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Künstliche Intelligenz – und die Frage nach dem Menschen

Eine der wesentlichen treibenden Kräfte des Megatrends Digitalisierung machen Technologien und Konzepte aus, die unter dem Oberbegriff „Künstliche Intelligenz“ zusammengefasst werden können. Viele davon sind bereits in unseren Alltag integriert, sei es in unserer eigenen Nut­zung von elektronischen Geräten und Online-Diensten oder indem sie Prozesse in unserer Umwelt steuern, die uns mitbetreffen – oft, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Öffentlich diskutiert werden vor allem die Zukunftsvisionen, die Chancen und Risiken, die mit der fort­schreitenden Entwicklung der KI und ihrem immer breiteren Einsatz verbunden sind, wie die zu erwartenden massiven Veränderungen der Arbeitswelt und die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Folgen. Der Einsatz von KI bringt eine große Zahl ethischer, insbesondere sozial­ethischer Fragen mit sich. Indem KI Maß nimmt am Menschen und seiner Intelligenz und sich auf seine Lebensumstände auswirkt, bringt sie aber auch den Menschen neu ins Blickfeld – wie er sich selbst sieht und versteht.

Starke und schwache KI

Es gibt keine klare Definition von Künstlicher Intelligenz – wenig ver­wunderlich, da auch Intelligenz ein durchaus schillernder Begriff ist. In der Entstehungszeit der Idee und des Begriffs der Künstlichen Intelli­genz, den 1950er Jahren, war der leitende Gedanke, durch die Compu­tertechnik kognitive Leistungen entsprechend denen eines Menschen zu erbringen.

Der bekannte, von Alan Turing 1950 vorgeschlagene Turing-Test etwa möchte einem Computersystem dann Intelligenz zusprechen, wenn es überzeugend wie ein Mensch (schriftlich) kommuniziert, dabei die von einem Menschen zu erwartenden Fähigkeiten und ein entsprechendes Wissen beweist, so dass ein menschlicher Gesprächspartner nicht sicher unterscheiden kann, ob er sich mit einem Menschen oder einem Com­pu­­tersystem unterhält. Turing ging offenbar davon aus, dass eine KI, die in der Lage wäre, sich so zu verhalten und glaubwürdig als menschlicher Kommunikationspartner wahrgenommen zu werden, die Denkfähigkeit eines Menschen voll und umfassend erreichen würde und mit einem Menschen kognitiv gleichauf, wenn nicht ihm überlegen wäre. Dies wäre eine sogenannte starke KI – eine technisch realisierte Intelligenz mit hoher Flexibilität und fähig zu zielgerichtetem Handeln. Als Auf­gaben, die eine starke KI umfassend leisten muss, gelten logisches Denkvermögen, das Treffen von Entscheidungen bei Unsicherheit, Pla­nen, Lernen, Kommunikation in natürlicher Sprache und die Kombina­tion all dieser Fähigkeiten zum Erreichen eines (vorgegebenen) Ziels.

Bis heute existieren weder KI-Systeme, die den Turing-Test bestehen, noch solche, die als starke KI gelten können. Alles, was derzeit realisiert ist, fällt in den Bereich der sogenannten schwachen KI. Damit werden Systeme bezeichnet, die in einzelnen abgegrenzten Anwendungsgebie­ten dem Menschen entsprechende oder ihn übertreffen­de Leistungen erbringen – etwa Bildverarbeitung, Mustererkennung, Sprachverarbei­tung, Entscheidungsfindung oder auch ein komplexeres Zusammen­spiel mehrerer Anwendungsgebiete wie die Steuerung eines autonomen Fahrzeugs. Im Grunde genommen ist auch das überzeugende Nachah­men menschlicher Kommunikation und der in einem Gespräch beweis­baren Fähigkeiten ein abgegrenztes Anwendungsgebiet, weshalb frag­lich ist, ob das Bestehen des Turing-Tests tatsächlich ein ausreichendes Kriterium für eine starke KI wäre.

