Inhalt

Von Franziskus zu Marx

Zur Kapitalismuskritik in der Kirche des 21. Jahrhunderts

„Diese Wirtschaft tötet.“ – Mit diesem Satz in seinem Schreiben über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute (Evangelii gaudium) hat Papst Franziskus viele Menschen aufgeschreckt. Fernab aller Beschwich­ti­gungsversuche nimmt Philipp Geitzhaus ernst, dass die gegenwärtige Weltwirtschaftsordnung vielen Menschen Leid zufügt, ja sie gar um ihr Leben bringt und so der Freude des Evangeliums diametral entgegensteht. Auf der Suche nach Alternativen begibt er sich auf die Spuren des Papstes und deutet, welche Art von Mission aus seiner Prophetie folgen könnte.

Einleitung

Im Juli 2015 lud Papst Franziskus VertreterInnen sozialer Bewegungen aus der ganzen Welt nach Bolivien ein, um mit ihnen über die Lage der Welt und die Themen, Hoffnungen und Probleme dieser Bewegungen zu diskutieren. Wie zu erwarten, verurteilte der Papst auch dort aufs Schärfs­te den Kapitalismus und er machte klar, dass es ihm dabei nicht um die Bekämpfung einzelner Probleme gehe, sondern er die System­frage stelle: „Wenn das Kapital sich in einen Götzen verwandelt und die Optionen der Menschen bestimmt, wenn die Geldgier das ganze sozio-ökonomische System bevormundet, zerrüttet es die Gesellschaft, ver­wirft es den Menschen, macht ihn zum Sklaven, zerstört die Brüderlich­keit unter den Menschen, bringt Völker gegeneinander auf und gefährdet – wie wir sehen – dieses unser gemeinsames Haus, die Schwester und Mutter Erde. […] Erkennen wir, dass dieses System die Logik des Gewinns um jeden Preis durchgesetzt hat, ohne an die soziale Ausschließung oder die Zerstörung der Natur zu denken? Wenn es so ist, dann beharre ich darauf – sagen wir es unerschrocken –: Wir wollen eine Veränderung, eine wirk­li­che Veränderung, eine Veränderung der Strukturen. Dieses System ist nicht mehr hinzunehmen; die Campesinos ertragen es nicht, die Arbei­ter er­tra­gen es nicht, die Gemeinschaften ertragen es nicht, die Völker ertra­gen es nicht … Und ebenso wenig erträgt es die Erde, ‚unsere Schwester, Mutter Erde‘, wie der heilige Franziskus sagte“ (Franziskus 2015). Und als Träger für diese Veränderungen nannte Papst Franziskus vor allem die sozialen Bewegungen.

Diese Sichtweise auf die gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die Wahl der GesprächspartnerInnen ist ein kirchengeschichtliches Novum. Wer­den die meisten Bewegungen von den Regierungen doch meistens als Chaoten oder gar Terroristen diffamiert. Und genauso auffällig ist die Wahl des Analyseinstruments: Begriffe wie „Kapital“, „Götze“, „Sklave­rei“ verknüpft man eher mit der Befreiungstheologie als mit einem Papst.

Die scharfe Kapitalismuskritik von Franziskus sowie seine Forderung nach einem Systemwechsel laden ein, über Alternativen nachzudenken bzw. sich mit Konzepten alternativer Ökonomien auseinanderzusetzen. Und insofern es sich bei Franziskus’ Analyseinstrument um ein – kirch­lich gesehen – untypisches handelt, lohnt es sich auch hier, den Hinter­grund seiner Kapitalismuskritik intensiver zu beleuchten.

