Digitalisierung – eine Herausforderung für wertbezogene Bildung
Eine Reihe Technik-induzierter Megatrends haben die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten entscheidend beeinflusst:
- Digitalisierung, d. h. Umwandlung von analogen in digitale Daten,
- Vernetzung, mit den Zwischenständen Web 1.0 (World Wide Web), 2.0 (Social Web) und 3.0 (Internet der Dinge; semantisches Netz),
- Miniaturisierung, zugleich Voraussetzung für
- Mobilität,
- sowie Konvergenz von Medien, (Unterhaltungs‑)Elektronik und Haushaltsgeräten.
Der zweifelsfrei umfassendste Megatrend ist die fortschreitende Digitalisierung, die längst über die Transformation von Daten hinaus massive gesellschaftliche, d. h. rechtliche wie politische, aber auch ökonomische und bildungsplanerische Auswirkungen hat. Denn Arbeit 4.0 in der Industrie 4.0 erfordert auch Bildung 4.0, die die qualifizierten AbsolventInnen für das digitale Leben hervorbringen soll. Ob diese Neologismen immer gerechtfertigt oder wenigstens sinnvoll sind, sei hier dahingestellt: Sicherlich gibt es keine digitale Bildung, so wie es auch ihr vermeintliches Gegenstück, eine analoge Bildung, nicht gibt. Und der Begriff der „digitalen Gesellschaft“ kann auch nur als verkürzendes Schlagwort bewertet werden, dem ebenfalls das begriffliche Gegenstück fehlt, aus dem es evolutionär, kontrastierend oder disruptiv hervorgegangen ist.
1. Herausforderungen
Völlig unstrittig ist allerdings, dass Digitalisierung mit ihren zahlreichen Facetten immer mehr Bereiche des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens erfasst und damit tatsächlich ein Megatrend ist, der uns vor gewaltige Herausforderungen stellt. Diese lassen sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – in einer Reihe von Spannungsfeldern thematisieren, die neben sozialen und rechtlichen sowohl ethische als auch religiöse Bezüge aufweisen.
1.1 Privatheit und Öffentlichkeit
Alle Medien sind ambivalent, können also sozial und konstruktiv genutzt werden – oder auch nicht. Das spezifische Problem der digitalen Medien ist die schiere Reichweite: Was einmal im Internet veröffentlicht ist, ist damit sofort weltweit öffentlich. Und wenn es einmal von Suchmaschinen erfasst und indiziert ist, lässt es sich auch nicht mehr einfach löschen. Diese Reichweite potenziert sich im Blick auf Social Media mit der Niedrigschwelligkeit ihrer Nutzung, die zudem dank mobiler Geräte jederzeit und überall möglich ist.
Damit ist unmittelbar die Frage gestellt, wie sich Privatheit in Social Media überhaupt entfalten kann – oder ob nicht nur noch Abstinenz entsprechend dem Gebot der Datensparsamkeit eine Lösung sein kann. Das Themenfeld Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung in Spannung zum menschlichen Grundbedürfnis nach Kommunikation wäre damit ein Ansatzpunkt für ethische Debatten.
1.2 Diskretion und Transparenz
Als quasi private Wendung folgt aus dem ersten bipolaren Spannungsfeld: Aus ethischen Gründen sollte ich nicht alles äußern, was ich äußern kann. Gerade angesichts der nahezu unbegrenzten Reichweiten unserer digitalen Äußerungen brauchen wir kommunikative Diskretion (vgl. DBK 2011, 41). Absolute Transparenz – ob unter dem Anspruch einer verabsolutierten Authentizität oder aufgrund des Rechts auf Information – birgt in sich die Gefahr der Unmenschlichkeit. Hinzu kommt das Problem, dass die Publikation von Inhalten durch Jedermann auch den Verlust journalistischer Qualität und damit die Verbreitung formal schlechter und sachlich ungenauer bis falscher Informationen bedeuten kann.
Diese ursprünglich professionsethischen Debatten der Journalistik betreffen mittlerweile jeden, der an Social Media partizipiert, da in der Rolle des Prosumers die Verantwortung des Rezipienten mit der des Produzenten zusammenkommt.