Ihre schnelle Weiterentwicklung in den letzten Jahren verdankt die KI dem maschinellen Lernen mit Hilfe sogenannter künstlicher neuronaler Netze, die die Strukturen miteinander vernetzter und verschalteter Neu­ronen und die damit erfolgende Informationsverarbeitung in Soft­ware nachbildet. Diese Strukturen werden durch das Einspeisen einer Anzahl von Datensätzen zur zu lösenden Aufgabe (z. B. Bilder, auf de­nen ein bestimmter Gegenstand erkannt werden soll) trainiert; dabei passt das neuronale Netz seine Struktur und internen Parameter immer wieder entsprechend den Eingaben an. Danach wird an weiteren Daten­sätzen überprüft, ob das neuronale Netz seine Aufgabe (in diesem Fall das Erkennen des Gegenstandes) zuverlässig bewältigen kann, ehe es eingesetzt wird.

Während andere Techniken wie etwa regelbasierte Expertensysteme mit von Menschen formulierten, das menschliche Wissen abbildenden Regeln arbeiten, bilden sich beim maschinellen Lernen implizite, nicht in natürlicher Sprache wiederzugebende Regeln im neuronalen Netz ab. Ob das neuronale Netz einen Sachverhalt korrekt gelernt hat oder nicht, kann sich daher nur an den Ergebnissen zeigen und im Fehlerfall nur durch weiteres bzw. neues Training mit besser ausgewählten Daten korrigiert werden.

Ausgeklammert bleiben bei der Definition der starken KI menschliche Eigenschaften wie Emotionalität, Bewusstsein, Selbsterkenntnis oder Empathie. Während eine Mehrheit der Forscher die Realisierung einer logisch denkenden und planvoll handelnden starken KI für möglich und in wenigen Jahrzehnten erreichbar hält, bleibt die technische Realisierbarkeit dieser Eigenschaften fraglich.

Nicht eindeutig zu beantworten ist auch die Frage, ob eine starke KI tat­sächlich die Fähigkeit entwickeln könnte, intentional eigene Ziele zu setzen und zu verfolgen sowie vom Menschen definierte Grenzen zu missachten – ein Gedanke, der so manchem dystopischen Science-Fic­tion-Szenario zugrunde liegt. Auf jeden Fall wäre es jedoch möglich, durch Fehler in der Aufgabenstellung und Abgrenzung die Kontrolle über das Verhalten einer KI zu verlieren. Daher sind grundsätzlich hohe Sicherheitsregeln für die KI-Entwicklung zu gewährleisten.

Auswirkungen des Einsatzes von KI

Künstliche Intelligenz begegnet uns bereits in vielen Zusammenhängen unseres Alltags – oft, um uns etwas zu vereinfachen oder mehr Komfort zu bieten. Zu nennen wären hier Anwendungen wie Internet-Suchma­schinen, automatische Sprachübersetzungen, Gesichtserkennung und Bildbearbeitungsmöglichkeiten unserer Smartphones, Chatbots im Kundenservice, Sprachassistenzsysteme und vieles mehr. Auch wer sich selbst bei der Nutzung digitaler Geräte und Dienste eher zurückhält, ist von Anwendungsgebieten wie der Optimierung der Verkehrssteuerung oder der Automatisierung von Abläufen etwa bei Banken, Versicherun­gen und der öffentlichen Verwaltung betroffen. KI steckt in Geräten und Software, die Menschen mit Behinderung das Leben erleichtern. In der Medizin unterstützt KI Ärzte beispielsweise bei der Diagnostik. In ande­ren Bereichen, wie etwa dem autonomen Fahren, lässt sich derzeit die Entwicklung zur Marktreife und das Näherrücken eines breiten Einsat­zes mitverfolgen.

