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„Was mein Leben bestimmt? Ich!“ Lebens- und Glaubenswelten junger Menschen heute

Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts (SI) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Nicht nur in der katholischen Kirche gab es 2018 eine Jugendsynode, auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) befasste sich mit diesem Thema: Die 12. Synode der EKD arbeitete auf ihrer fünften Ta­gung im November 2018 in Würzburg zum Glauben junger Menschen. Das Sozialwissenschaftliche Institut (SI) der EKD hatte im Vorfeld eine kleine Studie durchgeführt, in der Lebens- und Glaubenswelten junger Menschen im Alter von 19 bis 27 Jahren exploriert wurden.

Dazu wurden eine quantitative und eine qualitative Erhebung durchge­führt: Im Rahmen einer für Deutschland repräsentativen Online-Panel­befragung wurden 1.000 Männer und Frauen der besagten Altersgruppe danach befragt, wie sie ihre eigene Religiosität einschätzen, was ihr Le­ben am meisten bestimmt, in welche Zusammenhänge sie sich am stärksten eingebunden fühlen, was für sie besonders wichtig im Leben ist, wovor sie am meisten Angst oder Sorgen haben und welche Einstel­lungen sie zum Glauben und zur Kirche haben. Zu den gleichen Frage­stellungen wurden vier Gruppeninterviews im Rahmen von Fokus­gruppen durchgeführt, die mit sechs bis acht Teilnehmenden aus der Altersgruppe von 19 bis 27 Jahren in Frankfurt/M. und Leipzig statt­fanden. Die Teilnehmenden der Fokusgrup­pen waren konfirmiert, stan­den aber zur evangelischen Kirche in einer „freundlichen Distanz“, d. h. sie waren weder hochverbunden noch grundsätzlich ablehnend gegen­über der Kirche. An jedem Ort wurde eine Fokusgruppe mit Personen aus der Großstadt und eine mit Personen aus kleinstädtischem bzw. dörflichem Umfeld durchgeführt.

Die Altersgruppe der 19- bis 27-Jährigen macht 10 % der Gesamtbevöl­kerung Deutschlands aus. Sie gehört noch mehrheitlich (zu 74 %) einer Religionsgemeinschaft an: In der Repräsentativbefragung sind 33 % evangelisch, 28 % katholisch, 6 % muslimisch, 5 % gehören einer ande­ren christlichen, 2 % einer anderen nicht-christlichen Religionsge­meinschaft an, 26 % sind konfessionslos. Sie bezeichnen sich jedoch nur noch zu etwa einem Fünftel als religiös: 19 % stufen sich auf einer fünfstufigen Skala als religiös (15 %) oder sehr religiös (4 %) ein, 61 % dagegen als weniger religiös (24 %) oder gar nicht religiös (37 %). Bei den Evangelischen sind es 18 %, bei den Katholiken 21 %, bei den Mus­limen 58 % und bei den Konfessionslosen 3 %, die sich als religiös oder sehr religiös bezeichnen.

Sowohl die quantitative als auch die qualitative Erhebung zeigen, dass die jungen Menschen ihre Lebenswelt als recht eng beschreiben: Sie wird vor allem durch sie selbst, Familie und Freunde geprägt. „Ich selbst“ lautet mit 84 % die mit Abstand am häufigsten gegebene Ant­wort auf die Frage, wer oder was das Leben am meisten bestimmt. (Hin­­sichtlich dieser Frage gibt es einen statistisch signifikanten Unterschied zwischen denen, die sich als religiös bezeichnen [72 %], und denen, die sich als nicht religiös bezeichnen [87 %].) Am stärksten eingebunden erfährt man sich in die Familie (81 %) und den Freundeskreis (69 %); Vereine, die eigene Stadt, Kirchengemeinden oder politische Gruppie­rungen erreichen nur zwischen 12 und 3 %.

Die Autoren der Studie interpretieren dies so, dass die großen gesell­schaftlichen Trends der Individualisierung, Mobilität und Digitalisie­rung sich in den Äußerungen der Befragten niederschlagen. Die große Mehrheit der jungen Erwachsenen hat „die in ihrer prägenden Lebens­zeit kolportierte Botschaft, der Staat müsse sich zunehmend von vielen fürsorglichen Aufgaben lösen und so ein stärkeres individuelles, priva­­tes Engagement erforderlich machen, aufgenommen und nachhaltig verinnerlicht“ (36). Man empfindet sich als selbstbestimmt und in hohem Maße für sein Leben selbst verantwortlich. Eine hohe Selbst­wirksamkeit, also die Überzeugung, Schwierigkeiten im Leben aus eigener Kraft bewältigen zu können, bedeutet im Umkehrschluss, dass diejenigen Dinge am wichtigsten erscheinen, die man weniger selbst bestimmen kann: Auf die Frage, was einem besonders wichtig im Leben ist, werden an erster Stelle Familie (62 %), Gesundheit (58 %) und eine glückliche Partnerschaft (52 %) genannt. Entsprechend sind die am häufigsten genannten Ängste die vor einer schweren Krankheit (60 %), vor dem Verlust eines Familienmitglieds oder davor, im Alter nicht genügend Geld zur Verfügung zu haben (38 %); Ängste, die mit der gesellschaftlichen Situation zu tun haben, wie z. B. vor Krieg, Terror oder dem Klimawandel, werden deutlich seltener angegeben.

