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100 Jahre Bauhaus – Vision eines neuen Sehens in einer neuen Gesellschaft

Am 6. April 2019 wurde in Weimar das neue Bauhaus-Museum eröffnet, einer der Höhepunkte eines Jubiläumsjahres, mit dem der Gründung des „Staatlichen Bauhauses“ vor 100 Jahren am 1. April 1919 in Weimar gedacht wurde. Das Bauhaus hat wie kaum eine andere Institution die Vorstellung von Design und Form in der Moderne und bis heute geprägt.

Das Bauhaus im Übergang zur Moderne

Hundert Jahre, das klingt sehr lange vor unserer Zeit und somit relativ unbedeutend für ein heutiges Fragen nach Bildhaftigkeit und Ästhetik. Und wenn man sich die ersten Entwürfe der Bauhäusler (und Bauhäus­lerinnen) anschaut, so atmen sie noch eine gewisse „Unbeholfenheit“ am Anfang des kurzen 20. Jahrhunderts. Erst wenn man sich eingehen­der mit dem Bauhaus, den damit verbundenen Personen, der dahinter liegenden Philosophie befasst, so kann man ermessen, dass mit dem Bauhaus tatsächlich eine neue Zeit mit einem neuen Verständnis an­fing bzw. das Bauhaus ein Ausdruck eines neuen Fragens, Verstehens, Lebens und Ausdrückens ist, das eine vorhergehende Epoche radikal hinter sich ließ und Gestaltung, Kunst und Bauen in den Kontext sub­jektiven und gesellschaftlichen Lebens hineinstellt. Das Bauhaus steht damit für neue Grundhaltungen und Lebensformen, für veränderte Arten, die Welt zu sehen. Als Experiment für eine neue Bearbeitung von Freiheit und Vielfalt als Geisteshaltung der heraufziehenden Moderne ist es verstehbar, dass das Bauhaus zum Opfer des gleichschaltenden und volksideologischen Faschismus wurde, der seinerseits eine eigene Ausprägungsform dieser so ambivalenten Moderne ist.

Bild 1: Die Großherzoglich Sächsische Kunstgewerbeschule (erbaut 1904–1911), heute Hauptgebäude der Bauhaus-Universität Weimar, Fakultät für Architektur und Urbanistik und Büro des Präsidenten. Alle Fotos: H. Schönemann.

Gründung in Weimar, Stationen in Dessau und Berlin

Es war der Berliner Architekt Walter Gropius, unter dessen Leitung in Weimar die Großherzoglich Sächsische Hochschule für Bildende Kunst mit der Kunstgewerbeschule zum „Staatlichen Bauhaus“ verschmolz. Ein zentrales Anliegen war in den Anfangsjahren die Über­windung der Trennung von Kunst und Handwerk. So hatten bereits der 1907 ge­grün­dete Werkbund und andere Reformbewegungen das Anlie­gen einer „angewandten Kunst“ verfolgt.

Walter Gropius und die ersten Meister des Bauhauses sorgten dafür, dass nach dem „Vorkurs“, bei dem es um den Umgang mit Materialien und Grundlagen der Gestaltung ging, die Studierenden sich in „Werk­stätten“ (wie Keramik, Plastik, Tischlerei, Grafische Druckerei, Bühne, Fotografie, Weberei) ausprobieren konnten. Begleitend wurde Unter­richt angeboten. Hier spielten Namen heute berühmter Persönlich­keiten eine Rolle: Lyonel Feininger, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Oskar Schlemmer und andere. Der erste Leiter des Vorkurses, der Schweizer Maler und Kunstpädagoge Johannes Itten, legte hohen Wert auf Subjek­tivität, Empfinden und Erleben als Ausgangspunkt und Grundlage der kreativen Gestaltung. Er verkörperte eine ganzheitlich-esoterische Sichtweise, die auf der religiösen Lehre eines reformierten Zarathustris­mus’ beruht (Mazdaznan), bei der es auch um Fasten und vegetarische Ernährung ging. Später veränderte sich der Vorkurs, nachdem Itten nach Konflikten mit Gropius das Bauhaus verließ und László Moholy-Nagy, der als Fotograf einen Schwerpunkt auf ein neues Sehen legte, und dann Josef Albers die Leitung des Vorkurses übernahmen.

