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Digitalisierung – eine Herausforderung für wertbezogene Bildung

Der Me­ga­trend Di­gi­ta­li­sie­rung lässt kaum ei­nen Le­bens­be­reich un­be­rührt und führt zu mas­si­ven und ra­san­ten Ver­än­de­run­gen, im Le­ben des Ein­zel­nen eben­so wie in ge­sell­schaft­li­chen und glo­ba­len Zu­sam­men­hän­gen. Zur Be­wäl­ti­gung der da­mit ver­bun­de­nen Her­aus­for­de­run­gen ver­weist An­dre­as Büsch auf die Be­deu­tung ei­ner um­fas­sen­den Me­di­en­bil­dung.

Eine Reihe Technik-induzierter Megatrends haben die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten entscheidend beeinflusst:

  • Digitalisierung, d. h. Umwandlung von analogen in digitale Daten,
  • Vernetzung, mit den Zwischenständen Web 1.0 (World Wide Web), 2.0 (Social Web) und 3.0 (Internet der Dinge; semantisches Netz),
  • Miniaturisierung, zugleich Voraussetzung für
  • Mobilität,
  • sowie Konvergenz von Medien, (Unterhaltungs‑)Elektronik und Haushaltsgeräten.

Der zweifelsfrei umfassendste Megatrend ist die fortschreitende Digi­tali­sierung, die längst über die Transformation von Daten hinaus massi­ve gesellschaftliche, d. h. rechtliche wie politische, aber auch ökonomi­sche und bildungsplanerische Auswirkungen hat. Denn Arbeit 4.0 in der Industrie 4.0 erfordert auch Bildung 4.0, die die qualifizierten Absolven­tInnen für das digitale Leben hervorbringen soll. Ob diese Neologismen immer gerechtfertigt oder wenigstens sinnvoll sind, sei hier dahinge­stellt: Sicherlich gibt es keine digitale Bildung, so wie es auch ihr ver­meint­liches Gegenstück, eine analoge Bildung, nicht gibt. Und der Be­griff der „digitalen Gesellschaft“ kann auch nur als verkürzendes Schlag­wort bewertet werden, dem ebenfalls das begriffliche Gegenstück fehlt, aus dem es evolutionär, kontrastierend oder disruptiv hervorgegangen ist.

1. Herausforderungen

Völlig unstrittig ist allerdings, dass Digitalisierung mit ihren zahlreichen Facetten immer mehr Bereiche des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens erfasst und damit tatsächlich ein Megatrend ist, der uns vor ge­wal­tige Herausforderungen stellt. Diese lassen sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – in einer Reihe von Spannungsfeldern thematisieren, die neben sozialen und rechtlichen sowohl ethische als auch religiöse Bezüge aufweisen.

1.1 Privatheit und Öffentlichkeit

Alle Medien sind ambivalent, können also sozial und konstruktiv genutzt werden – oder auch nicht. Das spezifische Problem der digitalen Medien ist die schiere Reichweite: Was einmal im Internet veröffentlicht ist, ist damit sofort weltweit öffentlich. Und wenn es einmal von Suchmaschi­nen erfasst und indiziert ist, lässt es sich auch nicht mehr einfach lö­schen. Diese Reichweite potenziert sich im Blick auf Social Media mit der Niedrigschwelligkeit ihrer Nutzung, die zudem dank mobiler Geräte jederzeit und überall möglich ist.

Damit ist unmittelbar die Frage gestellt, wie sich Privatheit in Social Media überhaupt entfalten kann – oder ob nicht nur noch Abstinenz entsprechend dem Gebot der Datensparsamkeit eine Lösung sein kann. Das Themenfeld Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung in Spannung zum menschlichen Grundbedürfnis nach Kommunikation wäre damit ein Ansatzpunkt für ethische Debatten.

1.2 Diskretion und Transparenz

Als quasi private Wendung folgt aus dem ersten bipolaren Spannungs­feld: Aus ethischen Gründen sollte ich nicht alles äußern, was ich äußern kann. Gerade angesichts der nahezu unbegrenzten Reichweiten unserer digitalen Äußerungen brauchen wir kommunikative Diskretion (vgl. DBK 2011, 41). Absolute Transparenz – ob unter dem Anspruch einer verabsolutierten Authentizität oder aufgrund des Rechts auf Information – birgt in sich die Gefahr der Unmenschlichkeit. Hinzu kommt das Pro­­blem, dass die Publikation von Inhalten durch Jedermann auch den Ver­lust journalistischer Qualität und damit die Verbreitung formal schlech­ter und sachlich ungenauer bis falscher Informationen bedeuten kann.