Damit ergeben sich unmittelbar Anforderungen an eine umfassende Medienbildung, die immer auch eine normative und reflexive Komponente haben muss.
1.3 Beziehung und Oberflächlichkeit
Bringen die sozialen Netze wirklich eine neue Qualität durch die Kombination von „strong ties“ und „weak ties“? Oder sind die Nutzer am Ende „Verloren unter 100 Freunden“ (so ein Buchtitel von Sherry Turkle)?
Nicht erst seit Erfindung des Fax gibt es die Erwartung einer unmittelbaren Reaktion des Kommunikationspartners; während der gesamten Geschichte der Medien ist mit jeder neuen Entwicklung die Geschwindigkeit der Kommunikation gestiegen. Und auch die Kürze und der Zwang zur Prägnanz sind kein genuines Merkmal der digitalen Medien – „Fasse dich kurz!“, hieß es früher in öffentlichen Telefonzellen. Mit SMS und davon abgeleiteten Tweets sowie Facebook-typischen Posts ist aber eine zwangsläufige Verkürzung gegeben, die eine tiefergehende Erörterung kaum zulässt; dafür gibt es wiederum andere Formate wie Blogs.
Die Form der Beziehungsbeschreibung – Freund, Follower u. a. – ist bei Social-Media-Diensten in der Regel immer binär, was einerseits dadurch die Beziehung zwischen Kommunikationspartnern determiniert und andererseits kaum in der Lage ist, die differenzierten zwischenmenschlichen Kommunikations- und Interaktionsformen abzubilden. Auch die bei einigen Diensten gegebene Möglichkeit, „Listen“ zu bilden, impliziert einen im Alltag so nicht nötigen Zwang zur klaren Kategorisierung von Beziehungszuschreibungen.
Daneben steht die grundsätzliche Frage im Raum, welche Konsequenzen für die Kommunikation und die Qualität von Beziehung soziale Medien haben – sofern damit tatsächliche Beziehungen außerhalb der Social Networks verdoppelt werden, können diese eine wertvolle Ergänzung sein. Sobald ich aber reine Online-Kontakte eingehe, z. B. in beruflichen Netzwerken als Kontakt eines Kontaktes, dürfte in der Regel eine deutlich oberflächlichere Beziehung vorliegen.
1.4 Inszenierung und Authentizität
Im Sinne einer Verantwortungsethik ist Authentizität in der digitalen Kommunikation unverzichtbar – andernfalls höhlen die Möglichkeiten der Täuschung und Inszenierung die Beziehung der sozialen Kommunikationspartner aus. Andererseits ist ein Mindestmaß an Inszenierung üblich und notwendig; auch im „wirklichen“ Leben präsentiere ich je nach sozialer Situation bestimmte Anteile meiner Person und andere nicht.
Und auch die Authentizität der Kommunikation wird zwangsläufig selektiv sein müssen, denn alles andere hieße, sich – wie von den Vertretern der Quantified-Self-Bewegung gefordert – völlig transparent auszuliefern. Dieser Begriff bezeichnet summarisch alle Anbieter, Nutzer, Methoden, Geräte und Dienste, die v. a. personenbezogene Daten aufzeichnen und auswerten („self-tracking“; wörtl.: Selbstaufzeichnung in Zahlenwerten). Ziel ist eine umfassendere Kenntnis in Bezug auf den eigenen Körper, in der Konsequenz meist auch eine Optimierung des Tagesablaufs und Reduzierung negativer Faktoren wie Stress.
Die Grenze zur Selbstdarstellung als Primärtugend ist fließend, was für die Nutzer digitaler Kommunikationsmedien eine umfassende Medienkompetenz notwendig macht, vor allem hinsichtlich Reflexivität und ethischer Bewertung kommunikativen Handelns.