Vielfach werden die durch KI ermöglichten Annehmlichkeiten gern ge­nutzt und eventuelle negative Folgen in Kauf genommen: Der Nutzer gibt viel von sich preis, wird manipulierbarer, leichter überwachbar. Ein Sprachassistenzsystem bedeutet Bequemlichkeit, aber auch die dauern­de Anwesenheit eines Mikrofons, bei dem ich nur schwer sicher wissen kann, ob es ein- oder ausgeschaltet ist. Eine Gesichtserkennung in mei­nem Smartphone macht mir das Entsperren leicht, macht meine Ge­sichtszüge aber eventuell auch in anderen Zusammenhängen automa­tisch identifizierbar. In vielen Zusammenhängen ist zu fragen, ob die KI nicht Persönlichkeitsrechte und letzten Endes menschliche Freiheit ein­zuschränken droht – ein mahnendes Beispiel hier das staatliche social scoring in China, das jedes durch Überwachungskameras oder andere automatisierte Überwachungsformen dokumentierte Fehlverhalten eines Bürgers sofort z. B. mit der Einschränkung seiner Möglichkeiten, bestimmte Dienste zu nutzen, bestraft.

Wo KI-Scoringverfahren beispielsweise über Versicherungsverträge, Kreditwürdigkeit oder Personalfragen (mit-)​entscheiden, mögen mensch­liche Willkür, Launen oder Fehler ausgeschlossen werden, nicht jedoch Vorurteile, die sich schon in den Trainingsdaten der KI niederge­schlagen hatten und sich so in den Entscheidungen der KI fortsetzen. Dies ist dann möglicherweise noch schwerer nachzuweisen und anzu­fechten als eine ungerechte oder unsachgemäße Entscheidung eines Menschen.

Die Beispiele zeigen, dass es immer auch notwendig ist, den Einsatz von KI rechtlich zu regeln und Kontroll- und Monitoringverfahren zu unterziehen.

Folgen für die Arbeitswelt

Bereits viel diskutiert werden die in der Arbeitswelt zu erwartenden Veränderungen. Ein großer Teil, nach Schätzungen bis zu 80 % und mehr, der Produktions-, Verwaltungs- und Dienstleistungsaufgaben, die heute von Menschen erledigt werden, soll in Zukunft durch KI-Systeme automatisiert leistbar sein, eine große Zahl von Berufen dadurch über­flüssig werden.

Positiv betrachtet kann dies natürlich eine Entlastung des Menschen von belastenden und wenig attraktiven Tätigkeiten bedeuten. Negativ betrachtet werden zunächst einmal viele Arbeitsplätze verlorengehen, unter Umständen ganze Berufsgruppen arbeitslos werden, ohne dass absehbar ist, ob und in welchen Bereichen diese Menschen andere be­zahlte Arbeit werden finden können. Es werden sicher andere Aufgaben und damit Arbeitsplätze entstehen, aber möglicherweise in viel geringe­rer Zahl und mit anderen Qualifikationsvoraussetzungen. Dies dürfte einen größeren gesellschaftlichen Umbau erforderlich machen. Der Stellenwert (bezahlter) Arbeit könnte sich deutlich verändern, wenn immer weniger angenommen werden kann, dass jede/r, der oder die arbeitsfähig ist, auch fähig ist, sich und Familienangehörige durch ihre/‌seine Arbeit selbst zu unterhalten. Wie Arbeit, Geld und Güter sowie Lebens­möglichkeiten dann gerecht und sinnvoll verteilt werden können, muss gesellschaftlich ausgehandelt und gelöst werden. Die Entwicklung der KI ist damit eine der Antriebskräfte eines umfassenden gesellschaft­lichen Wandels.

Was ist der Mensch?

Letzten Endes rückt die fortschreitende Entwicklung und Bedeutung der KI wieder die Frage nach dem Menschen in den Mittelpunkt. Was macht ihn aus?

In gewisser Weise konnte der Mensch bisher seine Intelligenz als Allein­stellungsmerkmal auf unserem Planeten betrachten. Sie hat es ihm ermöglicht, immer wieder neue Lebensräume zu erschließen, Sprache, Schrift, Kultur zu entwickeln, mit Werkzeugen und Hilfsmitteln seine Möglichkeiten zu erweitern. Diese Intelligenz hat ihn auch befähigt, mit der KI etwas zu erschaffen, was ihn in dieser besonderen Eigenschaft in Frage stellt und sogar, zumindest punktuell in bestimmten Aufgaben­bereichen, vielleicht aber auch insgesamt, übertreffen könnte.

