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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

Nichts ist leicht zu übersehen. Man nimmt etwa den Bahnsteig wahr, auf dem man steht, und sieht den Boden der Bahn, in die man gleich steigen wird – aber das Nichts dazwischen, den Abstand, beachtet man womöglich nicht. Und der kann größer sein als gedacht. Zur Stolperfalle werden. Oder einen Blick in unschöne Abgründe (oder zumindest ins Gleisbett) gewähren, wenn man beim Einsteigen zufälligerweise doch nach unten blickt.

„Mind the gap!“ – „Auf den Abstand achten!“ – ist freilich zwiespältig. Einerseits gilt es oftmals überhaupt, ein Gespür für Abstände, Lücken, Unterschiede, kaum sichtbare Grenzen zu bekommen, sei es auf den Wegen, die wir gehen, sei es im sozialen Leben … Andererseits sind viele Abstände nicht „technisch bedingt“ (wie in der Londoner U-Bahn), son­dern von Menschen gezogene Abgrenzungen und Ausgrenzungen.

Und manches hängt in komplexer Weise zusammen: Materielle Armut – und damit sind wir beim Schwerpunkt dieser euangel-Ausgabe – bedeu­tet quasi „technisch“ (automatisch) auch stark verringerte Möglichkei­ten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen; dieser geringe Status führt zu Nichtbeachtung oder gar Verachtung von Seiten der „Gesell­schaft“; und die damit korrespondierende Scham der Armen vergrößert den Abstand noch weiter. Entsprechend dekliniert der erste Beitrag in dieser euangel-Ausgabe von Clemens Sedmak Armut als soziale Ausgren­zung durch. Ergänzt wird das durch den Blick, den Ulrike Wössner und Kilian Stark vom Deutschen Caritasverband auf die soziale Lage in Deutschland und den Umgang damit durch Politik und Kirche werfen.

Aber ist von christlicher Seite nicht ohnehin klar, wie auf Armut zu reagieren ist? Keineswegs, wie der Blick auf die Wirkungsgeschichte biblischer Armutstexte von Martin Hochholzer zeigt: Der „Stachel“ der Armut führte in christlich geprägten Gesellschaften nicht nur zu Wohl­tätigkeit und sozialem Engagement, sondern auch zu Spiritualisierun­gen – und oft genug zu Ausweichbewegungen, zu einer „bürgerlichen“ Praktikabilität, die die Würde der Armen beschnitt. Und dennoch ist Armut Teil der christlichen DNA, so Thomas Laubach, und nicht nur zu bekämpfen, sondern auch sich als eine spirituelle Haltung anzueignen.

Also: Armut – ein Thema für Christen und die Kirche. Nein, mehr als das! Papst Franziskus sagt uns deutlich, dass Kirche erst authentisch wird, wenn sie zu einer armen Kirche für die Armen wird. Hier liegt ein grundlegendes Kriterium für Kirchenentwicklung und Pastoral, wie der Beitrag von Ursula Nothelle-Wildfeuer deutlich macht. Armut und Elend als Umkehrruf: Stefan Silber stellt das mit Bezugnahme auf Franz von Assisi, lateinamerikanische Entwicklungen und die Bibel dar – die Papst Franziskus’ Denken in besonderem Maße prägen.

Auch die Perspektive auf Armut im Beitrag von Julia Moos und Claudio Moser steht in besonderem Bezug zum Denken von Papst Franziskus, denn Klimawandel und globale Gerechtigkeit spielen in der Enzyklika Laudato si’ eine zentrale Rolle. Und dennoch: Armut findet sich auch direkt vor unserer Haustür, auf unseren Straßen. Konkrete Erfahrungen aus der Arbeit mit Obdachlosen schildert Br. Michael Wies.

„Mind the gap!“ – das ist ein Aufruf, auf Abstände und auf Abgründe zu achten, die auch in unseren so fortschrittlichen Zeiten hartnäckig wei­terbestehen. Wahrnehmen dürfen wir aber in diesen Tagen auch wieder eine Überbrückung von Abständen: Gott ist mit der Geburt Jesu uns nahegekommen – in aller Einfachheit und Armut. Gott will menschen­feindliche Abstände überwinden – und lädt uns ein, es ihm gleichzutun.

Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen

Ihr