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Ist nur eine Kirche der Armen die wahre Kirche?

Zur Wirkungsgeschichte biblischer Armutsideale

Armut ist seit je her ein zentrales Thema für die Kirche, und die Frage nach dem rechten Umgang damit bestimmt ihr Wirken in der Welt wesentlich mit. Martin Hochholzer zeichnet nach, wie hier biblische Traditionen bis heute mehr oder auch weniger prägend sind.

Es fällt auf – und zwar negativ! –, wenn er fehlt: der besondere christ­liche Blick auf Armut und die Armen. Diesbezüglich erfährt etwa das „Mission Manifest“ (Meuser/​Hartl/​Wallner 2018) deutliche Kritik, weil die karitative Dimension von Kirche dort unterbelichtet ist (vgl. Nothelle-Wildfeuer 2018; Hochholzer 2018).

Doch woher kommt es, dass bis heute – besonders augenfällig bei Papst Franziskus – die „Op­tion für die Armen“, aber auch eine gewisse „Opti­on für die Armut“ quasi zur DNA des Christentums gehört? Dazu muss man auf die Ursprünge der Kirche schauen: auf die Zeit der ersten Chris­ten, auf das Wirken Jesu – und darüber hinaus auf die jüdischen Ar­muts­traditionen, an die Jesus und die Menschen in seiner Nachfolge anknüpfen.

Wer verstehen will, warum Armut so zentral für die christliche Sendung ist, muss also auf die Bibel schauen: Sie enthält die einschlägigen Über­lieferungen und Texte, die bis heute Menschen (übrigens nicht nur Juden und Christen!) wachrütteln und herausfordern. Dem wollen wir (sehr selektiv) in einem kleinen Streifzug durch die Wirkungsgeschichte der biblischen Armutsvorstellungen und -ideale nachgehen.

Die Wirkungsgeschichte in der Bibel

Armut ist relativ, steht immer in einem Gegenüber: Wer arm ist, ist nicht reich – und gehört üblicherweise nicht zu denen, die das Sagen haben. Arme sind eine beständige Anfrage und Mahnung an die Wohl­habenden und die Mächtigen, für mehr Gerechtigkeit in der Gesell­schaft zu sorgen; denn eigentlich sollte ja niemand Not leiden müssen. All das wird gerade auch in der Bibel verhandelt.

Im Alten Testament gibt es in der Weisheitsliteratur zwar auch Stim­men, die Armut als selbstverschuldet in den Blick nehmen (z. B. Spr 6,9–11; 24,30–34). Doch geradezu ein Cantus firmus im AT ist der Protest gegen die Ausbeutung der sozial Marginalisierten (paradig­matisch: Waisen und Witwen), wie ihn insbesondere die Propheten immer wieder erhoben. Flankiert wird das durch eine „Sozialgesetz­gebung“, die u. a. Schuldenerlasse und Schutzrechte für Arme um­fasste, sowie vor allem in nachexilischer Zeit durch private Wohltätig­keit (vgl. dazu Schottroff/​Schottroff 1991, 171–173). Gott erscheint – etwa in den Psalmen – als Schutzherr der Armen, der ihre Rechte ver­teidigt; der Umgang mit den Armen wird zu einem wesentlichen Prüf­stein für den, der vor Gott gerecht sein will (vgl. z. B. Ps 10).

Die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der Bibel beginnt bereits in der Bibel selbst, wenn Bibeltexte auf andere Bibelstellen Bezug neh­men, sie zitieren, interpretieren und in neue Zusammenhänge stellen. Jesus stand in den Traditionen des Judentums, und so sollte es nicht verwundern, dass das Neue Testament betont, wie er das alttestament­liche Nächstenliebegebot auf die Sorge für die Armen hin entgrenzte (vgl. z. B. Mt 19,19–21).