Dass die Angst vor Krankheit bzw. gesundheitlichen Einschränkungen und dem dadurch bedingten Angewiesensein auf andere die zentrale Sorge der jungen Erwachsenen ist, verweist auf zweierlei: Zum einen wird deutlich, dass die Befragten mit ihrer Lebenssituation so weit zu­frieden sind und sonst keine Entbehrungen kennen – nur Gesundheit wird als endliche Ressource wahrgenommen und eingeschränkte Ge­sundheit als Kontrollverlust empfunden. Zum anderen ist die gesell­schaftliche Perspektive zwar nicht verschwunden, aber sie hat doch deutlich an Bedeutung verloren. Kollektive Stützen jenseits der Familie gibt es kaum noch. Vielmehr erscheinen Familie und vielleicht noch der Freundeskreis als eine Art vergrößertes Ich. Der Trend der Individuali­sierung radikalisiert sich also noch einmal zur „Singularisierung“ (Andreas Reckwitz): Nicht mehr nur die Subjekte, sondern auch Dinge, Orte, Ereignisse, Projekte oder Gemeinschaften folgen nunmehr den Kriterien des Außergewöhnlichen und Einzigartigen.

Auch die Kirche wird nicht als gesellschaftliche Kraft wahrgenommen, die etwa Toleranz und gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern könn­te. Überhaupt bieten Kirche und Religion den Befragten mehrheitlich wenig Anknüpfungspunkte in ihrem derzeitigen Leben. Die Autoren resümieren: „Kirche muss sehen, dass die Gruppe der jungen Erwach­senen eigentlich so gut wie nichts mehr von ihr erwartet“ (36). In den Fokusgruppen (an denen, wie gesagt, Konfirmierte mit freundlicher Distanz zur Kirche teilnahmen) zeigt sich bei der Frage nach dem eige­­nen Glauben noch eine stärkere christliche Verankerung, die häufig durch die Familie geprägt ist. Doch bleibt dieser Glaube eine innere Angelegenheit: „[E]s findet so gut wie kein Austausch über den eigenen Glauben statt. Er zeigt sich im ‚Selbstgespräch‘: in Gebeten und dem Nachdenken über religiöse Themen. Er wird nicht öffentlich“ (35).

Im Rahmen der quantitativen Studie zeigen diejenigen, die sich selbst als religiös einschätzen, einen positiveren Bezug zu Glauben und Kirche und eine wertschätzendere Haltung gegenüber der Kirche als Institu­tion. In den anderen hier beschriebenen Dimensionen unterscheiden sie sich in ihren Antworten jedoch nicht wesentlich von den weniger oder nicht religiösen Befragten. Zusammenfassend stellt die Studie fest, dass wir es mit den jungen Erwachsenen zwischen 19 und 27 mit einer nach­christlichen Generation zu tun haben, die fast alle Brücken zur Kirche abgebrochen hat. Religiöse Kommunikation verläuft in dieser Alters­gruppe, wenn überhaupt, höchst selbstreferentiell – sie ist immer weniger allgemein plausibel und braucht gegenseitige Bestätigung.

Kirchlicherseits muss man also realistischerweise anerkennen: „Folglich muss der christliche Glaube – und seine Agentur, die Kirche – seine Fremdheit in dieser Generation wahr- und annehmen. Es ist eine – viel­leicht die erste – wirklich postchristliche Generation. Gott ist weitge­hend verschwunden. Und es ist nicht nur vergessen, dass man ihn ver­gessen hat: Es hat sich ein anderer Gott auf den Thron gesetzt: ‚Ich weiß nicht, ich würde mich vielleicht selber an die Stelle von Gott setzen‘“ (40 f.). Kirche als Organisation – evangelisch wie katholisch – hat somit nicht nur ein Nachwuchsproblem, sondern vor allem auch ein Relevanz­problem: Sie muss die Bedeutung der von ihr zu verkündenden Bot­schaft im Kontakt mit den unterschiedlichen Generationen immer wie­der neu kommunizieren lernen, denn: „Es gibt keine außerreligiösen Gründe mehr, religiös zu sein“ (Niklas Luhmann).

Endewardt, Ulf/​Wegner, Gerhard, „Was mein Leben bestimmt? Ich!“ Lebens- und Glaubenswelten junger Menschen heute (SI aktuell), Hannover 2018.