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Christentum als Stil

Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa

Der in Paris lehrende Fundamentaltheologe und Jesuit Christoph Theo­bald versucht mit diesem Buch, christliche Existenz in der Gegenwart als Glaube an die ungeahnte Lebenskraft des Evangeliums neu zu ent­decken und zu vermitteln. Wie kann heute Hoffnung bezeugt und Ver­trauen ermöglicht werden? Für Theobald ist klar: Die neuen Bedingun­gen des Christseins in Europa sind Diasporasituation von Kirche, Exkul­turation des Glaubens aus der Gesellschaft und Glaubwürdigkeitskrise. Er sieht gerade darin die Chance, zum Eigentlichen des Glaubens vor­­zustoßen.

Dazu legt er eine innovative fundamentale Hermeneutik des Glaubens vor. Das Konzil mit Dei verbum und Gaudium et spes weist einen Weg vom Hören des Gotteswortes (auf verschiedene Weise) über seine Verkündigung bis hin zu den Empfängern und ihrem Glauben, Hoffen und Lieben.

Theobald versteht daher Glaube als „Lebensform“ und als „Begegnungs- und Beziehungsgeschehen in der Welt“ (53; im Original kursiv). So ent­wickelt er eine Vorstellung eines elementaren Aktes eines Glaubens an das Leben, der in Verwundbarkeit und Offenheit dennoch Vertrauen wagt. Dies ist nach Theobald eine jedem Leben innewohnende Verhei­ßung, die im Vertrauen angenommen wird, ein „Mut zum Sein“ (Paul Tillich). In der Gegenwart in Europa greift die bloße Unterscheidung von christlicher und nicht-christlicher Existenz zu kurz. Der Andere ist nicht nur ein Nicht-Glaubender, sondern nach Theobald ein „Glaubender“ in einem grundsätzlichen Sinne. Jeder Mensch lebt dank eines fundamen­talen Vertrauensvorschusses, er muss immer wieder einen zum Leben notwendigen Akt vollziehen, der jedoch nie endgültig vorliegt, sondern bei bestimmten Gelegenheiten und Ereignissen ganz neu aktiviert wer­den muss. Für Theobald sind es sind immer Andere, die diesen Akt in einem Menschen erzeugen, ohne allerdings diesen Lebensakt an dessen Stelle setzen zu können. Der Mensch vertraut sich in seiner Verwund­barkeit dem Geheimnis seiner Existenz in der Welt an, in der Hoffnung darauf, mit diesem Vertrauen nicht zum Verlierer zu werden.

Es gibt dann einen Übergang von dem elementaren „Lebens­glauben“ zum Christusglauben der Jünger. „Das geheimnisvolle ‚Ganze‘, nicht nur meiner, sondern aller Lebensgeschichten, nicht nur meiner Lebens­welt, sondern der gesamten Welt füllt sich hier sozusagen von dem her, was sich zwischen Jesus, seinen Jüngern und den vielgestaltigen Sym­pathisanten abspielt“ (97).

Glaube ereignet sich so in einer basalen Figur als Aufnahme einer grundlegenden Kommunikation der Menschen als Jünger und als Sym­pathisanten. Insofern nimmt Theobald das Konzept von Dei verbum als eines vielfach vernetzten Gesprächs (dialogus, conversatio, colloquium) und gemeinsamer Beratung (deliberatio) auf, das eine kritische Unter­scheidung der Zeichen der Zeit zum Ziel hat.

Dieser glaubenstheologische Grundansatz wird dann von Theobald in den folgenden Kapiteln weiterentwickelt im Blick auf ein Missionsland Europa, wo man Glaube finden kann, wo man ihn nicht vermutet. Glau­bensvollzüge sind vielseitig.

Das Prinzip der Pastoralität, wie es in der Eröffnungsrede Johannes XXIII. zum Konzil aufscheint, besagt, dass Gott bereits in den Vollzügen des Lebens aufscheint bzw. dass der Glaube prozesshaft in der pastora­len Beziehung zwischen den Verkündigern des Evangeliums und den möglichen Hörern schon vorfindbar ist und nicht erst „gemacht“ wer­den muss. So sieht Theobald eine große Pluralität von Gestalten des Glaubens und ein unlösbares Band zwischen dem „Glauben“ und der Interpretationskompetenz jedermanns, wie er dies nennt. Theobalds Glaubensverständnis ist komplex, weil niemals fixierbar, und prozess­haft. Glaube realisiert sich und wird genährt in einem allumfassenden Gespräch: „Das je heutige Hören der Stimme Gottes ist nur möglich im ‚stereophonen‘ Hören aller auf eine Vielfalt mitmenschlicher und mit-christlicher Stimmen und deren Echo im ‚Resonanzraum‘ des je eigenen Gewissens“ (43).

Aus der Hermeneutik und Phänomenologie entlehnt Theobald den Stil­begriff, den er als Lebensform und als Begegnungs- und Beziehungsge­schehen in der Welt weiterentwickelt, als Gestaltungskraft, die nur in einem solchen Begegnungsgeschehen ihre Wirkung entfaltet, in dem sich der Betrachter, Hörer oder Leser auf den schöpferischen Vorgang der künstlerischen Formgebung selbst einlässt. Stil ist das „Kennzei­chen einer Art und Weise, die Welt zu bewohnen“ (52).