Neben der Wahrnehmung der allgegenwärtigen materiellen Not finden wir im NT aber auch eine gewisse Spiritualisierung von Armut. Auch dies hat alttestamentliche Wurzeln: In exilisch-nachexilischer Zeit bezeichneten sich (oppositionelle) Fromme als „Arme“, die auf Gottes (eschatologische) Erlösung harren. Die Seligpreisungen und andere neutestamentliche Texte betonen dagegen Gottes Heilszusage beson­ders an die Armen, ohne das von deren Frömmigkeit abhängig zu ma­chen (vgl. Merklein 1983, 468 f.). Nicht nur die Solidarisierung mit den Armen, sondern auch selbst gelebte Besitzlosigkeit wird geradezu als ein Erkennungszeichen der Jünger Jesu dargestellt: Nicht nur sollen die ausgesandten Jünger (fast) nichts mitnehmen (Mk 6,8 f.), soll ein Mann vor der Nachfolge Jesu seinen Besitz verkaufen (Mt 19,21), haben die Jünger alles zurückgelassen (Mt 19,27), sondern auch die Urgemeinde in Jerusalem wird als Gütergemeinschaft geschildert (Apg 4,32). Das alles steht vor dem Hintergrund der vehementen Kritik Jesu am Reichtum, der Menschen vom Reich Gottes abhält (vgl. z. B. Mt 6,24; 19,23 f.).

Allerdings: Nicht nur die verbreiteten Mahnungen zur Wohltätigkeit in der Evangelien- und Briefliteratur zeigen, dass im Urchristentum Be­sitzlosigkeit de facto nur von einer Minderheit (etwa Wanderpredigern) gepflegt wurde; Paulus fordert die Thessalonicher sogar explizit dazu auf, mit den eigenen Händen zu arbeiten und so auf niemanden ange­wiesen zu sein (1 Thess 4,11 f.).

Wir haben also in der Bibel ein vielfältiges Verhältnis zur Armut (und damit auch zum Reichtum) – Kontroversen in der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte waren somit quasi schon vorgezeichnet.

Wohltätigkeit in der mittelalterlichen Gesellschaft

„Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib ihn den Armen; und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach!“ (Mt 19,21): ein herausfordernder Spitzensatz. Ulrich Luz bemerkt zu seiner Wirkungsgeschichte: „Für die Ausleger der Alten Kirche ist zunächst klar, daß der Befehl Christi in V 21 wörtlich zu verstehen ist und allen gilt“ (Luz 1997, 131). Doch auch: „In der werden­den Großkirche konnten die alten Ideale der besitzlosen Wanderradika­len nicht aufrechterhalten werden. Mehr und mehr wurde das Gewicht auf die rechte Gesinnung gegenüber dem Reichtum gelegt“ (ebd. 131 f.).

Das ist symptomatisch für den Umgang mit den vielfältigen biblischen Aussagen zur Armut in der Bibel und zur damit verbundenen Reich­tumskritik: Sie sind sehr präsent in ihrer Wirkung auf die christliche Gesellschaft des mittelalterlichen Europas – sie werden aber auch praktikabel gemacht (vgl. dazu Geremek 1991, 21–87). Im Kontext der Ausdifferenzierung des aufkommenden (städtischen) Bürgertums bedeutet das eine gewisse „Arbeitsteilung“ zwischen verschiedenen Ständen; die radikale spirituelle Armut, die als „evangelischer Rat“ gefasst wird, kommt dabei dem Mönchtum zu. Ansonsten gilt: „Der Reichtum der einen ist notwendig, damit den Armen geholfen werden kann. Das Lob des Almosens enthält nicht nur die Erlösungschance für die Reichen, sondern es sanktioniert auch den Reichtum, ist dessen ideologische Rechtfertigung“ (ebd. 27).

Somit führte das Armutsethos, das von der kirchlichen Verkündigung beständig in Erinnerung gerufen wurde, nicht zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. Vielmehr ging es nicht nur um die Sicherung des individuellen Heils durch Werke der Barmherzigkeit, sondern es bot sich hier Raum für bürgerliche Selbstdarstellung durch fromme Schen­kungen und Stiftungen (Spitäler, Waisenhäuser etc.) und öffentlich ver­teilte Almosen (vgl. ebd. 30 f.).