Für das Bauhaus war der exemplarische und repräsentative Bau als „Gesamtkunstwerk“ das Ziel und der Hintergrund aller kreativen Befassung. So heißt es im Bauhaus-Manifest vom April 1919: „Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau!“ Dieses Ziel verband sich, wie bereits erwähnt, mit zentralen Anliegen der Reformpädagogik und weist so hinein in die Dynamik menschlichen Lebens und Zusammenlebens, das in Kunst, Design und Bau – nicht nur als Ergebnis, sondern als Prozess der Vorbereitung und Erstellung begriffen – seinen lebenspraktischen Ausdruck sucht und findet. Aufgrund zahlreicher Widerstände und nach massiven Mittel­kürzungen durch die im Land Thüringen zur Mehrheit gekommenen rechten politischen Kräfte zog das Bauhaus in die damals noch von der SPD regierte Stadt Dessau um.

Später in Dessau (1925–1931) verlegte das Bauhaus mehr und mehr seinen Schwerpunkt auf die Verbindung von Kunst und Industrie. In Hugo Junkers, der in den Junkerswerken erst mit Gasöfen, dann später mit der Entwicklung von Flugzeugen (u.­ a. JU 52) unternehmerisch tätig war, fand Gropius einen Gönner und Partner. Das Bauhaus, dessen Hauptgebäude in Dessau 1926 fertiggestellt wurde, mutierte in dieser Phase zur „Hochschule für Gestaltung“ zwischen Kunstdesign und Tech­nik und prägt so entscheidend die Vorstellung vom Industriedesign bis heute. In Dessau begann die charakteristische Praxis der Kleinschrei­bung. Die Leitung des Bauhauses übernahm im Jahre 1928 Hannes Meyer, ab 1930 der Architekt Ludwig Mies van der Rohe. Auch in Dessau wurde dem Bauhaus mit seiner freiheitlichen, linksliberalen Grund­orientierung das Aufkommen rechter politischer Kräfte zum Verhäng­nis. Die Mehrheit der NSDAP im Dessauer Stadtrat erzwang 1932 die Schließung des Bauhauses. Es erfolgte ein letzter Umzug nach Berlin, bevor die endgültige Schließung durch die Nationalsozialisten 1933 das „Experiment“ beendete. Die Meister des Bauhauses emigrierten in die USA und nach Großbritannien, wo von da an die Impulse des Bauhauses gesetzt wurden. Eine große Anzahl jüdischer Architekten emigrierte, bedingt durch den Druck der Nationalsozialisten, in den 30er Jahren nach Palästina. In der Folge entstanden in der ab 1911 im Sand des Meeres errichteten jüdischen Stadt Tel Aviv ungefähr 4000 Gebäude im Bauhausstil, die heute als „Weiße Stadt“ Touristenmagnet und UNESCO-Weltkulturerbe sind.

Bild 2: Bauhaus Dessau, Werkstatttrakt

Das Bauhaus und die Moderne – bleibende Bedeutung

Welche Bedeutung hatte das Bauhaus in den „kurzen“ 14 Jahren seines Bestehens? Wie kaum eine andere Bewegung hat das Bauhaus Impulse der anbrechenden Moderne aufgenommen und verarbeitet und seiner­seits modernes Bauen, Gestalten, Sehen und Leben mitgeprägt. Wenn im Folgenden einige Aspekte dazu beschrieben werden, so kann im Hin­tergrund der Gedanke mitlaufen, dass eine Kirche, die derzeit wieder in gesellschaftlichen Transformationsprozessen ihren Ort, ihre Sendung neu verstehen, beschreiben und ausprobieren will, ihrerseits den Dialog mit den prägenden Kräften des jeweiligen Zeitalters aufnehmen muss. Die Moderne ist weitergegangen, sie hat sich radikalisiert, sich reflek­­tiert und überboten. Sie ist zur Postmoderne geworden. Dennoch – und gerade deshalb – bleibt das Anliegen der Pastoral und des kirchlichen Lebens und Zeugnisses, dass die Zeichen der Zeit wahrgenommen und im Licht des Evangeliums gedeutet werden und ihrerseits Licht auf ein verändertes Sehen des Evangeliums werfen, eine grundständige Her­ausforderung. Viele Aspekte des heraufziehenden 20. Jahrhunderts haben sich am Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt, beschleunigt und vervielfältigt.

Bild 3: Bauhaus Dessau, Eingang


Was also kann der Blick auf das Bauhaus, wie es in der Verbindung von Kunst, Design, Ästhetik, Leben und Architektur die Moderne geprägt hat, für eine Reflexion und Neuorientierung kirchlicher Realität austragen?

