem Jahr ist in der Royal Academy of Arts in Lon­don die Ausstellung „The Renaissance Nude“ zu Ende gegangen. Adam Soboczynski hat die Schau rezensiert und schreibt: „Während in Italien zunächst der männliche Akt bevorzugt wurde (nur der Mann galt als hinreichend würdig, nackt studiert und gezeigt zu werden), rücken im Norden auch Hexen mit ihrer dunklen Zauberkraft und pornografischen Aggression ins Bild, etwa bei Hans Baldung Grien“ (Soboczynski 2019). Im prüden England war die Ausstellung 2019 (sic!) erst ab 18 Jahren freigegeben worden. Wenn fromme Christen, Muslime und Juden die Überfülle an erotischen Bildern im Netz anmahnen, wird man ganz generell sagen können: Da, wo Bilder auftauchen, werden sich auch Skulpturen, Fotos und Filme mit unbekleideten Menschen finden. Das liegt offenbar in der Natur des Menschen in allen Kulturen der Welt und in allen Epochen. Die Künste kommen dieser Nachfrage nach. Strenge Sittenwächter gibt es bis heute, die etwa Hollywoodfilme zensieren. In der europäischen Tradition fallen die sogenannten „Shungas“ bis heute sprichwörtlich aus dem Rahmen. Im MAK – Museum für angewandte Kunst in Wien – fand 2016/17 die Ausstellung „SHUNGA. Erotische Kunst aus Japan“ statt. In Japan hat man schon lange ganz spielerisch alle Arten von Bildern gezeichnet. Schon vor ca. 200 Jahren waren es Skizzen, auch humorvolle Bilder. In Europa sind es u. a. Zeichnungen aus Spelunken, die später zu Gemälden wurden wie das Bild „Die Raucher“ (1635) des flämischen Künstlers Adriaen Brouwer (Metropo­litan Museum of Art, New York). Wie extrem die Grenzüberschreitungen aussehen, die zu einem Bildgegenstand werden können, wird von Zeit zu Zeit neu ausgehandelt, sei es im Feld der Erotik oder in anderen Be­reichen. Den mehr oder weniger spielerischen Umgang mit Bildern muss sich jede Generation selbst erobern. Grenzen werden in jedem Fall überschritten, nicht nur in der Kunst. Am Ende sollte eine lebensbe­jahende Ethik dabei herauskommen.

Gott ist schön

Wie muss unsere Pastoral aussehen und welches Verhältnis haben wir Christen zum Bild? Kennen nicht auch wir ein Bilderverbot? Ja und nein. Wir stehen in der jüdischen Tradition des Verbotes, Gott darzustel­len. Wie sollte man den transzendenten Gott auch darstellen? Aller­dings verhält es sich mit dem Sohn Gottes anders. Er ist das Antlitz Gottes für uns Christen. So wie täglich die Kirchenglocken läuten, so kann ich täglich auf meine Christusikone schauen. Die Ikone selber ist ein Gebet, nicht ein Bild, denn der gläubige Mönch hat sie auf dem Berg Athos eben nicht gemalt, sondern geschrieben. In dieser Sondertradi­tion des Bildes ist das Bild eine Offenbarung Gottes. Eine Ikone kann es ganz selbstbewusst mit der geschriebenen Bibel aufnehmen, weil dieses Bild eben auch geschrieben wurde.

Die Nächsten- und Gottesliebe sind zwei Seiten einer Medaille. Das ha­ben alle monotheistischen Religionen gemeinsam. Definiert sich die Schönheit Gottes aber nur und ausschließlich im Gebet und im humani­tären Einsatz für die Menschheit? Würden wir ohne unsere Kirchen und ohne die Kunst in den Kirchen, die eine protestantische Theologie ja eigentlich gar nicht bräuchte, unserer Tradition treu bleiben können? Nehmen wir an dieser Stelle vielleicht einmal Romano Guardinis „Kult­bild und Andachtsbild“ (1939) in die Hand. Auch wenn die Schrift schon 80 Jahre alt ist, so ist sie immer noch lesenswert.