Krise und Neoliberalismus

„Die Welt ist keine Ware“: Das war einer der zentralen Slogans der Anti­globalisierungsbewegung (bzw. der globalisierungskritischen Bewe­gung) in den ersten zehn Jahren dieses Jahrhunderts. In dieser Zeit ent­stand nicht nur ein verstärktes Bewusstsein dafür, dass die Welt eine ist, in dem doppelten Sinne, dass wir es nicht mit unabhängig voneinander agierenden Teilen zu tun haben und, durch die Klimabewegung aufge­zeigt, dass wir auch nur diese eine Welt haben und diese Welt der Nut­zung und Ausbeutung der bestehenden Ressourcen somit natürliche Grenzen setzt („Grenzen des Wachstums“). Der berühmte Soziologe Jean Ziegler verkündete auch immer wieder den provokativen Satz, mit dem er die herrschende Barbarei schonungslos auf den Punkt brachte: „Die Weltlandwirtschaft könnte problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren. Das heißt, ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermor­det“ (sinngemäß etwa nach Ziegler 2006, 30).

Die Situation hat sich verändert, auch wenn sie heute keine grundlegend andere ist als damals. Zwar kam es zu einem großen Finanzcrash 2008, der auch sofort seine sozialen und politischen Folgen spüren ließ, zu ei­nem grundlegenden Umdenken ist es aber nicht gekommen. Die politi­sche und ökonomische Reaktion auf die Wirtschaftskrise hat vielmehr gezeigt, dass dieses System durchgesetzt werden muss, koste es, was es wolle. Trauriges Beispiel ist Griechenland, wo trotz Widerstand, Wahlen, Selbstorganisation und Volksabstimmungen die Forderung nach Spar­maß­nahmen seitens der EU-Kommission, der deutschen Bundesre­gie­rung und des Internationalen Währungsfonds durchgesetzt wurde (vgl. Hinkelammert 2015). Das, was sich verändert hat, ist die Erkenntnis vieler Menschen, nicht nur in Griechenland, wie vehement Sparmaß­nah­men und Strukturanpassungsprogramme angewendet werden. Oder anders formuliert: In diesen Jahren konnte man erfahren, wie sich das sogenannte TINA-Prinzip (There is no alternative) des Kapitalismus neo­liberaler Prägung durchsetzt. Möglicherweise ist das auch ein Grund da­für, dass der Blick für die eine Welt und ihre Zusammenhänge verstellt ist, da viele Menschen von ihren unmittelbaren Sorgen, Stress und Nö­ten (verständlicherweise) eingenommen sind.

Das, was sich aber nicht verändert hat: Die Welt ist immer noch eine Ware, das heißt, sie wird in Wert gesetzt.

Diese Darstellung der Situation ist kein Commonsense (in Deutschland), auch wenn die Wirtschaftskrise seit 2008 viele Menschen am Kapitalis­mus hat zweifeln lassen. Sie ist eine parteiliche Darstellung, parteilich für diejenigen, die in diesem System leiden, und vor allem für diejeni­gen, die über keine Lobby verfügen, ihre (lebens-notwendigen) Bedürf­nisse prominent zu äußern.

Alternativen

Die Lebenssituation vieler Menschen sowie solche Äußerungen wie die von Franziskus: „Diese Wirtschaft tötet“, nähren die Suche nach Alter­nativen, und die Fülle an Krisen (Armut, Klima, Migration, Krieg usw.) fordert dazu auf, nach Zusammenhängen zu fragen, statt partikulare Lösungen anzubieten. Zu den profiliertesten Alternativen-Denkern bzw. „Change-Makern“ der Gegenwart in Europa (und weit darüber hinaus) gehört sicherlich Christian Felber mit dem Konzept der Gemeinwohlöko­nomie (GWÖ).