Der Arme wurde somit „innerhalb der societas christiana als Objekt und nicht als Subjekt der christlichen Gemeinschaft behandelt“ (ebd. 28). Die Armenfürsorge verwaltete und reglementierte, sie sollte mit Ver­nunft und Unterscheidung erfolgen (vgl. ebd. 35). Almosen wurden geradezu als Tauschgeschäfte betrachtet – man erwartete dafür etwa das Gebet des Empfängers für den Spender (vgl. ebd. 58 f.). In diesem Kontext kommt die prophetische Dimension christlicher Sendung nicht gesellschafts-, sondern individualbezogen zum Tragen: etwa in der Warnung vor Lastern wie Geiz.

Der Streit um die Armut der Kirche

Und doch fehlte es im Mittelalter auch nicht an fundamentaler Kritik an den Zuständen in Gesellschaft und Kirche. Angeregt u. a. durch die Aus­sendungsrede (speziell Mt 10,5–15 parr.) entwickelte sich ab dem 11. Jh. u. a. in Italien eine Armutsbewegung (vgl. dazu Armutsbewegung 2018): Laienprediger ließen allen Besitz hinter sich und zogen umher.

Diese Armutsbewegung erlangte zwar bis zu einem bestimmten Grad auch kirchliche Förderung – etwa durch die Päpste Innozenz III. (1198–1216) und Gregor IX. (1227–1241) –, doch kam es immer wieder auch zu Konflikten mit der kirchlichen Hierarchie (etwa in der Frage der Laienpredigt) bis hin zur Verurteilung als Ketzer (so etwa bei den Wal­densern und zwischenzeitlich auch bei den Humiliaten). Letztlich wa­ren die römischen Versuche, die Armutsbewegung durch Integration in Ordensstrukturen einzufangen, nur begrenzt erfolgreich.

Den „pauperes Christi“ der Armutsbewegung ging es nicht nur um ihr eigenes religiöses Leben; vielmehr stellten sie auch – indirekt und direkt – die Frage nach der „armen Kirche“ in den Raum. Wesentlichen Anstoß dazu hatte das Reformpapsttum, insbesondere Gregor VII. (1073–1085) gegeben, der ja unter anderem scharf gegen „Simonie“, den Kauf kirch­licher Ämter, kämpfte. „Dem nackten Christus nackt folgen“, das war dann das nicht nur gepredigte, sondern auch gelebte Ideal vieler, die einer reich gewordenen Kirche den Spiegel vorhielten (vgl. dazu Feld 1996, 79–94). „Der revolutionäre, doch phantastische Plan einer totalen Trennung des weltlichen und des geistlichen Bereiches, einer Zuwei­sung der politischen Herrschaft und des materiellen Besitzes (Regalia, Temporalia) an das Königtum und einer Beschränkung der Kirche (d.h. des Hochklerus) auf die geistlichen Aufgaben (Spiritualia), den der Papst Paschalis II. (1099–1118) entwickelte, zeigt, daß die radikalen Reform­ideen, freilich nur für einen kurzen Augenblick, sogar die Spitze der Römischen Kirche erreicht hatten“ (ebd. 80).

Bestimmend war aber letztlich die Gegenseite, die radikalen Besitzver­zicht um des Evangeliums willen nicht nur einzuhegen suchte, sondern teilweise regelrecht bekämpfte. Exemplarisch dafür steht der „Armuts­streit“, das Ringen um die Radikalität des franziskanischen Ordens­ideals. „Die Worte, die Jesus bei der Aussendung seiner Jünger an sie richtete […], verstand Franziskus als Aufforderung für sich und seine Anhänger, ein Leben in radikaler Armut, ohne jeglichen Besitz, zu füh­ren: nichts als die Kleider, die sie am Leibe trugen, sollte ihnen gehören, und auch diese nicht als Eigentum, sondern gewissermaßen nur als Leihgabe“ (ebd. 189). Schon zu Lebzeiten des Franz von Assisi hatte seine Gemeinschaft mit Aufweichungstendenzen zu kämpfen; immer­hin wurde zunächst auch der Orden als Ganzes tatsächlich durch eine rechtliche Konstruktion besitzfrei gestellt (vgl. ebd. 340–342), wenn­gleich er de facto in kurzer Zeit zu großem Reichtum kam. Doch nicht nur innerhalb des Ordens, sondern auch mit Kirchenleitung und Gelehr­ten (etwa Thomas von Aquin) kam es immer wieder zu Streitigkeiten (vgl. ebd. 455–468), bis schließlich in den 1320er Jahren Papst Johan­nes XXII. die Annahme der Besitzlosigkeit Jesu und seiner Apostel für irrig erklärte und damit zugleich das radikale franziskanische Armuts­ideal, wie es von den „Spiritualen“ vertreten wurde, verurteilte (vgl. ebd. 496–501).