1.5 Big Data: Komfort und Kontrolle
Der Reiz digitaler Medien wie des Social Web liegt in dem Mehr an Komfort, dass sie uns bieten: Ich muss mir keine Kontaktdaten wie Mailadressen oder Telefonnummern mehr merken – postalische Adressen sind für private wie dienstliche Kontakte quasi überflüssig geworden –, denn Facebook, WhatsApp und Co. „wissen“ ja, wer meine Freunde sind. Und bei einer Google-Suche brauche ich nicht mal die korrekte Schreibweise des gesuchten Begriffs zu kennen: Googles automatische Vervollständigung schlägt mir sofort Begriffe vor, die ich vielleicht eingeben möchte, weil häufig nach ihnen gesucht wird.
In diesen und vielen anderen Fällen sind gesammelte Daten die Voraussetzung für eine noch komfortablere Nutzung, die zudem scheinbar kostenlos ist. Die verdeckten Kosten bestehen aber in der Preisgabe meiner Daten: Mein Adressbuch wird von den Anbietern sozialer Netzwerke komplett eingelesen, um mir Freunde „vorschlagen“ zu können. Was immer ich bei Facebook einstelle, geht gemäß deren Geschäftsbedingungen in deren Eigentum über. Und Google „liest“ per Texterkennung meine Mails mit, um mir noch passendere Werbung anzubieten.
Die Geschäftsmodelle fast aller Anbieter laufen darauf hinaus, aus der Datenauswertung Werbeangebote bzw. Hinweise auf Produkte platzieren zu können. Zusammen mit Bewegungsprofilen durch Nutzung von GPS-Daten oder Bekanntgabe von Orten, an denen Nutzer sich aufhalten, entstehen so sehr differenzierte Profile, die der Idee einer informationellen Selbstbestimmung diametral widersprechen.
Und was in dem Film „Minority Report“ vor 14 Jahren noch schiere Fiktion schien, ist seit Anfang letzten Jahres in Bayern und Baden-Württemberg unter dem Namen Precops Realität: die datenbasierte Prognose, in welchen Gegenden wahrscheinlich ein Verbrechen stattfindet.
All diese Hinweise werden von Algorithmen produziert, die Informationen aus bereits erhobenen Daten ausfiltern – und damit unsere Wahrnehmung lenken und letztlich unsere kommunikativen Möglichkeiten einengen: „In so einer Situation ist nur noch eine Freiheit von anderen möglich und kaum mehr eine Freiheit mit anderen“ (Filipovic 2013, 199).
Der Kontext dieses Spannungsfeldes ist die Frage nach der Freiheit von Kommunikation überhaupt. Für dieses in Deutschland grundgesetzlich verankerte Recht muss auch netzpolitisch gekämpft werden, um eine weitergehende Vorherrschaft kommerzieller Anbieter einzudämmen. Letztlich geht es um die menschliche Freiheit überhaupt – oder möchten Sie von Ihrer Versicherung eine bestimmte Lebensführung vorgeschrieben bekommen, da man Ihnen andernfalls aufgrund der Daten leider keine Versicherung anbieten kann?
1.6 Recht und Ökonomie
Für den Bereich der notwendigen rechtlichen Neuregelungen seien nur zwei Problemkreise angesprochen; auf die ebenfalls relevanten Debatten zu Netzneutralität, Vorratsdatenspeicherung, Safe-Harbor- und Freihandelsabkommen etc. kann aufgrund der gebotenen Kürze nicht eingegangen werden: Das Urheberrecht (UrhR) regelt die angemessene Vergütung kreativer Leistungen ab einer bestimmten Schöpfungshöhe. Abgesehen von der Frage, ob wirklich in allen Fälle die Künstler, Autoren etc. angemessen vergütet oder nicht doch primär Ansprüche von Verwertungsgesellschaften befriedigt werden, geben die Möglichkeiten digitaler Kopien auch Anlass, die Fragen nach Kreativität und Gemeinwohl-Orientierung auch geistigen Eigentums neu zu stellen: Unter welchen Bedingungen sollten kreative Produkte wie Remixes, Mashups etc. möglich sein? Müsste das Zitatrecht nicht weiter gefasst werden, über den engen wissenschaftlichen Bereich hinaus, z. B. für (medien‑)pädagogische oder andere nicht-kommerzielle kreative Projekte? Dies umso mehr, als alle Neuschöpfungen immer auf einem kulturellen Kontext basieren und insofern nur bedingt völlig originell sein können.
