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Synodalität als Grundwort kirchlicher Transformation

„Die Welt, in der wir leben und die in all ihrer Widersprüchlichkeit zu lieben und ihr zu dienen wir berufen sind, verlangt von der Kirche eine Steigerung ihres Zusammenwirkens in allen Bereichen ihrer Sendung. Genau dieser Weg der Synodalität ist das, was Gott sich von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet.“

Papst Franziskus, Ansprache am 17. Oktober 2015 zur 50-Jahr-Feier der Errich­tung der Bischofssynode

Eine Tagung der Deutschen Bischofskonferenz, des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und der Akademie Wolfsburg in Mülheim am 1. und 2. September befasste sich mit der Bedeutung von Prozes­sen der Partizipation in der Weiterentwicklung von Pastoral und Kirche auf verschiedenen Ebenen.

Wie können in der Komplexität und Heterogenität postmoderner Le­bens­entwürfe kirchliche Prozesse gestaltet werden, die die Lebens­wirklichkeit(en) und die christliche Glaubenspraxis neu miteinander in Beziehung setzen? Aktuelle Bistumsprozesse und der bundesweite Ge­sprächsprozess „Im Heute glauben“ wurden daraufhin angeschaut, ob in ihnen nicht nur ein In-den-Griff-Bekommen institutioneller kirchlicher Strukturen, sondern vielmehr eine Kontextualisierung und Anknüpfung christlichen Lebens und Glaubens an die realen Bedingungen in verän­der­ter Gegenwart erreicht wird. So wies der Direktor der Akademie, Michael Schlagheck, schon am Anfang auf Vertrauen und freie Rede als Voraussetzungen für Diskurse (John Rawls) hin, die verhindern sollten, dass Kirche zum Sammelbecken modernitätskritischer Zeitgenossen mutiert. Die Ermutigung von Papst Franziskus, eher Prozesse zu gestal­ten als Räume zu besetzen, führt dazu, angesichts von Dezentralisierung und Pluralität als Kirche neue Entdeckungen zu machen.

Dialogprozesse praktisch

Als dann verschiedene Dialogprozese reflektiert wurden, war der Hörer doch überrascht, wie sie sich in der Regel zumeist „binnenkirchlich“ entwickelten. Beim bundesweiten Gesprächsprozess der Bischofskon­ferenz merkte Ralph Poirel, Leiter des Bereichs Pastoral im Sekretariat der deutschen Bischofskonfe­renz, an, dass nach anfänglichen Debatten darüber, wer Struktur und Themen bestimmen solle, die Einführung einer Partizipandengruppe die Gesprächskultur verändert habe. Nach Bischof Franz-Josef Overbeck, Mitglied in der Steuerungsgruppe, war es wichtig, auf Verrechtlichung und endlose Verfahrensfragen zu verzich­ten. So konnten Argumente, nicht Strukturen oder „Blöcke“ aufeinan­der­treffen und Differenzierungen vorgenommen werden. In diesem Pro­zess sei eine vielfältige Kirche deutlich geworden, die man hinterher nicht wieder „einfangen“ oder „in die Kiste zurückdrücken“ könne. Der Bistumsprozess in Paderborn hatte laut dem Verantwortlichen, Michael Bredeck, zuerst keine dezidierte Planung. Dass ein „Zukunftsbild“ in 2014 entstehen würde, ebenso Formate wie eine Pastoralwerkstatt, auf die sich dann im Laufe des Prozesses Schritt für Schritt auch leitend Ver­antwortliche des Bistums einlassen konnten, zeigt, was ein vertrauens­voller Weg bewirken kann. Dennoch sei es insgesamt zu wenig gelungen, katholische „Fremdpropheten“, geschweige denn die Perspektive, „wie die Welt auf Kirche blickt“, in den Prozess hineinzubekommen. Auch ein strukturierter Austausch über die Erfahrungen sei weitgehend ein Desi­de­rat geblieben. Elisabeth Neuhaus, Leiterin des Seelsorgeamtes des Bistums Dresden-Meißen, warnte davor, nicht einem Strukturreflex zu erliegen. Die Struktur folge dem Inhalt, daher sei es wichtig, solche Pro­zesse tatsächlich und nicht nur vorgeblich als geistliche anzulegen. Der „Erkundungsprozess“ auf dem Wege zu „Verantwortungsgemeinschaf­ten“ im Bistum Dresden-Meißen zeigte, dass Partizipation auf verschie­denen Ebenen oft weder erwartet wird, theoretisch erfasst noch prak­tisch eingeübt ist.