Die GWÖ wird als eine wirkliche Alternative zum gegenwärtigen Kapita­lismus verstanden. Ziel ist es, die Ökonomie nicht mehr als Selbstzweck zu begreifen, sondern als Mittel, das den Menschen dient, wozu sie am Wohl der Menschen, am Gemeinwohl, ausgerichtet sein muss. Was zum Gemeinwohl gehört, soll durch direkt-demokratische Bottom-up-Prozes­se entwickelt werden. Gleiches gilt für die wirtschaftlichen Rahmenbe­din­gungen: Wie hoch die Einkommen bzw. die Einkommensunter­schie­de liegen dürfen oder wie viele Stunden gearbeitet werden soll, wird über basisdemokratische Prozesse festgesetzt. Felber nennt diesbezüg­lich ein anschauliches Beispiel: Seiner Erfahrung nach würden die meis­ten Menschen das Höchsteinkommen bis zu zehnmal höher als den Min­destlohn ansetzen. Diese Einkommensspanne scheint vielen nachvoll­zieh­bar und akzeptabel zu sein. Unter gegenwärtigen Bedingungen, so Felber, beträgt das bekannte Höchsteinkommen in Deutschland das 6.000-Fache zum gesetzlich festgelegten Mindestlohn. In den USA ist es sogar das 360.000-Fache.

Obwohl mehrere Elemente diese GWÖ ausmachen, scheinen mir doch fünf Elemente oder Prinzipien die unterscheidenden Merkmale zum neoliberalen Kapitalismus zu sein:

  1. Gemeinwohlorientierung statt Orientierung am Bruttoinlands­pro­dukt bzw. dem Unternehmensgewinn,
  2. Kooperation statt Konkurrenz,
  3. demokratische Bottom-up-Prozesse statt autoritäre und intrans­parente Entscheidungen,
  4. „positives“ Menschenbild statt egoistisches Kosten-Nutzen-Kalkül,
  5. Geld als Mittel statt als Zweck.

Die GWÖ versteht sich nicht als Wirtschaftsmodell, welches am Reiß­brett entwickelt wird. Schon der demokratische Ansatz dieses Konzepts widerspricht so einer Herangehensweise. Als Grassroots-Bewegung möch­te sie „von unten“ Kooperation und solidarisches Miteinander aufbauen. Konkret bedeutet das den Aufbau von genossenschaftlichen und kooperativen Strukturen.

Es ist offensichtlich, dass diese Ansätze der GWÖ eine deutliche Verän­de­rung des Wirtschaftssystems bedeuten würden. Schwer vorstellbar ist ein Weiter-so dieses High-Tech-Kapitalismus (vgl. Haug 2013) mit sei­ner enormen Arbeitsteilung in globalem Ausmaß und sei­ner Geschwin­dig­keit (bspw. der Geschwindigkeit von Käufen und Verkäufen an der Börse) unter demokratischen, am Gemeinwohl orientierten Bedingun­gen. An dieser Stelle tut sich aber auch die Schwierigkeit der GWÖ auf: die Konfliktivität. Viele VertreterInnen alternativer Ökonomien wie Felber oder auch Niko Paech, der das Konzept der Postwachstumsökono­mie weiterentwickelt hat, benennen höchst selten Interessenkonflikte aufseiten derer, die Alternativen entwickeln wollen, mit denen, die mit dem Verweis auf Sachzwänge an Alternativen kein praktisches Interesse haben. Neben Interessenkonflikten treten häufig auch ganz praktische Schwierigkeiten des Mangels an materiellen (und immateriellen) Res­sour­cen auf, die die Entwicklung alternativer Projekte oft nicht ermögli­chen, wie beispielsweise auf dem Kongress „Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus“ in Berlin 2006 festgestellt wurde (vgl. Notz 2012, 121 f.). Grund für den Mangel ist ebendieser neoliberale Kapitalismus, der immer mehr Bereiche des Lebens beansprucht (vgl. Notz 2012, 121).