Ein breites Diskussionsfeld bietet seit Jahren auch der gesetzliche Jugendschutz, der aufgrund gewachsener Strukturen und Zuständigkeiten immer noch nicht in der Lage ist, die Realität eines weltweiten Netzes in kohärenten Regelungen abzubilden. Unstrittig ist mittlerweile, dass aufgrund der Dynamik der Medienentwicklung rein technische Lösungen kaum ausreichen werden, sondern Jugendmedienschutz nur in Verbindung mit Medienbildung zu realisieren ist. Ob und wie dies zwischen Bund und Ländern in tragfähige Regelungen gegossen wird, bleibt abzuwarten; nach sechs Jahren Diskussion liegt seit 1. Oktober eine Neufassung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV) vor, der auf Länderebene die sogenannten Telemedien (also Rundfunk und Internet etc.) behandelt. Das notwendige Gegenstück, das Jugendschutzgesetz (JuSchG), wird aber wohl in dieser Legislaturperiode nicht mehr neu verhandelt werden.
2. Konsequenzen
Zweifelsfrei bieten digitale Kommunikationsmedien und derzeit vor allem Social Media unschätzbare Möglichkeiten einer niedrigschwelligen Beteiligung aller am gesellschaftlichen Diskurs. Die Bedingungen dieser Möglichkeiten sind aber gleichzeitig auch die Schwachstelle, da soziale Netzwerke auch Raum für respektlose und entwertende Kommunikation (Stichworte: Hate Speech, Trolling, Cybermobbing) bieten. Insofern dabei bisweilen Straftatbestände berührt sind, müssen die geltenden Regelungen des StGB konsequent angewandt werden – wozu es keinerlei Vorratsdatenspeicherung braucht.
Unterhalb dieser rechtlichen Grenzüberschreitungen bedarf es einer umfassenden Medienbildung, die im Sinne kritischer Medienkompetenz auch eine Wertevermittlung beinhaltet, die Einzelne wie Gruppen zu einer tatsächlichen Partizipation in medialisierten Lebenswelten befähigt. Denn die beste Prävention gegen Trolle und Hater im Netz ist immer noch Bildung, die Menschen zu einer individuell sinnvollen und sozial verantwortlichen Nutzung von Medien befähigt.
Diese Forderung nach Medienbildung richtet sich aber umso mehr an MultiplikatorInnen, die in pädagogischen, sozialen oder pastoralen Handlungsfeldern tätig sind. Gerade hier gilt es, Schnittstellen zu sozialem und religiösem Lernen wahr- und ernstzunehmen und digitale Medien nicht wie Manfred Spitzer und Co. pauschal als Gefahr (vgl. Büsch 2012), sondern als Chance zum ästhetischen wie ethischen Lernen und zur kritischen Auseinandersetzung zu sehen.
Diese Haltung vertritt erfreulicherweise auch die Deutsche Bischofskonferenz, sowohl in ihrer medienethischen Impulsschrift (DBK 2011) als auch in dem jüngst erschienenen netzpolitischen Papier „Medienbildung und Teilhabegerechtigkeit“ (DBK 2016): „Der Beitrag der katholischen Kirche angesichts der Digitalisierung besteht daher in einem nachdrücklichen Eintreten für einen Wertediskurs und die Geltung rechtlicher sowie ethisch-moralischer Standards. Dazu gehören auch ihr Engagement für Teilhabegerechtigkeit, Medienbildung sowie einen zeitgemäßen Jugendmedienschutz.“
Denn Digitalisierung kommt mit allen Chancen und Herausforderungen in der Mitte der Gesellschaft an. Sie nicht ernstzunehmen, kommt einem Kind gleich, dass sich die Augen zuhält, auf dass das Unerwünschte „weg sei“. Ob und wann dagegen diese Entwicklung (bildungs‑)politisch eingeholt wird, liegt auch an uns.