Michael Dörnemann sprach für das Bistum Essen davon, dass nach ei­nem „aufgedrückten“ Strukturprozess ein inhaltlicher Prozess im Bis­tum eingefordert wurde (Auf!RuhrBistum). „Zukunft auf katholisch“ (Dialogveranstaltungen mit Bischof, Bistumsforen) half dann zunächst, Frust abzulassen. Aber auch Dörnemann beklagte die Binnenorientie­rung: „Am Ende waren wir mit dem ‚Kernbereich‘ unter uns, manche bunten Vögel sind weggeblieben.“ Wichtig sei der Dialog mit den Hauptberuflichen, die oft wenig Interesse an Veränderung hätten. Ergebnis des Essener Prozesses sind eine inhaltliche Orientierung am „Zukunftsbild“ für Pfarreiveränderungsprozesse und erste Versuche, neue Formen von Verantwortung und verschiedene Modelle von Kir­che-Sein vor Ort auszuprobieren. Eine Streitkultur, in der man Dissense stehen lassen kann, musste sich erst entwickeln.

Der Sekretär der Trierer Synode, Christian Heckmann, zeigte, dass bei der Zusammensetzung entscheidend ist, wie man das „Wir“ von Kirche versteht. So wurde z. B. anfangs gefordert, dass als Synodale/r nur teil­nehmen darf, wer jeden Sonntag in den Gottesdienst geht. Es müssen also solche Fragen beantwortet werden: Wer soll sinnvollerweise partizi­pieren, welche Sichtweisen will man dabeihaben? Die Synode sollte eine „heilsame Verunsicherung“ sein, ein „Störfaktor“, bei dem man nicht zu­rückgreift auf das, was war, oder die Wiederherstellung eines vorheri­gen Zustandes anstrebt. Vielmehr ist ein Austausch der Vision(en) von Kirche wichtig: Wie können Menschen heute als Christen leben? Die er­lebte Sozialform ist am Ende, wichtig ist die zukünftige Art und Weise der Kommunikation des Evangeliums, dabei gibt es – so zeigte es sich – keine einfachen Antworten.

Partizipation, Subsidiarität und Synodalität – fachwissenschaftliche Impulse

In einem zweiten Teil kamen Vertreterinnen und Vertreter von Fachwis­senschaften zu Wort. Bischof Overbeck wies auf die erlebte Veränderung der kirchlichen Kommunikationsmöglichkeiten hin, was Information, Mit­teilung und Verstehen betrifft. In dem Spannungsfeld von Aggiorna­men­to und Identität ist die Weltgesellschaft Schauplatz und Material der kirchlichen Bewährung. Kirche, so Overbeck, müsse Ambivalenz und Komplexität verarbeiten helfen, indem sie Nicht-Übereinstimmung in sich aufnimmt. „Wollen wir das Unsrige normativ wiederholen“, so fragte der Bischof herausfordernd, „oder eine lernende Organisation sein?“ Wenn die Kirche Resonanz und Relevanz (wieder‑)gewinnen will, muss sie lernen, die Vielfalt von zeitgenössischen Formen von Ambiva­lenz zu erproben. Das Prinzip der Gradualität und das katholische Et-et (sowohl … als auch) sind Grundlagen des „gemeinsam und wechselsei­tig bezeugten Glaubens an Gottes Herrlichkeit in unserer Wirklichkeit“.

Als Sozialethikerin betonte Marianne Heimbach-Steins den Zusammen­hang von Subsidiarität und Partizipation. In der Wechselseitigkeit von Welt und Kirche bzw. Kontextualität können Umsetzung und Aneignung von Glauben nicht als Anwendung eines „von oben“ kommenden Prin­zips (i. S. v. Abtretung oder Delegation), sondern nur als kreativer Pro­zess gestaltet werden, in dem die lokale Kirche Verantwortung für die Angelegenheiten vor Ort trägt. Analog zum Subjektcharakter der Gesell­schaft in den Strukturen von Mitgestaltung und Beteiligung versteht sich auch die Kirche als ein in sich plurales Subjekt. Das „Wir“ der Ämter und Charismen (das „Wir“ der Getauften; Taufe eröffnet theologisch Beteili­gungsrechte) verschränkt sich mit den gesellschaftlichen „Wirs“. Daher sind Aufeinander-Hören und freie Rede unabdingbare Voraussetzung für Partizipation. Subjektsein bedeutet Ernstnehmen von Verantwor­tungs­fä­higkeit der Person, dialogische Freiheitsverwirklichung, Anerkennung von Beteiligten als Verantwortungsträger und Teilung von Macht (!) als notwendiges Wahrnehmen von Institutionenhandeln. Nicht nur konsul­tiert, sondern an Entscheidungen beteiligt zu werden, ist nicht nur eine Organisationsfrage, sondern hat eine geistliche Dimension in der Unter­scheidung der Geister durch den Glaubenssinn des Gottesvolkes. Syno­dalität ist daher kein Selbstzweck, sondern ist eingebettet in die Frage: Wohin sind wir gemeinsam unterwegs? Und damit ein konstitutives Mo­ment am evangelisierenden Sendungsauftrag der Kirche.