Es bleibt, jedenfalls nach bisherigem Stand, doch noch einiges, was die KI nicht kann und hat: Bewusstsein, Selbsterkenntnis, Emotionen, Be­ziehungen, Empfindungen. Es ist freilich Vorsicht geboten, denn das könnte auch die immer kleiner werdende Lücke des nur noch nicht Erreichten sein. Das Zusammenspiel zwischen der Gebundenheit an einen biologischen Körper – samt den damit verbundenen existenziel­len Erfahrungen von Geburt, Kindheit, Reife, Krankheit, Alter, Tod – und der Fähigkeit, dies zu erkennen und zu reflektieren, dürfte jedoch erst einmal einzigartig bleiben. Auf dieser Basis sind Emotionen und Beziehungen, Selbsterkenntnis und Kreativität bedeutsam. Möglicher­weise liegt hier auch die Wurzel zur Fähigkeit des Menschen zu einem religiösen Glauben, zum Vertrauen auf Gott.

Dieses Miteinander von Körperlichkeit und Reflexionsvermögen könnte den Bereich abstecken, wo der Mensch unersetzbar ist und bleibt – und welche Tätigkeiten es sein könnten, zu denen er „befreit“ wird, wenn die KI einen großen Teil dessen übernimmt, was mit Logik und Daten­verarbeitung zu lösen ist: nämlich all das, was mit Beziehung und Be­gegnung, einem menschlichen Dienst füreinander zu tun hat, mit dem Menschen selbst, seiner Entwicklung und Reifung und seinem Selbst­ausdruck. Mit anderen Worten: Erziehung und Bildung, Therapie und Beratung, Leib- und Seelsorge, Kunst, Kultur, Geistes- und Humanwis­senschaften, Handwerkliches und Gestalterisches.

Umso vorsichtiger gilt es zu sein, wenn KI in diesen Bereich vordringt. Hier gilt es zu unterscheiden, wo sie eine sinnvolle Unterstützung ist und wo nicht. Ein „Pflegeroboter“, der schwere Hebearbeiten über­nimmt und dabei so vorsichtig und flexibel wie ein menschlicher Pfleger agieren kann, mag sinnvoll sein – aber ein Roboter-Kuscheltier, das menschliche Zuwendung oder zumindest ein lebendes Haustier erset­zen soll? Ein psychologischer Beratungs-Chatbot kann möglicherweise eine Form der Hilfe zur Selbsthilfe sein, aber eine KI wird nicht eine therapeutische Beziehung zu einem anderen Menschen ersetzen kön­nen, ebenso wenig eine seelsorgliche.

KI, Theologie und Pastoral

Das Thema Künstliche Intelligenz ist für eine theologische Auseinander­setzung und für die pastorale Praxis relevant. Im Gesamtzusammen­hang der Digitalisierung stellt sich die Frage nach einer theologischen Deutung dieser gesamten Entwicklung, nach einer Theologie der Digitalität.

KI wirft insbesondere viele ethische Fragen auf, sowohl im Bereich von Grenzen und Regeln für den Einsatz von KI als auch sozialethische Pro­bleme im Blick auf die gesellschaftlichen Folgen, zu deren Klärung Mo­raltheologie und Christliche Sozialethik beitragen können. Sie provo­ziert eine neue Auseinandersetzung mit dem Menschenbild und da­durch in manchen Punkten auch mit unseren Gottesbildern. Wenn der Gedanke einer „KI-Religion“, in der die übermächtige KI zur Gottheit wird, auch abseitig erscheint, stellt er doch auch Fragen an heutige Sichten des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott.

Relevanz für die Pastoral hat KI als Teil des gesellschaftlichen Wandels, innerhalb dessen pastorales Handeln heute geschieht und auf den die Pastoral antworten und in dem sie Menschen begleiten muss. Ganz praktisch wird zu überlegen sein, ob es KI-Anwendungen gibt, deren Nutzung in der Pastoral möglich und angemessen ist – auch wenn es wohl sicher weder ein Seelsorge-Chatbot noch ein Beerdigungs-Roboter sein werden.