Diese ursprünglich professionsethischen Debatten der Journalistik be­tref­fen mittlerweile jeden, der an Social Media partizipiert, da in der Rolle des Prosumers die Verantwortung des Rezipienten mit der des Produzenten zusammenkommt.

Damit ergeben sich unmittelbar Anforderungen an eine umfassende Medienbildung, die immer auch eine normative und reflexive Kompo­nente haben muss.

1.3 Beziehung und Oberflächlichkeit

Bringen die sozialen Netze wirklich eine neue Qualität durch die Kombi­nation von „strong ties“ und „weak ties“? Oder sind die Nutzer am Ende „Verloren unter 100 Freunden“ (so ein Buchtitel von Sherry Turkle)?

Nicht erst seit Erfindung des Fax gibt es die Erwartung einer unmittel­ba­ren Reaktion des Kommunikationspartners; während der gesamten Ge­schichte der Medien ist mit jeder neuen Entwicklung die Geschwindig­keit der Kommunikation gestiegen. Und auch die Kürze und der Zwang zur Prägnanz sind kein genuines Merkmal der digitalen Medien – „Fasse dich kurz!“, hieß es früher in öffentlichen Telefonzellen. Mit SMS und davon abgeleiteten Tweets sowie Facebook-typischen Posts ist aber eine zwangsläufige Verkürzung gegeben, die eine tiefergehende Erörterung kaum zulässt; dafür gibt es wiederum andere Formate wie Blogs.

Die Form der Beziehungsbeschreibung – Freund, Follower u. a. – ist bei Social-Media-Diensten in der Regel immer binär, was einerseits dadurch die Beziehung zwischen Kommunikationspartnern determiniert und an­dererseits kaum in der Lage ist, die differenzierten zwischenmenschli­chen Kommunikations- und Interaktionsformen abzubilden. Auch die bei einigen Diensten gegebene Möglichkeit, „Listen“ zu bilden, impli­ziert einen im Alltag so nicht nötigen Zwang zur klaren Kategorisierung von Beziehungszuschreibungen.

Daneben steht die grundsätzliche Frage im Raum, welche Konsequen­zen für die Kommunikation und die Qualität von Beziehung soziale Me­dien haben – sofern damit tatsächliche Beziehungen außerhalb der Social Networks verdoppelt werden, können diese eine wertvolle Ergän­zung sein. Sobald ich aber reine Online-Kontakte eingehe, z. B. in beruf­li­chen Netzwerken als Kontakt eines Kontaktes, dürfte in der Regel eine deutlich oberflächlichere Beziehung vorliegen.

1.4 Inszenierung und Authentizität

Im Sinne einer Verantwortungsethik ist Authentizität in der digitalen Kommunikation unverzichtbar – andernfalls höhlen die Möglichkeiten der Täuschung und Inszenierung die Beziehung der sozialen Kommuni­ka­tionspartner aus. Andererseits ist ein Mindestmaß an Inszenierung üblich und notwendig; auch im „wirklichen“ Leben präsentiere ich je nach sozialer Situation bestimmte Anteile meiner Person und andere nicht.

Und auch die Authentizität der Kommunikation wird zwangsläufig se­lek­tiv sein müssen, denn alles andere hieße, sich – wie von den Vertre­tern der Quantified-Self-Bewegung gefordert – völlig transparent aus­zuliefern. Dieser Begriff bezeichnet summarisch alle Anbieter, Nutzer, Methoden, Geräte und Dienste, die v. a. personen­bezogene Daten auf­zeichnen und auswerten („self-tracking“; wörtl.: Selbstaufzeichnung in Zahlenwerten). Ziel ist eine umfassendere Kenntnis in Bezug auf den eigenen Körper, in der Konsequenz meist auch eine Optimierung des Tagesablaufs und Reduzierung negativer Faktoren wie Stress.

Die Grenze zur Selbstdarstellung als Primärtugend ist fließend, was für die Nutzer digitaler Kommunikationsmedien eine umfassende Medien­kompetenz notwendig macht, vor allem hinsichtlich Reflexivität und ethischer Bewertung kommunikativen Handelns.