Mit der pragmatischen Maxime „form follows function“ verbindet sich ei­nerseits die Forderung nach einer funktional-schlichten und gerade so „schönen“ Formensprache in Abgrenzung zur Schnörkelhaftigkeit und Großmannssucht der Gründerzeit wie auch zum verspielten Schmuck­stil des Jugendstils. Zum anderen sollten gerade, wie Walter Gropius meinte, menschliche Grundbedürfnisse als Grundlage wirtschaftlicher und industrieller Forderungen dienen. Schönheit begreift das Bauhaus deshalb als Harmonie zwischen technischer Zweckfunktion und Pro­portionen der Form. Es gibt für das Bauhaus nicht „die“ Kunst, sondern eine Ausdifferenzierung der Stile; Polyperspektivität kennzeichnet den Umgang mit den Werkstoffen und Materialien, um lebendiges Leben zu ermöglichen und zu fördern.

Somit ist das Sehen und die Gestaltung auf einen neuen Stil des Lebens gerichtet. Gropius schrieb 1930: „das ziel des bauhauses ist eben kein ›stil‹, kein system, dogma oder kanon, kein rezept und keine mode! es wird lebendig sein, solange es nicht an der form hängt, sondern hinter der wandelbaren form das fluidum des lebens selbst sucht!“

Bild 4: Bauhaus Dessau, Gesamtansicht


Es ist das bleibende Verdienst des Bauhauses – und vielleicht wird es gerade darin heute nach hundert Jahren wieder aktuell –, in einer Kom­bination von beidem Gestaltung und Gesellschaft neu zu denken. Das Design und das Leben im Umkreis des Bauhauses ist, trotz mancher Konflikte, von Weltoffenheit und Vielfalt geprägt und erweist sich gera­de darin als postkoloniale Avantgarde. Die Arbeiten der Bauhäuslerin­nen und Bauhäusler atmen die Utopie eines neuen Menschen, bei der die trennenden gesellschaftlichen Unterschiede und auch ethnische und geografische Herkünfte keine entscheidende Rolle mehr spielen. So wur­den in den Bewerbungen der Studierenden akademische Zugangsbe­stimmungen fallengelassen; es entschied die Begabung der Bewerberin­nen und Bewerber, auch unterschiedliche Staatsangehörigkeiten waren möglich. Es herrschte – je später, desto mehr – ein selbstverständliches Miteinander von Frauen und Männern, kein Selbstläufer in einer Gesell­schaft, in der die Frauen gerade erst mit der Wahl zur verfassungsgeben­den deutschen Nationalversammlung, die ebenfalls in Weimar zur Erar­beitung der Reichsverfassung zusammenkam, im Gründungsjahr des Bauhauses 1919 das Wahlrecht zuerkannt bekommen hatten.

Die Arbeit und das Miteinander am Bauhaus spiegelten in ihrem kreati­ven Umgang mit Vielfalt die Unklarheit, die Konflikthaftigkeit, die Kom­plexität der heraufziehenden neuen Zeit wider. Für die Meister des Bauhauses war deshalb auch Teamarbeit ein wichtiges Element, an die sie die Studierenden zur schöpferischen Bearbeitung von Vielfalt heran­führten. Neben bildenden Künsten spielten am Bauhaus auch Perfor­manz, Bewegung, Tanz, also fluide Formen darstellender Gestaltung, eine wichtige Rolle. Zum „Konzept“ gehörte das Zusammenleben von Studierenden und Meistern im Umfeld des Bauhauses. Legendär waren die Motto- und Kostümpartys und nächtliche Badeszenen in der Ilm neben dem herzoglichen Schloss, was wohl mehr als einmal bei man­chem Zeitgenossen aus der Weimarer Bevölkerung für ein Kopfschüt­teln sorgte. Teil des gestalterischen Programms war das gemeinsame Leben, darin auch die Bauhausfeste im Sinne einer ganzheitlichen Lebensreform.

Das Bauhaus riskierte, provozierte, innovierte. Es verstand sich in seinen Gebäuden, seinen Abläufen und dem Miteinander der han­delnden Akteurinnen und Akteure als Experimentierfeld und Ideen­schmiede für eine neue Zeit. Es ist zu wünschen, dass es nach einem Jahrhundert gerade darin zum Vorbild werden kann für eine Kirche, die in einer neuen Zeit ein neues Sehen einüben will und neue Formen der Gestaltung und der Kommunikation des Evangeliums für ihre Pastoral und deren Vollzüge sucht.