Michael Böhnke, Systematiker und Kirchenrechtler, zitierte den ehema­li­gen Bischof Klaus Hemmerle: „Das Kirchenrecht soll das sicherstellen, was die Pastoral erfordert.“ Nach Böhnke gibt es verschiedene Arten von Autoritätsausübung als Verfassungsprinzipien der Kirche: monarchisch, kollegial, synodal, subsidiär. Oft werde nur das erste ausgespielt, dabei wird der Reichtum des Erfahrungsschatzes nicht mehr in Anspruch ge­nommen. Eine Synode ist nach Böhnke ein liturgischer Akt als fragender und suchender Glaubensakt, verbunden mit der Bitte um Gottes Geist. Ein synodaler Weg zeigt sich so als ein Ringen um eine angemessene Gestalt von Glaube, Hoffnung und Liebe im Vertrauen auf die verheiße­ne Treue Gottes, die je größer ist und auf die Menschen zukommt. Glau­bensinhalt und Glaubensakt sollen im synodalen Prozess zusammen­­ge­bracht werden. Man könnte daher eine Synode abhalten, um das Un­gleich­gewicht der Autoritätsausübungen zu beseitigen, um eine Synthe­se von Inhalt und Akt des Glaubens herzustellen. Oft machen ja Men­schen die Erfahrung, dass das Leben aus der Kirche schwindet, die Insti­tutionen aber ‚leer‘ weiterarbeiten. Böhnke votierte für Synodalität als fortlaufenden Prozess, der nicht allein mit einer einzigen Synode erfüllt sei. Inhaltlich ist es wichtig, im Feld des Unklaren, Ungewissen und Dif­fu­sen zu erleben, wie ambiguitätstolerant der Glaube ist, also: wie er sich vielfältig ausdrücken und ausprägen kann. Hierbei sei das subsidiäre Handeln der Hierarchie gefordert. Die Überlegungen von Böhnke ende­ten mit der Frage, ob nicht angesichts dessen auch die Verfahren der Bischofswahl stärker synodal verfasst sein müssten.

Thomas Suermann beleuchtete die Thematik aus betriebswirtschaft­li­cher Perspektive. Bei strategischen Veränderungsprozessen von Unter­nehmen gebe es üblicherweise zwei Alternativen: Top-down-Strategien und Zentralisierung wegen des Rückgangs der Ressourcen oder anderer­seits Bottom-up-Stra­tegie und Dezentralisierung, weil ein Unternehmen sich neu erfinden muss (Innovation). Das Problem ist, dass die Kirche in beidem steckt: Sie muss sich neu erfinden in einer Situation von zu­rückgehenden Ressourcen. Insgesamt weicht in der Wirtschaft die Top-down-Stra­tegie einer subsidiären Sichtweise mit eigenen dezentra­len Verantwortungsbereichen. Aufgabe der Zentrale ist die Überwa­chung und Aufsicht, strategische Gesamtplanung sowie die Bereitstel­lung zentraler Infrastruktur. Führung hat die Aufgabe, Ressourcenver­teilung vorzunehmen, Anwalt des Ungehörten, Konfliktmanager und Schlichter, inhaltlicher Impulsgeber zu sein. Die Führung trägt die Verantwortung dafür, dass eine Organisation in diesem Sinne eine bewegliche ist.

Partizipation und Inklusion ermöglichen

Aus der Sicht der Organisationsentwicklung verstärkte Benedikt Jürgens vom Bochumer Zentrum für angewandte Pastoralforschung (ZAP) diese Linie. Erfolgsfaktoren für Beteiligung in der Demokratie sind Zielklar­heit, Repräsentativität (bei Meinungsbildung) und Legitimität (bei Ent­scheidung) sowie Motivationsanreize für Teilnehmer. Entscheidend tra­gen ebenso transparente Kommunikations- und Entscheidungsprozesse (Wo werden Ergebnisse eingespeist?) und Empowerment, also Ermuti­gung, zum Erfolg von gesellschaftlichen Beteiligungsprozessen bei. Wäh­rend in der Gesellschaft die nicht beteiligten Bürger als „Wutbür­ger“ protestierten, würden nicht-beteiligte Menschen in der Kirche diese eher verlassen. Jürgens warb für Anschlussfähigkeit (Übergabepunkte, Schnittstellen, „Projekte müssen wieder rein in die Organisation!“) und Relevanz (Medienresonanz/Kommunikation in der Öffentlichkeit). Seiner Meinung nach repräsentieren Hochengagierte und Professionelle nur eingeschränkt die Organisation, wenn die Enttäuschten nicht dabei waren. Er beklagte, es gebe zu wenig Zeit für echte argumentative Aus­einandersetzung, und fragte nach den Erwartungen an Harmonie und dem Bedarf an Konsens. Gegensätze müssten kommunikativ verarbei­tet werden.