Konflikte wie diese nicht zur Sprache zu bringen, mag zwar einerseits für eine breitere Akzeptanz sorgen. Doch stellt sich andererseits die Fra­ge, wie weit diese Ansätze reichen, wenn sie nicht die Konfliktlinien be­nennen, die letztendlich über Mittel und Wege, BündnispartnerInnen u. v. m. entscheiden. Weiterhin lässt sich fragen, was Felber unter Kapi­talismus versteht. Wenn Felber Geiz und Egoismus als Folge der Konkur­renz sieht und Geld eher als Mittel denn als Zweck entwickeln möchte, entsteht der Eindruck, dass unter Kapitalismus eine extreme (ungerech­te) Form von Marktwirtschaft verstanden wird. Mit der Kritik von Papst Franziskus sehen wir, dass man grundsätzlicher ansetzen muss, um zu begreifen, was Kapitalismus ist. Dabei wird der Markt als solcher schon auf seine problematischen Seiten hin beleuchtet. Franziskus schlägt mit seiner radikalen Kapitalismuskritik einen anderen Weg ein als die Ansät­ze alternativer Ökonomien, insofern kein alternativer, konstruktiver Vor­schlag erarbeitet wird, sondern das Bestehende kritisiert und dadurch seine Veränderbarkeit aufgezeigt wird.

„Nein zur Vergötterung des Geldes“

Papst Franziskus bedient sich der Götzen- bzw. Fetischkritik. Das ist in doppelter Hinsicht interessant. Zum einen ermöglicht diese Herange­hens­weise, wie zu zeigen sein wird, eine sehr radikale Kritik, zum ande­ren ist sie ein zentraler Inhalt der Befreiungstheologie (vor allem bei Pablo Richard, Franz Hinkelammert, Kuno Füssel und Michael Rammin­ger), die sich wiederum u. a. auf die Arbeiten von Karl Marx bezieht. Wenn hier von der Götzen- und Fetischkritik Franziskus’ gespro­chen wird, darf aber nicht erwartet werden, dass Franziskus eine umfang­rei­che Kapitalismuskritik vorgelegt hätte. Dennoch bleiben einige Grund­einsichten zum bzw. Urteile über den Kapitalismus: beispielsweise, dass alle wirtschaftlichen Theorien und Aktivitäten „an den Lebensmög­lichkeiten der Menschen ausgerichtet sein [müssen]“, wie Kuno Füssel und Michael Ramminger in ihrer Analyse zur Götzen- und Fetischkritik bei Franziskus hervorgehoben haben (Füssel/Ramminger 2016, 131).

Was meint also die Götzen- und Fetischkritik bei Franziskus bzw. woher kommt sie? Der zentrale Text stammt aus Evangelii gaudium Nr. 55: „Einer der Gründe dieser Situation [der Globalisierung der Gleichgültig­keit; P.G.] liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vorherrschaft über uns und über unsere Gesellschaften. Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1–35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel.“ Franziskus stellt die Götzen den Menschen, als Gottes Ebenbilder, gegenüber. Götze, das ist das, was an Gottes Stelle als höchste Instanz anerkannt wird, wie das fetischisierte Geld, das Geld, das dem Menschen als Sachzwang gegenübertritt. Ein Fetisch ist etwas vom Menschen Gemachtes, das aber wiederum Macht über den Men­schen gewinnt. Der Begriff leitet sich aus dem Portugiesischen feticao (Gemachtes; Partizip) bzw. dem Lateinischen facere (machen) her. Franziskus führt den Begriff des Fetischs nicht aus. Es ist nicht eindeu­tig, welche Aspekte er mit diesem Begriff bedenkt. Mit der Verwendung dieses Begriffs im Kontext der Globalisierungs- und Ökonomiekritik öff­net Franziskus aber die Tür zur Befreiungstheologie und zu Karl Marx. Diese werden in seiner Verwendung mittransportiert. Deshalb ist es sinnvoll, sich mit Marx’ Kapitalismusanalyse auseinanderzusetzen.

Nach Marx bedeutet Kapitalismus nicht eine „radikale“ Marktwirt­schaft, in der übermächtige UnternehmerInnen die anderen ausstechen und die ArbeiterInnen ausbeuten. Sondern unter Kapitalismus versteht er die abstrakte Herrschaft des Werts bzw. des Kapitals. Nach Marx ist das Kapital das eigentliche Subjekt: das „automatische Subjekt“ (Marx/Engels 2007, 168). Die Menschen sind stattdessen nur ausfüh­­rende Organe: die einen als Eigentümer an Produktionsmitteln, die anderen als bloße Eigentümer ihrer Arbeitskraft. Dieses Verhältnis analysiert Marx vor allem anhand des „Fetischcharakters der Ware“ (vgl. Marx/Engels 2007, 85–98). Die Ware wird dabei nicht unter dem Aspekt ihres Gebrauchswerts analysiert, sondern unter dem Aspekt ihres Tauschwerts. Also nicht unter der Frage, was ich mit einem Tisch alles anfangen kann, sondern wie ein Tisch auf dem Markt als Ware funktioniert.