Das christliche Ideal der Gütergemeinschaft

„Die Menge derer, die gläubig geworden waren, war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, son­dern sie hatten alles gemeinsam“ (Apg 4,32; vgl. 2,44 f.): Dieses urchrist­liche Idealbild inspirierte nicht nur die mittelalterliche Armutsbewe­gung (vgl. Pesch 1986, 192). Freilich fällt auf, dass nirgendwo sonst im Neuen Testament außer in der Apostelgeschichte (und dort nur für die Jerusalemer Urgemeinde) von einer solchen urchristlichen Güterge­meinschaft berichtet wird. Doch ist in den beiden Sammelberichten der Apg auch davon die Rede, dass durch Verkauf des eigenen Besitzes Mit­tel bereitgestellt wurden, um die Bedürftigen zu versorgen (Apg 2,45; 4,34 f.): Einen ähnlichen – freiwilligen! – sozialen Ausgleich kennt etwa auch Paulus (vgl. Pesch 1986, 188).

Diese beiden Stellen aus der Apg gaben auch weiterhin christlichen Theologen zu denken, nicht nur bezüglich der Frage nach dem Umgang mit Bedürftigen, sondern auch nach dem rechten Umgang mit dem Eigentum: Ist Christen Privateigentum erlaubt? Inwieweit hat Eigen­tum dem Gemeinwohl zu dienen (vgl. ebd. 188–190)?

Mit dem Christentum als Massenbewegung und schließlich als Staats­religion wurde das Ideal der Gütergemeinschaft zu einem Modell ins­besondere für klösterliche Gemeinschaften (vgl. ebd. 190–192). So nimmt z. B. die Benediktsregel die Apg teilweise wörtlich auf: „‚Alles sei allen gemeinsam‘, wie es in der Schrift heißt, damit keiner etwas als sein Eigentum bezeichnen oder beanspruchen kann. […] Man halte sich an das Wort der Schrift: ‚Jedem wurde so viel zugeteilt, wie er nötig hatte“ (Regula Benedicti 33,6; 34,1).

In der Neuzeit wurde die urchristliche Gütergemeinschaft immer wieder zum Vorbild für sozialutopische Entwürfe. So betonte Martin Luther gegen die „Schwärmer“ die Freiwilligkeit des apostolischen Modells (vgl. Pesch 1986, 192). „Im 19. Jh. haben sich dann die Utopis­ten und Sozialisten des in der Apostelgeschichte gezeichneten Bildes bedient und die Praxis der Urgemeinde als ‚Kommunismus‘ interpre­tiert“ (ebd. 193).

Auch heute noch kann die Jerusalemer Urgemeinde Gemeinschaften mit christlichem Hintergrund als Vorbild dienen. So schreiben etwa die „Zwölf Stämme“ über sich selbst: „We follow the pattern of the early church in Acts 2:44 and 4:32, truly believing everything that is written in the Old and New Covenants of the Bible, and sharing all things in common“ (The Twelve Tribes 2018; vgl. dazu Pöhlmann/Jahn 2015, 441 f.).

Die politische Dimension des christlichen Armutsideals

Eine Forderung wie die in Mt 19,21, alles zu verkaufen und den Armen zu geben (und dann Jesus nachzufolgen), ist natürlich bestens geeignet, dem Einzelnen zu denken zu geben und eventuell ein schlechtes Gewis­sen zu machen (wenn man sie nicht gnadenlos entschärft, wie es gerade in der protestantischen Auslegungsgeschichte der Fall war; vgl. Luz 1997, 134–136). Doch sind Armut und Reichtum nicht nur individual­ethische Herausforderungen.