Burkhard Neumann verortete den Themenbereich Synodalität in der Arbeit des Arbeitskreises Pastorale Grundfragen des ZdK. Angesichts universalkirchlicher Reservierungen bei bestimmten „Reizthemen“ fragte er, was die Bischöfe dazu beitrügen, bestimmte Themen tat­säch­lich in den weltkirchlichen Diskurs hinein zu kommunizieren, und for­derte Transparenz der Entscheidungswege auch auf weltkirchlicher Ebene ein. Angesichts vieler konfliktiver Themen warb er dafür, den geschichtlichen Weg der Kirche und die Vorläufigkeit ihrer gesell­schaft­lichen Gestalt ernst zu nehmen. Kann man mit der Verabschiedung einer Vision von einer „harmonischen“ Kirche möglicherweise anders mit Kon­flikten und ihren „Verlierern“ umgehen? Können Konflikte ange­nom­­men und ausgetragen werden in einer eschatologischen Hoffnung auf Versöhnung? Neumann wünschte sich die Demut von Menschen, die um die Begrenztheit der eigenen Position wüssten und ihre Meinung nicht verabsolutieren müssen. Er verwies auf Formen der geistlichen Entscheidungsfindung in der Tradition der Orden und auf das Hören auf das Wort Gottes, das auch durch den Anderen spricht.

Valentin Dessoy schließlich, Unternehmensberater, forderte die Kirche an der Schwelle zur nächsten Gesellschaft auf, ihre Binnenorientierung aufzugeben und die Grenzen durchlässiger zu gestalten. Kirche solle mit der Gesellschaft auf Augenhöhe kommunizieren. Es gehe nicht um das Erlauben einer Mitmach-Kirche, sondern um Inklusion statt Integration. Die Adressaten seien systemrelevant. Die Kirche müsse also ihre Bot­schaft von den Adressaten her denken und kommunizieren. Dazu benö­tige sie einen dauerhaft experimentellen Charakter, sie müsse sich von bisher maximaler Stabilität auf maximale Flexibilität und Bewegung umprogrammieren. Angesichts der großen pastoralen Einheiten gehe es darum, das Nebeneinander und Zueinander von lokalen dezentralen Kir­chenkulturen mit neuen Anschlussmöglichkeiten in einem Netzwerk zu moderieren. Die Rolle der Hauptberuflichen sei zukünftig nicht das ope­ra­tive Tagesgeschäft, vielmehr, zukünftig die Getauften in ihrem seel­sorglichen Tun und ihrem Leitungsdienst zu unterstützen, zu fördern und zu begleiten. Dazu brauche es stringent strukturierte, effizient mo­de­rierte und verbindlich vereinbarte Kommunikationsprozesse, um Divergenz und Konvergenz in guter Balance zu halten. Kirche als vitale Organisation benötige zukünftig gleichzeitig stärkere Führung (nicht im Sinne eines Top-down) und stärkere Partizipation. Angesichts einer im­mer noch monopolhaften Priesterfixierung warb Dessoy für eine neue differenzierte Rollenarchitektur, die den Akteuren vor Ort optimale Un­terstützung bietet. Die zentrale Organisationseinheit Bistum versteht sich nicht als Konzernzentrale (die steuert, reguliert und kontrolliert), sondern als Unterstützungssystem, das pastoralunternehmerisches Handeln ermöglicht und in Gang setzt.

Die Tagung machte deutlich, dass angesichts der gesellschaftlichen Pro­zesse der Vervielfältigung von Lebensbezügen keine Alternative zu einer Kirche besteht, die über möglichst viel Partizipation Pluralität positiv bearbeiten und so dem Evangelium vielfältige Resonanzen geben kann. Priorität hat der lokale, dezentrale Ausdruck des Evangeliums vor Ort. Dies geht nicht ohne neue Formen von Kommunikation und Leitung auf verschiedenen Ebenen. Gefragt ist Inklusion und Kommunikationskom­pe­tenz nach innen und außen und eine Verabschiedung eines gewissen Selbstvergewisserungsmodus. Die Frage der Synodalität knüpft also we­niger an die klassische Einforderung „demokratischer Mitbestimmung“ an, sondern stellt sich zukünftig vielmehr als der Weg dar, wie die Kirche ihre Sendung unter komplexen Bedingungen bearbeiten und realisieren wird können.