1.5 Big Data: Komfort und Kontrolle

Der Reiz digitaler Medien wie des Social Web liegt in dem Mehr an Kom­fort, dass sie uns bieten: Ich muss mir keine Kontaktdaten wie Mail­adres­­sen oder Telefonnummern mehr merken – postalische Adressen sind für private wie dienstliche Kontakte quasi überflüssig geworden –, denn Facebook, WhatsApp und Co. „wissen“ ja, wer meine Freunde sind. Und bei einer Google-Suche brauche ich nicht mal die korrekte Schreibweise des gesuchten Begriffs zu kennen: Googles automatische Vervollständigung schlägt mir sofort Begriffe vor, die ich vielleicht ein­geben möchte, weil häufig nach ihnen gesucht wird.

In diesen und vielen anderen Fällen sind gesammelte Daten die Voraus­setzung für eine noch komfortablere Nutzung, die zudem scheinbar kostenlos ist. Die verdeckten Kosten bestehen aber in der Preisgabe meiner Daten: Mein Adressbuch wird von den Anbietern sozialer Netz­werke komplett eingelesen, um mir Freunde „vorschlagen“ zu können. Was immer ich bei Facebook einstelle, geht gemäß deren Geschäftsbe­dingungen in deren Eigentum über. Und Google „liest“ per Texterken­nung meine Mails mit, um mir noch passendere Werbung anzubieten.

Die Geschäftsmodelle fast aller Anbieter laufen darauf hinaus, aus der Datenauswertung Werbeangebote bzw. Hinweise auf Produkte plat­zie­ren zu können. Zusammen mit Bewegungsprofilen durch Nutzung von GPS-Daten oder Bekanntgabe von Orten, an denen Nutzer sich aufhal­ten, entstehen so sehr differenzierte Profile, die der Idee einer informa­tionellen Selbstbestimmung diametral widersprechen.

Und was in dem Film „Minority Report“ vor 14 Jahren noch schiere Fik­tion schien, ist seit Anfang letzten Jahres in Bayern und Baden-Würt­tem­berg unter dem Namen Precops Realität: die datenbasierte Progno­se, in welchen Gegenden wahrscheinlich ein Verbrechen stattfindet.

All diese Hinweise werden von Algorithmen produziert, die Informatio­nen aus bereits erhobenen Daten ausfiltern – und damit unsere Wahr­neh­mung lenken und letztlich unsere kommunikativen Möglichkeiten einengen: „In so einer Situation ist nur noch eine Freiheit von anderen möglich und kaum mehr eine Freiheit mit anderen“ (Filipovic 2013, 199).

Der Kontext dieses Spannungsfeldes ist die Frage nach der Freiheit von Kommunikation überhaupt. Für dieses in Deutschland grundgesetzlich verankerte Recht muss auch netzpolitisch gekämpft werden, um eine weitergehende Vorherrschaft kommerzieller Anbieter einzudämmen. Letztlich geht es um die menschliche Freiheit überhaupt – oder möchten Sie von Ihrer Versicherung eine bestimmte Lebensführung vorgeschrie­ben bekommen, da man Ihnen andernfalls aufgrund der Daten leider keine Versicherung anbieten kann?

1.6 Recht und Ökonomie

Für den Bereich der notwendigen rechtlichen Neuregelungen seien nur zwei Problemkreise angesprochen; auf die ebenfalls relevanten Debat­ten zu Netzneutralität, Vorratsdatenspeicherung, Safe-Harbor- und Freihandelsabkommen etc. kann aufgrund der gebotenen Kürze nicht eingegangen werden: Das Urheberrecht (UrhR) regelt die angemessene Vergütung kreativer Leistungen ab einer bestimmten Schöpfungshöhe. Abgesehen von der Frage, ob wirklich in allen Fälle die Künstler, Autoren etc. angemessen vergütet oder nicht doch primär Ansprüche von Verwer­tungsgesellschaften befriedigt werden, geben die Möglichkeiten digita­ler Kopien auch Anlass, die Fragen nach Kreativität und Gemeinwohl-Orientierung auch geistigen Eigentums neu zu stellen: Unter welchen Bedingungen sollten kreative Produkte wie Remixes, Mashups etc. mög­lich sein? Müsste das Zitatrecht nicht weiter gefasst werden, über den engen wissenschaftlichen Bereich hinaus, z. B. für (medien‑)‌pädagogi­sche oder andere nicht-kommerzielle kreative Projekte? Dies umso mehr, als alle Neuschöpfungen immer auf einem kulturellen Kontext basieren und insofern nur bedingt völlig originell sein können.