Wie tauschen Warenbesitzer ihre Waren? Selbstverständlich anhand des Werts der jeweiligen Ware, der sich im Preis ausdrückt. Marx hingegen stellt diese Selbstverständlichkeit in Frage. Der Wert ist nichts, was den Dingen inhärent wäre, sondern der Wert kommt ihnen zu durch mensch­liche Arbeit. Das, was bei einem Warentausch objektiv getan wird, so Marx, ist der Vergleich der in die Waren eingegangenen „abstrakten“ menschlichen Arbeit. Wenn also der Wert eines Tischs oder eines Smart­phones bemessen wird, wird – sehr allgemein formuliert – die abstrakte Arbeit, die für die Produktion von Tisch oder Smartphone gebraucht wur­de, bemessen. Das Geld spielt dabei die Rolle der besonderen Ware, näm­lich derjenigen Ware, die keine andere Funktion hat, als den Wert der Arbeitskraft auszudrücken. Marx zeigt in seiner Analyse auf, dass das Geld als besondere Ware zum Selbstzweck wird und im Marktge­sche­hen eigentlich nicht der Ablauf Ware – Geld – Ware vonstattengeht, sondern Geld – Ware – mehr Geld. Die Produkte (Tische, Smartphones) haben die Funktion, Geld zu vermehren, d. h. Mehrwert zu realisieren. Hier entwickelt sich laut Marx ein Automatismus: das automatische Sub­jekt des Kapitals. Kapital meint genau diese Bewegung seiner Ver­mehrung durch Warenproduktion und Wertrealisation im Verkauf.

Doch – und das ist das Entscheidende für Marx – werden im Marktge­schehen (Kaufen – Verkaufen) nur die Waren (und das Geld) und nicht die Arbeitsverhältnisse bzw. die Verhältnisse der Personen darin be­trach­tet. Diese spielen darin überhaupt keine bewusste Rolle. Oder in den Worten Marx’: „Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einan­der im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einan­der als menschliche Arbeiten gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es“ (Marx/Engels 2007, 88; vgl. Füssel/Salz 2016, 40). Im Marktgeschehen führen die Waren nach Marx deshalb ein „Eigenleben“, welches den Menschen als Sachzwang gegenübertritt. Diese treten in dem Geschehen nur als ausführende Organe auf, die den Warenfluss und damit die Geldvermehrung vorantreiben müssen. Dieses Eigenle­ben bezeichnet Marx als den Fetischcharakter, der den Waren anhaftet. Es ist „die Macht der Machwerke über die Machenden“, wie der Philo­soph Wolfgang Fritz Haug eindrücklich schreibt (Haug 2013, 163). Dabei ist zu beachten, dass dieses „Eigenleben“, dieser Systemzwang, nicht durch Gier oder Egoismus oder sonst ein extremes Verhalten entsteht, sondern schon durch die gesellschaftlichen Bedingungen, ihre Formation (z. B. Arbeitsteilung, Privateigentum, die abstrakte Sichtweise auf Arbeit u. v. m.) entsteht.

