Making Missionaries – Junge Evangelikale und ihre Mission
Ethnografie einer Jugendorganisation auf Reisen
Das Buch behandelt eine deutsche Niederlassung eines internationalen pfingstlich-evangelikalen Missionswerks bzw. einen dortigen Ausbildungskurs für junge Menschen. (Eine Identifizierung der Organisation wird durch Anonymisierung verhindert.) Hanna Rettig hat im Rahmen ihrer ethnografischen Doktorarbeit diesen Ausbildungskurs zeitweise mitgemacht und auch auf Missionsreisen begleitet. In ihrer Arbeit stellt sie die Frage in den Mittelpunkt, wie hier Innen und Außen konstruiert werden, insbesondere, wie trotz einer deutlichen Abgrenzung zur „Welt“ ein missionarischer Dienst in und an der Welt stattfindet.
Leider sehe ich mich nicht in der Lage, den vorliegenden Band in seiner Qualität als ethnografische Arbeit zu bewerten – ich bin kein Ethnologe. Mir ist erst während der Lektüre bewusst geworden, dass ich das Buch mit eigenen Interessen und einem eigenen Erkenntnishintergrund lese – und beides steht zumindest teilweise offenkundig quer zu den Forschungsfragen und auch zur Expertise der Autorin. Deutlich wird das etwa, wenn Rettig unter der relativ nichtssagenden Überschrift „Draußen beten“ (214) Aktivitäten aus dem Kontext der neocharismatischen geistlichen Kriegsführung beschreibt, aber diesen Begriff nicht nennt und sich auch nicht mit der dahinterstehenden Theologie auseinandersetzt, sondern diese nur beiläufig streift (vgl. auch 52). Von Theologie und Weltanschauungsarbeit herkommend liegen meine Interessen hier anders. Für mich sind die Einblicke in Aktivitäten und Vorstellungswelten spannend, die ich nur aus Sekundärliteratur kenne: Bestätigt sich mein theoriebasierter Eindruck von dieser Form des Christentums in den Schilderungen aus dem praktischen, alltäglichen Leben einer beispielhaften Gruppierung?
Auch für die kirchliche Pastoral sind solche Einblicke wichtig, fundieren sie doch eine notwendige Auseinandersetzung mit evangelikalen bzw. neocharismatischen Angeboten und Denkmustern. Man denke nur an neocharismatische Aktionen (z. B. Wächterruf-Gebetskreise oder Marsch des Lebens), die auch um Unterstützung aus der katholischen Kirche werben, oder an Johannes Hartl und das Gebetshaus Augsburg.
Solche Einblicke bietet das Buch durchaus, freilich eingebettet in Reflexionen der Autorin, die (etwa durch Paraphrasen von O-Tönen) etwas schleifenhaft wirken; trotzdem ist das Buch, obwohl eine Dissertation, gut lesbar und kaum mit Fachvokabular „belastet“. Durchaus finden sich aber „Verfremdungen“: Bezugnahmen auf Gott und Religion (Gebet, religiöse Deutungen etc.) fasst Rettig im Begriff „Transzendieren“; das evangelikal-pfingstliche Feld fasst sie unter „das Evangelikale“. Man kann fragen, ob diese Begrifflichkeiten, die Rettig großen, komplexen Phänomenen überstülpt, sinnvoll sind. (Insbesondere fällt mir ihr Verzicht auf Differenzierung im evangelikal-pfingstlichen Feld [13–18] negativ auf.) Auf der anderen Seite steht dies im Kontext einer entschieden nicht-christlich und nicht-theologisch geprägten Betrachtung des Untersuchungsgegenstands. Eine solche „neutrale“ Perspektive hat ihren Eigenwert; in ihr zeigt sich m. E. aber auch das begrenzte Wissen zu Religion und Christentum der Autorin, die auch ihre eigene Religiosität und religiöse Sozialisation bewusst ausblendet (57 Anm. 18). Eine explizite Einordnung der Theologie und des Glaubens hinter der Missionsorganisation, ohne die ihre Praktiken nicht verständlich sind, fehlt jedenfalls; nur en passant bekommt man dazu Einblicke – aber leider kein umfassendes Bild.
Diese Einblicke offenbaren aber doch etliches, etwa einen ausgeprägten Dualismus: Das Missionswerk definiert sich selbst und seinen missionarischen Auftrag dadurch, dass ein scharfer Gegensatz zur Welt gezeichnet wird. Die Außenwelt wird als dämonisch belastet verstanden und muss durch Gebet gereinigt werden (z. B. 52, 145); insbesondere werden auch fremde Religionen dämonisiert (192 f., 210, 239). Die Kehrseite der Medaille ist eine bewahrende Mentalität der Missionsorganisation gegenüber den Kursteilnehmern, die bis hin zu Internetzensur geht (79 f.).
Deutlich wird, wie sehr diese Ausprägung des Christentums in einem Gegensatz zu einer modernen Theologie steht, die in Begriffen wie Kontextualität und Inkulturation denkt. Zwar ist die Organisation international ausgerichtet – sie bildet ja junge Menschen für missionarische Kurzzeittrips insbesondere im Ausland aus –, doch kommt im Buch schön heraus, wie die Spezifika des jeweiligen Einsatzortes in den Hintergrund treten, weil man sich von Gott mit einem Auftrag versehen und vom Heiligen Geist geführt weiß.
Besonders spannend finde ich, dass wir in dieser ethnografischen Studie nicht nur „offizielle“ Positionen des Missionswerks kennenlernen, sondern erleben, wie konkrete Menschen (Teilnehmer des Ausbildungskurses, Mitarbeiter, Leiter) damit umgehen. Konkrete Menschen, die sich zwar in die Denk- und Organisationslogiken des Missionswerks einfügen, das völligen change anzielt (122–124), die aber dennoch ihre eigene Persönlichkeit behalten und zwischen Alltags- und Organisationslogik changieren (193–196): Sie schaffen sich Freiräume und Privatsphäre im Ausbildungshaus, das wenig Privatsphäre vorsieht (74–76); sie hinterfragen Entscheidungen der Leitung (128); Missionierung etwa im Einkaufszentrum kostet sie Überwindung (181–184); die Populärkultur der „Welt“ ist ihnen nicht fremd, obwohl das Missionswerk vom Gegensatz dazu lebt (56, 133 f.); und sie müssen teilweise mühsam aushandeln, wie sie mit der Autorin umgehen, die als Ethnografin nicht in die gängigen Organisationslogiken passt (46–59).
Auch wenn aus meiner Perspektive (aber das ist, wie gesagt, eine andere Perspektive als die der Autorin) manches im Buch eher dünn erscheint – etwa der Umgang mit religionswissenschaftlicher Sekundärliteratur oder die Auseinandersetzung mit der Theologie des Missionswerks –, so bietet das Buch doch wertvolle Einblicke und auch Analysen zu einem im evangelikalen (und pfingstlichen) Spektrum verbreiteten Phänomen, das m. E. in der deutschsprachigen Forschung relativ wenig Beachtung findet: missionarische Kurzzeiteinsätze und -reisen sowie Organisationen, die darauf spezialisiert sind, Menschen für Evangelisationseinsätze u. Ä. vorzubereiten. Mittlerweile gibt es auch etliche katholische Initiativen, die junge Menschen zu Missionaren etc. ausbilden – und sich dabei teilweise auch von evangelikalen bzw. neocharismatischen Vorbildern inspirieren lassen. Wer sich mit missionarischer Pastoral und Evangelisation befasst, wird um eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Angeboten und mit deren Theologien und Praktiken nicht herumkommen.
Martin Hochholzer