Auswirkungen biblischer Armutstexte und christlicher Armutslehren auf Politiken finden wir, seit Christen in der Politik etwas zu sagen hat­ten – man denke nur an obrigkeitlich organisierte Armenfürsorge. Doch erschöpft sich ein biblisch inspirierter Umgang mit Armut nicht zwangsläufig in Almosen, in paternalistischer Wohlfahrt oder in an die Armen selbst gerichtete Ermahnungen. (Freilich kann Michaela Collinet für die katholische Verkündigung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­derts noch deutlich die Tendenz feststellen, Armut als überwiegend selbstverschuldet darzustellen [vgl. Collinet 2015].)

Die gesellschaftlich-systemischen Ursachen und Bedingungen von Armut und die Notwendigkeit einer christlichen Sozial- und Gesell­schaftsl­ehre gerieten erst allmählich ins kirchliche Bewusstsein; erinnert sei an das Erscheinen der ersten Sozialenzyklika Rerum novarum im Jahr 1891.

Noch einmal in verschärfter Weise tritt die Kritik an ungerechten Struk­turen in der Befreiungstheologie hervor. Mit „Befreiung“ wird hier ein biblisches Motiv prominent aufgegriffen, das in der Heiligen Schrift eng mit dem Blick auf die Armen und Unterdrückten verbunden ist (man denke nur an die Exodus-Erzählung!). Diese werden in der „Option für die Armen“ geradezu zu einem locus theologicus, und sie werden nicht länger als Objekte, sondern als Subjekte gesehen (vgl. Kruip 2018). Aller­dings wird in der Befreiungstheologie die „traditionelle“ Reihenfolge umgedreht: Nicht irgendwelche aus der Bibel herausgegriffenen Wei­sungen werden mehr oder weniger neu kontextualisiert auf die Armut in der Gegenwart angewendet, sondern eine Analyse der geschicht­lichen, politischen und sozialen Verhältnisse (unter Einbeziehung marxistischen Gedankenguts) geht einer Befragung der Bibel voraus (vgl. Kramer 1990, 99).

Heute ist die Option für die Armen nicht nur in einer regionalen (latein­amerikanischen) Theologie beheimatet, sondern zu einem Gemeingut für die gesamte Kirche geworden. Theologen und kirchliche Mitarbeiter analysieren zusammen mit säkularen Wissenschaftlern die Situationen der Marginalisierten und die Strukturen von Unterdrückung und Aus­beutung – und suchen nach konkreten Lösungen, die häufig nicht oder nur noch zusätzlich auch religiös begründet werden.

Und doch bricht immer wieder die inspirierende Kraft der Bibel durch, ohne die christliches Handeln nicht auskommt. Papst Franziskus betont in Evangelii gaudium: „Für die Kirche ist die Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie und erst an zweiter Stelle eine kulturelle, soziologische, politische oder philosophische Frage“ (EG 198). Und dass dies nicht nur eine fromme Behauptung ist, sondern gelebte Spiritualität, zeigt sich im vierten Kapitel seines Schreibens – „Die soziale Dimension der Evangelisierung“ (EG 176–258) – ganz deutlich, wenn er zunächst breit auf das Zeugnis der Schrift eingeht: wie Gott die Not der Armen hört, wie er den Menschen zur Barmherzig­keit ruft, wie er sich gerade in Jesus Christus mit den armen Menschen verbindet: „Im Herzen Gottes gibt es einen so bevorzugten Platz für die Armen, dass er selbst ‚arm wurde‘ (2 Kor 8,9)“ (EG 197). Damit steht Papst Franziskus aber im Gefolge des 2. Vatikanischen Konzils, das die Kirche dann in der Nachfolge Christi sieht, wenn sie sich den Armen zuwendet (vgl. Lumen gentium 8).