Diese Erkenntnis bedeutet aber auch, dass die Macht dieser Machwerke nicht absolut ist. Schließlich entstammt die Macht ja der Tätigkeit der Menschen. Man könnte den Fetisch auch als Sachzwang bezeichnen. Ge­meint sind – von Menschen gemachte – Prozesse oder Strukturen, die den Menschen wieder so gegenübertreten, dass sie als Sachzwänge oder Systemzwänge auftreten, also beispielsweise der „Systemzwang“ der Geldvermehrung oder der Profitmaximierung, wenn man auf dem Markt bestehen will. Doch als von Menschen gemachte Systemzwänge unter­scheiden sie sich von „natürlichen“ Zwängen, die in der Regel als unab­än­derlich gelten. Diese naturhaften Erscheinungsweisen der Sachzwän­ge gilt es aufzudecken – zu offenbaren – und somit zur Disposition zu stellen. Dies ist gemeint, wenn von Fetischkritik gesprochen wird. Die Macht der Fetische soll in Frage gestellt werden, indem sie als Gemach­tes entlarvt werden, was auch ganz anders sein könnte. Fetischkritik ist also eine Möglichkeit, das, was als Natürliches erscheint, in Frage zu stellen. Doch um die reale Macht, die diese Fetische bzw. Systemzwän­ge ausüben, zu überwinden, reicht das bloße Aufdecken nicht aus. Es bedarf auch der Veränderung der Strukturen, die diese System­zwän­ge hervorbringen. Es geht also um die Frage, wie Wirtschaft, wie Produk­tion organisiert wird.

Über diesen Umweg über Marx wird deutlicher, was sich hinter dem Be­­griff des Fetischs verbirgt und was dementsprechend mit der Götzenkri­tik von Papst Franziskus gemeint sein kann. Götzen, wie das fetischi­sier­te Geld, entspringen nicht einfach dem individuellen Handeln oder Wol­len. Es ist keine bloße moralische Verwerfung Einzelner. Sondern sie ent­springen einer kollektiven, ja gesamtgesellschaftlichen Praxis, in der das Kapital zum „automatischen Subjekt“ wird. Jan-Hendrik Herbst hat kürzlich in seinem Beitrag zum Thema „Kapitalismus als Religion“ tref­fend formuliert: „Das Kapital stellt den Gott des Kapitalismus dar, weil es Selbstzweck und Lebensprinzip der Produktions- wie Tauschverhält­nisse ist. Das Kapital ist das Absolutum, der Dreh- und Angelpunkt aller kollektiven Handlungen, zudem das Ziel aller individuellen Begierde“ (Herbst 2016). Und gerade weil das Kapital als „Gott des Kapitalismus“ auftritt, ist es aus christlicher Perspektive notwendig, die Unterschei­dung von Gott und Götzen zu treffen, wie Papst Franziskus es tut. Es gilt, diese Verhältnisse, diese Wirtschaft, die tötet, als Götzenstruktur aufzudecken und herauszustellen, dass es sich dabei nicht um absolute, sondern um menschengemachte, d. h. um veränderbare Verhältnisse handelt und dass diese Götzen im Widerspruch zum christlichen Gott, der aus der Sklaverei führt, stehen.

