Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept. Theologische und humanwissenschaftliche Erkundungen zu einer schillernden Kategorie
Man muss Authentizität nicht unbedingt gleich als „die derzeit global gängige ‚Leit-Währung‘ für soziales Prestige in Fragen von Identität und Identitätskommunikation“ (Christoph Niemand; 213) betrachten, um sie als wichtiges Kriterium für öffentliche Diskurse und persönliche Entscheidungen zu würdigen. Und man muss den vorliegenden Sammelband nicht gelesen haben, um sich bewusst zu sein, dass dieser Begriff schwer zu fassen ist und deshalb leicht zum „Gütesiegel“ ohne Substanz dahinter verkommt.
Dennoch – oder gerade deshalb – lohnt sich ein Blick in die Aufsätze, die auf die „Interdisziplinäre Forschungsgruppe Authentizität“ an der Katholischen Privat-Universität Linz zurückgehen. Auch wenn die theologischen Beiträge den Schwerpunkt bilden, so treffen hier doch in beeindruckender Weise kultur- und sozialwissenschaftliche sowie philosophische Perspektiven zusammen, die den Begriff Authentizität vielfältig ausleuchten oder sich ihm zumindest annähern. So gibt die Kunstwissenschaftlerin Barbara Schrödl zum Schluss ihrer Ausführungen offen zu: „Sie bleiben vage“ (60). Sie hatte der „neuen Sehnsucht nach Authentizität in der Mode“ (43) nachgespürt – was dem Band das einzige Bild bescherte, nämlich ein zur Handtasche umgewandeltes ausgestopftes Ferkel. Auch andere Beiträge kreisen eher nur um das Thema, so Heiner Keupps Gedanken zu verbreiteter Depressivität im Kontext einer Ökonomisierung des heutigen Menschen oder Hanjo Sauers Vorstellung von drei Schriftstellern der Romantik.
Offenbar lebt „Authentizität“ davon, dass sie vielfach weitgehend im Unbestimmten und Subjektiven verbleibt. Allerdings leisten andere Beiträge des Sammelbandes geradezu eine Systematisierung des Begriffes. Das beginnt schon mit den Ausführungen von Imelda Rohrbacher zur Entwicklung des Begriffes in Rhetorik, Literatur und Philosophie. Der Philosoph Michael Hofer stellt vergleichend zwei Modelle personaler Authentizität vor: das eher statische Kern-Modell, das auf die Entsprechung von Selbst und Erscheinung abhebt, und das dynamischere Projekt-Modell, das Authentizität identifiziert in der „Verantwortung, die man übernimmt für die Führung des eigenen Lebens“ (153), im „Treu-Sein zu dem, der man sein will“ (151). Und gerahmt wird der Band von Texten der Herausgeber, die – verbunden mit einigen eigenen Überlegungen – Erkenntnisse aus den einzelnen Beiträgen bündeln und zusammenstellen.
Dass Authentizität für die Theologie kein neues, aber ein immer wieder neu zu denkendes Thema ist, zeigt gerade der Aufsatz des Dogmatikers Franz Gruber zum „authentischen Lehramt“: Gruber entfaltet, wie weit modernes Denken und ein „klassisches“ Lehramtsverständnis voneinander entfernt sind, spürt aber auch Entwicklungen in jüngsten lehramtlichen Äußerungen nach und skizziert Ansatzpunkte für die Überwindung dieses Grabens. Ebenso hat die neutestamentliche Exegese ihre „klassischen“ Authentizitätsdiskurse, wenn sie nach der „Echtheit“ von Schriften (bzw. nach Pseudepigraphie) und nach dem historischen Jesus fragt. Gerd Theißen und Christoph Niemand führen in sich ergänzender Weise in neuere Entwicklungen der Forschung ein, in denen alte Positionen aufgebrochen werden.