Wenn Glaube also ein Begegnungs- und Beziehungsgeschehen in der Welt ist, dann sind Gastfreundschaft und Heiligkeit für Theobald die neuartige Art und Weise von Jesus selbst, die Welt zu bewohnen. Der Freiheitsraum der Gastfreundschaft, verbunden mit der Liebe des Fremden, erlaubt den Menschen, ihre eigene Singularität zu entdecken (Stil), die bereits in der Tiefe ihrer Existenz verborgen da ist und sich plötzlich in der Begegnung mit dem Mann aus Nazareth als Glaubensakt artikuliert.

Deshalb sollte man Mission nach Theobald nicht mit Proselytenmache­rei verwechseln. Christlicher Glaube eröffnet eine ganz spezifische Glaubenserfahrung, den Zugang zur Intimität Gottes, indem er die Situation des Gegenübers wahrnimmt und den in ihm bereits wirksa­men elementaren „Lebensglauben“ erspürt, bewusstmacht und stärkt, indem er dem anderen die Interpretationshoheit über seine Erfahrung überlässt. Theobald kritisiert daher eine weithin wahrgenommene Re­produktionspastoral der Kirchen. Es gelinge ihnen nicht, eine „Grün­dungsperspektive“ einzunehmen. Es fehle weithin die jesuanisch-neutestamentliche Fähigkeit, dort „Glauben“ zu finden, wo man ihn nicht vermutet.

Im Kapitel 5 schließlich legt Theobald eine stilistische Ekklesiologie vor. Die Kirche ist ein offener Raum heiliger Gastfreundschaft und als solche immer im Werden. Aus der paulinischen Charismenlehre folgert Theo­bald, dass Gnadengaben umsonst gegeben werden. Die Gaben des Geis­tes bilden die Sakramentalität der Kirche, nicht Funktionen und Hierar­chien. „Diese hierarchisch strukturierte – und notwendig so strukturier­te Oberfläche – lässt nämlich leicht vergessen, dass das Entscheidende nicht Funktionen, Ämter und Dienste sind, sondern die von Jesus dem Christus eröffnete missionarische Verwandlung der Welt, die parado­xer­weise bei dem Letzten, dem Armen, dem als schwächer und weniger edel geltenden Glied beginnt“ (288). „Die sich unvorhersehbar zeigenden messianischen Zeichen und die hic et nunc geschenkten Charismen über­schreiten die klassische Sphäre der sieben Sakramente und damit auch im gewissen Sinn den Raum der Kirche; sie können in dem oben er­wähnten Bereich der Begegnung (dem ‚Narthex‘) erscheinen oder sich auch mitten im Alltag der Menschen realisieren“ (290 f.).

Gemeinde wird, wenn sie aus heiliger Gastfreundschaft lebt, zum Real­symbol oder Sakrament ständiger Dezentrierung. Aus der Phänomeno­logie des Alltags und des kirchlichen Alltags kann dann eine Leben zeu­gende Pastoral entstehen. „Kirche entsteht in solchen signifikanten Be­gegnungen, in denen das reine Interesse am immer bedrohten ‚Glau­ben‘ des Anderen an den Sinn seines Lebens der ‚Raum‘ werden, wo dieser Andere Christus entdecken kann“ (305). „Nur wenn die Christen Kirche nicht von außen importieren, sondern […] an der Seite ihrer Mit­menschen den Schwierigkeiten des Alltags begegnen und so und nicht anders mit dem Evangelium Gottes auch ihr Kirche-Werden angehen, wird ihre Suche nach offenen Türen für ihren Glauben glaubwürdig“ (321).

Der Entwurf Theobalds im Schnittfeld von fundamentaltheologischer Glaubensbegründung und pastoraltheologischer Reflexion, in der Span­nung zwischen postmoderner Freiheit, Unterscheidung der Geister und stilistisch-profiliertem Entwerfen des Glaubens als Dialog und heilige Gastfreundschaft fasziniert mich, weil es ihm gelingt, in einer Herme­neutik des Hörens auf die unterschiedlichen Stimmen (Schrift, die An­de­ren und Fremden mit ihren Charismen, die Tradition …) ein neues Entdecken des Evangeliums zu postulieren, das, indem es geteilt und verkündigt wird, seinerseits als lebendig und fruchtbar wahrgenommen wird. Es ist befreiend zu lesen, dass es nicht um eine Reproduktions­pastoral, sondern um eine wirkliche Mission geht, die sich in der Begeg­nung mit dem Auferstandenen manifestiert. Das Christentum ist nicht ein für alle Mal auf seine griechisch-hellenistische „Übersetzung“ fest­gelegt, sondern kann im Sinne der Pfingsterzählung in allen Sprach- und Kulturkreisen mit Gastfreundschaft rechnen, also „über‑setzt“ werden. Das Buch lädt zum Nachdenken und Freiwerden ein.

Hubertus Schönemann