Mittlerweile entdecken junge Menschen die Religion auf verblüffende Weise neu. Oft dort, wo man es gar nicht vermutet. Paul-Henri Camp­bell hat gerade den Titel „Tattoo & Religion“ (2019) veröffentlicht (vgl. den Beitrag von Campbell in dieser Ausgabe). Er zeigt die ganze Band­breite dieser Kunst auf, die seit Jahrhunderten starke religiöse Kompo­nenten hat. Ob es nun Jerusalemer Pilgertätowierungen oder die Täto­wierung im weiteren Nahen Osten sind: Das Buch ist eine Fundgrube. In diesem Zusammenhang ist auch der folgende Satz zu verstehen: „Religi­onen haben ihre Ästhetik.“ So lautet der erste Satz der Vorrede in dem Buch „Gott ist schön“ von Navid Kermani (1999). Es geht ihm vor allem um „das ästhetische Erleben des Koran“ – so lautet der Untertitel. Gleich­zeitig widmet er das Buch „der Idee des Theaters an der Ruhr“. Das ist zwanzig Jahre her. Bei der Verleihung des Friedenspreises 2015 wurde Kermani als Kosmopolit gewürdigt und ausgezeichnet, weil er bis heute glaubwürdig und engagiert für Toleranz, Offenheit und Freiheit wirbt. Hat er die Faszination für die heilige Schrift des Islam dem Durch­schnittsdeutschen nähergebracht? Wird seine Literatur nun anders rezipiert? Hätte der Arabist Thomas Bauer ohne die Vorarbeit seines Kollegen den Text „Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ im Jahr 2018 geschrieben? Reclam-Heft­chen waren meine Schullektüre. Jetzt habe ich das Format für die Brust­tasche wiederentdeckt. Auf der diesjährigen Jahrestagung der Guardini Stiftung sagte Thomas Bauer in der Akademie der Künste 2019 Sätze wie diese: „Kunst ist nur dann Kunst, wenn sie mehrdeutig ist.“ Oder: „Ein Buch, das man vollständig versteht, ist langweilig.“

Großzügigkeit

In der Kunst zählt die Unbefangenheit. Wer ehrlich bleibt im Umgang mit den Bildern, die ihn prägen, der wird die verschiedensten Motive mit sich herumtragen. Diese werden in der Literatur und durch die Künste ins Allgemeine geweitet. Meisterlich gelungen ist das dem Regisseur Pedro Almodóvar in seinem Film „Erziehung eines Herzens“ (2019). Dieser Film kann geradezu als europäisches Gegenstück zum „König der Löwen“ (2019) gelesen werden, weil hier gar nichts kopiert wird. Ein Mann macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, sondern erzählt sein ganzes Leben auf frappant souveräne Weise. „Hier wird nichts verklärt, sondern jene existenziellen Kräfte vergegenwärtigt, die Almodóvar geprägt haben“, stellt Rainer Gansera in seiner Rezension nüchtern fest. Die Kirche kommt bei diesem Regisseur zwar nicht gut weg, aber: „Das also hat er von seiner religiösen Erziehung erhalten: den Sinn für sakrale Sphären, für das Unantastbare, für die verehrungswür­digen existentiellen Mächte, und das sind in seinen frühen Filmen Sex und Eros, in den späteren die fürsorglichen Muttergestalten“ (Gansera 2019). Seien wir als Kirche gute Gastgeber, wenn ein Künstler mit seinem Werk an unsere Türe klopft.

Im Übrigen zählt letztlich in den traditionellen Künsten die Einfachheit. Kaum ein Land hat das perfekter kultiviert als die Japaner. Lesen wir unbefangen diese Zeilen: „Uralter Teich. / Ein Frosch springt hinein. / Plop.“ Welche Assoziationen stellen sich bei uns ein? Dieser Haiku dürfte der bekannteste Text von Matsuo Bashō aus dem 17. Jahrhundert sein. Hier hat jemand lange den Fröschen zugeschaut. Vielleicht hat er gestaunt über die merkwürdigen Wesen und ihr ewiges Quaken, das des Nachts so manchem den Schlaf raubt. Die Schnelligkeit, mit der ein Frosch Insekten mit der Zunge fängt, steht im krassen Gegensatz zu dem ansonsten eher bewegungslosen Verharren vor seiner Beute. Er wirkt geradezu lethargisch. Aber der Frosch ist ähnlich sprungbereit und geschickt wie ein Tiger, der sich an seine Beute heranpirscht. Beide sind gut getarnt, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Haikus gelten als die kürzesten Gedichte der Welt und sind aus der japanischen Litera­tur nicht wegzudenken. In Europa wurde zu dieser Zeit genau das Ge­genteil gemacht, vor allem in der deutschen Barocklyrik, die bis heute wissenschaftliche Seminare beschäftigt. Aber ist „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ von Abraham a Sancta Clara, die Achim von Arnim und Clemens von Brentano in „Des Knaben Wunderhorn“ übernommen haben, wirklich so weit entfernt von der humorvollen untergründigen Weisheit eines Bashō? Hätte Gustav Mahler seine 4. Sinfonie in G-Dur geschrieben, die sich dem Text „Des Knaben Wunderhorn“ verdankt, wenn er den Text langweilig gefunden hätte? Ganz sicher nicht. Beim Iconic Turn geht es darum, was ein Bild bewegen kann und wie ich durch dieses Bild bewegt werde. Ist das neu oder waren die wahren Meister des Iconic Turn die deutschen Mystikerinnen und Mystiker?