Auch die Pastoral kann sich der Auseinandersetzung mit „Authentizität“ nicht entziehen, will sie nicht einen wesentlichen Aspekt der Selbstentwürfe heutiger Menschen ausklammern. Daran erinnert auch der Beitrag von Karl Gabriel: Seine kompakte Analyse der (auch religiösen) Individualisierung ist zwar nicht neu (wie nicht nur der Gebrauch des veralteten Begriffes „Jugendsekten“ [123] zeigt), aber skizziert deutlich die „Krise der katholischen Kirche im Zeitalter der Authentizität“ (128). Auch der spannende Artikel von Paul Eisewicht, Julia Wustmann und Michaela Pfadenhauer zu Szenen (Skater, Punks, Graffiti-Writer …) kann dafür sensibilisieren, wie sich heute in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen ganz eigene Regeln zur Aushandlung von Authentizität entwickelt haben, die kirchennahen Milieus oft völlig fremd sind. Was ist dann für ein authentisches Glaubenszeugnis in der modernen Gesellschaft zu beachten? In seinem soziologisch und theologisch gleichermaßen fundierten Beitrag hebt der Fundamentaltheologe Ansgar Kreutzer dafür drei Kriterien hervor: Situationsangemessenheit, die Herstellung eines „intimen“ Rahmens für Glaubenskommunikation sowie die Übersetzung von Glaubensbeständen in die „Kommunikations- und Handlungsformen anderer sozialer Systemsphären“ (302; im Original kursiv).
Praktisch orientiert sind dagegen die Ausführungen der Pastoraltheologin Hildegard Wustmans zu internationalen Freiwilligendiensten von kirchlichen Anbietern; dass dort junge Menschen wesentliche Erfahrungen für die Entwicklung einer authentischen Persönlichkeit machen können, ist zwar keine neue Erkenntnis, interessant sind aber ihre Reflexionen zu Heterotopien, zu Erfahrungen, die das eigene Denken nicht reformieren, sondern revolutionieren. So wie die Erfahrungen von Christenverfolgung in der ČSSR, die Ludmila Muchová in ihrem Beitrag aus eigenem Erleben schildert. Sie bereichert den Band durch eine ganz eigene (tschechische) Perspektive, aus der heraus auch das Authentizitätskonzept Charles Taylors, auf das erstaunlich viele der anderen AutorInnen Bezug nehmen, Kritik erfährt: Offenbar geht es für Muchová zu selbstverständlich vom Gegebensein menschlicher Freiheit (zur Selbstverwirklichung …) aus – wie sie etwa in einer Diktatur eben nicht gegeben war. Muchová macht dagegen Aspekte wie Verantwortung, Sinn, Opfer und Umkehr stark sowie eine nicht auf gesellschaftliches Funktionieren ausgerichtete Erziehung zur Verantwortlichkeit gegenüber allen Lebewesen und Gott – eine Perspektive der Authentizitätsentwicklung, die aber freilich nur in einem religionspädagogischen Kontext vermittelbar sein dürfte.
Insbesondere der Beitrag von Ansgar Kreutzer zum authentischen Glaubenszeugnis verweist auf die Relevanz heutiger Authentizitätsdiskurse für eine missionarische Pastoral. Der vorliegende Sammelband kann gerade in der Breite der Aufsätze für die Vielfalt der Verständnisse und Facetten von Authentizität sensibilisieren – und vielleicht auch dazu anregen, nicht unüberlegt und unbegründet das Prädikat „authentisch“ zu verleihen, das heute als wesentliches Qualitätskriterium dient, an dem auch Kirche gemessen wird, das aber zugleich auch in den allermeisten Fällen jeglicher Kontrolle auf Seriosität entbehrt.
Nicht alle Beiträge in dem Band sind gleichermaßen spannend zu lesen, je nach Interesse an Fachdiskursen wird man manches bereitwillig übergehen. Hervorzuheben ist aber das Verdienst der Herausgeber, die die Aufsätze übersichtlich geordnet und mit Einführung und „Nach-Gedanken“ (am Ende des Bandes) gerahmt und ein Stück weit bereits ausgewertet präsentieren.
Martin Hochholzer