Soziale Bewegungen

Die Kapitalismuskritik von Papst Franziskus ist nicht „handlich“. Sie bietet kein 20-Punkte-Programm wie Christian Felber zur Gemeinwohl­ökonomie. Letztere lassen sich einfacher umsetzen, oder wenigstens er­wecken sie diesen Eindruck. Dass man mit so einem Programm auf Geg­nerInnen stoßen wird, wurde schon angesprochen, nimmt aber natürlich dem Programm nicht seine Legitimität. Obgleich Papst Franziskus ein Befürworter von Veränderungen, auch von konkreten Veränderungen ist, legt er seinen Finger mit der Götzen- und Fetischkritik in eine Wunde. Diese Kritik lässt sich nicht vereinbaren mit „faulen Kompromissen“, die zwar nach Reformen klingen, dann aber doch den Menschen (den Eben­bildern Gottes) irgendeine Notwendigkeit entgegenhalten. Das kann im Zweifel auch für Modelle gelten, wo zwar vom Gemeinwohl gesprochen wird, sich aber dahinter doch ein Greenwashing befinden könnte. In über­sichtlichen, lokalen Kontexten wäre so ein Greenwashing sicherlich nicht zu erwarten. Wie stabil ist aber so ein Konzept im Weltmaßstab? Papst Franziskus hat seine konkreten Themen gemeinsam mit Vertre­terInnen sozialer Bewegungen aus aller Welt entwickelt. Es handelt sich um die drei „T“: tierra, techo, trabajo (Boden, Wohnung, Arbeit), und auf dem nächsten Welttreffen der sozialen Bewegungen mit Papst Franzis­kus wird das Thema „Migration“ dazukommen. Veränderung wird bei Franziskus vor allem von diesen sozialen Bewegungen her gedacht und von daher, wie diese mit den genannten Themen umgehen. Das Beson­dere der Bewegungen ist, dass sich politische Kampagnen, Bildungs­ar­beit, der aufmerksame Blick für den Stellenwert (und die Missachtung) der Menschen, das mutige Eingehen von Konflikten und konkrete solida­rische Projekte miteinander verbinden. „Ihr gebt Euch nicht zufrieden mit illusorischen Versprechungen, Ausreden oder Alibis. Ihr wartet auch nicht untätig darauf, dass Nichtregierungsorganisationen, Sozialpläne bzw. Hilfsmaßnahmen euch beistehen, die nie ankommen, oder wenn sie ankommen, häufig dazu dienen, entweder zu narkotisieren oder zu domestizieren. Das sind gefährliche Mittel. Ihr glaubt, dass die Armen nicht länger warten, sondern die Sache selbst in die Hand nehmen wol­len, sich organisieren, studieren, arbeiten, reklamieren und vor allem diese besondere Art von Solidarität praktizieren, die es unter den Leiden­den, unter den Armen gibt und die unsere Zivilisation vergessen zu haben scheint, oder zumindest allzu gerne vergessen machen möchte. […] Von Herzen begleite ich euch auf diesem Weg“ (Franziskus 2014, 147.159).

… und die Kirche vor Ort

Was bedeutet es für die Kirche, für die Gemeinden und Gemeinschaften vor Ort, wenn Papst Franziskus sich für die Folgerungen aus der Kapita­lis­muskritik vor allem an den sozialen Bewegungen orientiert? Auf den drei Welttreffen der sozialen Bewegungen (2014, 2015, 2016) wurde immer wieder von den teilnehmenden Kirchenvertretern hervorgeho­ben, dass die Kirche und die Bewegungen Hand in Hand den Wandel von der Globalisierung der Ausschließung hin zu einer Gemeinschaft des gu­ten Lebens für alle gestalten sollten. Auf die Frage, wie diese Zusam­menarbeit gelingen könnte, weisen die BewegungsvertreterInnen darauf hin, dass Kirchengemeinden auch ihre Ressourcen zur Verfügung stellen könnten. Woran es immer wieder fehle, seien Räume, um sich treffen zu können und um sich frei zu organisieren. Aber auch der politische Rück­halt sei von großer Bedeutung, wenn beispielsweise Kampagnen oder ihre Akteure diffamiert und kriminalisiert werden. Für Gemeinschaften und Gemeinden bedeutet das auch, eine „Spiritualität der Konfliktivi­tät“ zu entwickeln. Damit ist selbstverständlich nicht gemeint, Konflikte aus Streitfreudigkeit ins Leben zu rufen. Vielmehr geht es darum, beste­henden oder aufkommenden Konflikten, wie oben schon angesprochen, nicht aus dem Weg zu gehen, sondern sie mutig anzunehmen. Diese Form der Spiritualität wird zurzeit vor allem in den Gemeinden, die Kirchenasyle ermöglichen, entwickelt.

Ein Schritt, um die Anliegen der Welttreffen der sozialen Bewegungen zu konkretisieren, könnten solche Treffen auf Diözesan- oder Gemeinde­ebene sein. Denn der „erlösende Wandel“, wie ihn Franziskus erhofft, ge­schieht nicht am Reißbrett, sondern nur von unten mit konkreten Schritten und auf die Gefahr hin, eine „beschmutzte und verbeulte Kirche“ (Franziskus) zu werden.