Ein Fazit

Es gibt nicht den einen oder die wenigen Bibeltexte, die das Nachden­ken über Armut in der Kirchengeschichte bestimmt haben. Vielmehr sind die Sorge für das menschliche Wohl und in diesem Kontext ins­besondere die Zuwendung zu den Armen, Hilfsbedürftigen und Unter­drückten sowie soziale Gerechtigkeit und schließlich auch Befreiung durchgängige Themen der Bibel, die als Gesamt das christliche Denken prägten und bis heute prägen.

Weiterhin wird in der kirchlichen Praxis und Lehre oftmals weniger direkt auf die Bibel zurückgegriffen, sondern mehr auf kirchliche Traditionen und Theologien. So kommt die Bibel nur indirekt in den Blick. Dennoch gibt es Bibelstellen, die allen exegetischen Domestizie­rungsversuchen zum Trotz ihren Stachel behielten und immer wieder Menschen neu und radikal herausforderten (z. B. die Aussendungsrede oder die Aussagen zur Gütergemeinschaft der Urgemeinde).

Und schließlich war der Umgang mit Armut und den Armen auch in den sich als christlich verstehenden Gesellschaften immer stark von säkula­ren Situationsanalysen und der Herausforderung durch konkrete Pro­blemstellungen geprägt, aber auch von Pragmatik und den eigennüt­zigen Interessen der Herrschenden. Das sozialkritische Potential bibli­scher Texte hatte es dabei schwer.

So traf auch der Aufschwung der Option für die Armen in den letzten Jahrzehnten nicht nur auf massive Widerstände (man denke nur an die vatikanische Kritik an der Befreiungstheologie oder die Ermordung des jüngst heiliggesprochenen Óscar Romero), sondern bezog ebenso we­sentliche Impulse aus Sozialwissenschaften und auch aus nichtchrist­lichen Philosophien (z. B. Marxismus). V. a. aber wird er von einem konsequent kontextuellen Theologietreiben befeuert, das die Armen nicht als Objekte, sondern als Subjekte ansieht. Dennoch: Wenn die Kirche sich nicht nur um das spirituelle Wohl ihrer Schäfchen kümmert, sondern zu sozialen Fragen und den Nöten aller Menschen offen ihre Stimme erhebt (vgl. dazu auch EG 182 f.), so ist gerade auch die inten­sive Auseinandersetzung in der Bibel mit Armut und Gerechtigkeit ein wesentlicher Motor dafür.

Des Weiteren ist bereits durch die Bibel ein ganz unterschiedlicher Blick auf Armut in der Kirchengeschichte vorgezeichnet: Es gibt sowohl die individuelle Begegnung mit Notleidenden, die an die Barmherzigkeit des Einzelnen appelliert (wozu auch die Kirche immer wieder ermahnt hat), als auch das politische Eintreten gegen Strukturen des Unrechts (das im letzten Jahrhundert einen neuen Aufschwung erlebt hat); wei­­terhin hat – wie die Bibel – auch das Christentum immer wieder an die Gefahren des Reichtums erinnert, der vom Nächsten und von Gott weg­führen kann; und schließlich kennt insbesondere die katholische Kirche auch die selbstgewählte Armut, um offen zu sein für einen besonderen Dienst vor Gott. Gerade die Geschichte der Bettelorden im Kontext der Armutsbewegung zeigt, wie biblische Aussagen zur Armut immer wie­der geistliche Neuaufbrüche mit befeuert haben.

Die Kirche kommt also um die Armut nicht herum – obwohl: Tendenzen zur Domestizierung biblischer Armutstexte wie auch Pragmatismus, Überheblichkeit und Bequemlichkeit, bei denen die Barmherzigkeit, das Sich-anrühren-Lassen von konkreter Not, in den Hintergrund trat, gab es immer wieder (und unter dieser Hinsicht wäre auch das massive „Outsourcen“ der Begegnung mit Armen an Caritas und Diakonie ein­mal kritisch in den Blick zu nehmen). Von daher sei daran erinnert, dass aus biblischer Sicht der Umgang mit Armut ein Prüfstein für wahres christliches Leben ist: „Wenn jemand die Güter dieser Welt hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Liebe Gottes in ihm bleiben?“ (1 Joh 3,17).