Ein breites Diskussionsfeld bietet seit Jahren auch der gesetzliche Ju­gend­schutz, der aufgrund gewachsener Strukturen und Zuständigkeiten immer noch nicht in der Lage ist, die Realität eines weltweiten Netzes in kohärenten Regelungen abzubilden. Unstrittig ist mittlerweile, dass auf­grund der Dynamik der Medienentwicklung rein technische Lösungen kaum ausreichen werden, sondern Jugendmedienschutz nur in Verbin­dung mit Medienbildung zu realisieren ist. Ob und wie dies zwischen Bund und Ländern in tragfähige Regelungen gegossen wird, bleibt abzu­warten; nach sechs Jahren Diskussion liegt seit 1. Oktober eine Neufas­sung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV) vor, der auf Län­derebene die sogenannten Telemedien (also Rundfunk und Internet etc.) behandelt. Das notwendige Gegenstück, das Jugendschutzgesetz (JuSchG), wird aber wohl in dieser Legislaturperiode nicht mehr neu verhandelt werden.

2. Konsequenzen

Zweifelsfrei bieten digitale Kommunikationsmedien und derzeit vor allem Social Media unschätzbare Möglichkeiten einer niedrigschwelli­gen Beteiligung aller am gesellschaftlichen Diskurs. Die Bedingungen dieser Möglichkeiten sind aber gleichzeitig auch die Schwachstelle, da soziale Netzwerke auch Raum für respektlose und entwertende Kommu­nikation (Stichworte: Hate Speech, Trolling, Cybermobbing) bieten. Inso­fern dabei bisweilen Straftatbestände berührt sind, müssen die gelten­den Regelungen des StGB konsequent angewandt werden – wozu es keinerlei Vorratsdatenspeicherung braucht.

Unterhalb dieser rechtlichen Grenzüberschreitungen bedarf es einer um­fassenden Medienbildung, die im Sinne kritischer Medienkompetenz auch eine Wertevermittlung beinhaltet, die Einzelne wie Gruppen zu einer tatsächlichen Partizipation in medialisierten Lebenswelten befä­higt. Denn die beste Prävention gegen Trolle und Hater im Netz ist im­mer noch Bildung, die Menschen zu einer individuell sinnvollen und sozial verantwortlichen Nutzung von Medien befähigt.

Diese Forderung nach Medienbildung richtet sich aber umso mehr an Mul­tiplikatorInnen, die in pädagogischen, sozialen oder pastoralen Hand­lungsfeldern tätig sind. Gerade hier gilt es, Schnittstellen zu sozialem und religiösem Lernen wahr- und ernstzunehmen und digitale Medien nicht wie Manfred Spitzer und Co. pauschal als Gefahr (vgl. Büsch 2012), sondern als Chance zum ästhetischen wie ethischen Lernen und zur kritischen Auseinandersetzung zu sehen.

Diese Haltung vertritt erfreulicherweise auch die Deutsche Bischofskon­ferenz, sowohl in ihrer medienethischen Impulsschrift (DBK 2011) als auch in dem jüngst erschienenen netzpolitischen Papier „Medienbil­dung und Teilhabegerechtigkeit“ (DBK 2016): „Der Beitrag der katholi­schen Kirche angesichts der Digitalisierung besteht daher in einem nach­drücklichen Eintreten für einen Wertediskurs und die Geltung rechtlicher sowie ethisch-moralischer Standards. Dazu gehören auch ihr Engage­ment für Teilhabegerechtigkeit, Medienbildung sowie einen zeitgemä­ßen Jugendmedienschutz.“

Denn Digitalisierung kommt mit allen Chancen und Herausforderungen in der Mitte der Gesellschaft an. Sie nicht ernstzunehmen, kommt ei­nem Kind gleich, dass sich die Augen zuhält, auf dass das Unerwünschte „weg sei“. Ob und wann dagegen diese Entwicklung (bildungs‑)‌politisch ein­ge­holt wird, liegt auch an uns.