Inhalt

Das Kinder- und Jugend-Trauerprojekt „diesseits – Junge Menschen trauern anders“ in Aachen

Sterben, Tod und Trauer betreffen uns alle irgendwann im Leben. Trotzdem sind es gesellschaftliche Tabuthemen, die aus dem Alltag ausgegrenzt wer­den. Die Unsicherheit im Umgang damit wird noch größer, wenn Kinder betroffen sind – sei es als Sterbende oder als Trauernde. Für Kinder und Jugendliche ist es daher besonders wichtig, die eigene Trauer spüren und leben zu dürfen.

Mit dem katholischen Projekt „diesseits – Junge Menschen trauern an­ders“ möchten wir trauernden Kindern und Jugendlichen Raum, Trost und Zeit geben, um ihren Abschiedsprozess zu durchleben und zu be­wältigen. Das Projekt wird getragen von der katholischen Innenstadt­pfarrei Franziska von Aachen. Ziel des Projekts ist ein niederschwelliges und kreatives Kontakt- und Beratungsangebot für trauernde Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Aachen. Die Angebote umfassen einen Offenen Treff, Kinder- und Jugendtrauergruppen, therapeutisches Reiten, Einzelbegleitung, Seminare sowie Fort- und Weiterbildungen. Darüber hinaus halten wir Kontakt zu Schulen und Kindergärten, um sie bei der Bearbeitung des Themas „Tod und Trauer“ zu unterstützen.

Über die heilpädagogische Förderung auf dem Pferd erfahren die trauernden Kinder eine ganzheitliche Form der Trauerbegleitung. Körperliche Nähe, Ge­bor­genheit im Trauerschmerz und der Beziehungsaufbau zum Pferd lassen das Kind die traurige Welt wieder lebenswert empfinden und aus ihr heraus­treten.

„Tote begraben und Trauernde trösten“ sind Kernaufgaben der Seelsorge und Dienst der christlichen Gemeinde an und mit trauernden Menschen. Die Begleitung von Sterbenden und Trauernden, die Sorge um die Ver­stor­benen und die Hinterbliebenen sowie die „Gestaltung der Begräbnis­liturgie sind ein Grundauftrag von Kirche und immer ein Zeichen von ge­lebtem und bezeugtem Glauben, die biblischen Werke der Barmher­zig­keit in der Trauer, beim Tod und der Bestattung von Menschen zu leben und zu verwirklichen“ (Konzept der Trauerpastoral für das Bistum Aachen). Deswegen hat dieser Weg durch die Trauer für uns als Christen auch immer etwas Hoffnungsvolles.

Kinder- und Jugend-Trauerangebote sind dringend notwendig

Dass Kinder- und Jugend-Trauerangebote dringend notwendig sind, er­lebt die Initiatorin Maria Pirch in ihrer täglichen Arbeit als Gemeinde­re­fe­­rentin in der Aachener Innenstadtpfarrei, als Schulseelsorgerin in ver­schiedenen Aachener Schulen (Grundschule sowie Gymnasium) und als Notfallseelsorgerin. In Aachen ist „diesseits“ das erste und bisher einzige Trauerangebot für Kinder und Jugendliche. Kinder und Jugendliche trau­ern anders als Erwachsene. Manchmal sind Erwachsene irritiert vom Ver­halten trauernder Kinder, deren Trauer oft „sprunghaft“ wirkt: Eben noch sind sie fröhlich und spielen, im nächsten Moment wollen sie allein sein und verziehen sie sich still in eine Ecke – und umgekehrt. Trauernde Jugendliche haben das Bedürfnis, sich auszutoben, sie gehen dann lieber zum Feiern als auf den Friedhof.

Solche Dinge sind für Erwachsene oft schwer nachvollziehbar und zu ak­zep­tieren. Deshalb kann für Kinder und Jugendliche eine besondere Be­gleitung in der Trauer sehr wichtig sein. Durch geeignete Angebote kön­nen sich ihnen Wege auftun zu einem Leben nach dem Tod des von ih­nen geliebten Menschen. In einer wertschätzenden, einfühlsamen At­mos­phäre kann in den jungen Menschen auch die Erkenntnis wachsen, dass sie sich selbst eine wertvolle Stütze im Prozess des Trauerns sind.

Trauernde Kinder zeigen häufig psychosomatische Symptome

Kinder, in deren Familien jemand gestorben ist, fühlen sich oft „anders“ und entwickeln Gefühle von Scham, Einsamkeit und Verlassenheit. Trau­­erzeiten können das Selbstwertgefühl eines Kindes beeinträchtigen. Wenn ein Geschwisterkind stirbt und das hinterbliebene Kind erlebt, wie sehr die Eltern trauern, kann in ihm das Gefühl einer „Überlebens­schuld“ entstehen. Es kommt auch vor, dass die überlebenden Kinder versuchen, ihren Eltern über den Verlust hinwegzuhelfen, indem sie das verlorene Kind „ersetzen“ oder sich dem verwitweten Elternteil als Part­nerersatz anbieten. Kinder, die diese Rollen auf sich nehmen, erscheinen häufig als stark, vernünftig und erwachsen. Für das Ausleben ihrer eige­nen Trauer, ihrer Gefühle von tiefer Unsicherheit, Angst und Überforde­rung bleibt dann kein Raum.

Die Trauer des Kindes kann stark von Gefühlen der Enttäuschung und Wut in Bezug auf den Verstorbenen geprägt sein, es fühlt sich oft vom Verstorbenen betrogen, verlassen, verraten und im Stich gelassen. Es ist von großer Bedeutung für den Verlauf des Trauerprozesses, dass für alle – auch für die ambivalenten und negativen – Gefühle Platz ist, dass sie alle sein dürfen und ein „ehrliches“ Erinnern möglich ist. Bei trauernden Kindern treten häufig psychosomatische Symptome auf wie Kopf- und Bauchschmerzen, Hautreaktionen, Schlafstörungen, Schlafwandeln, Alp­­träume und Störungen des Essverhaltens. Trauernde Kinder können vorübergehend desorientiert sein und sich nicht mehr so gut in ihrem Alltag zurechtfinden. Oft entwickeln sie Lern- oder Konzentrations­schwie­rigkeiten, die zu einem Leistungsabfall in der Schule führen, denn Trauerarbeit kostet Kraft. Es ist auch möglich, dass erwartete Trauerreak­tionen zeitverzögert auftreten, unspezifisch sind oder gänzlich ausblei­ben, was aber nicht bedeutet, dass das Kind von dem Verlust nicht be­rührt ist. Es kann auch später immer wieder zu einer Reaktivierung der Trauergefühle kommen, dies geschieht häufig bei scheinbar unbedeu­ten­den Verlust- oder Enttäuschungserlebnissen oder wenn Wünsche versagt bleiben.

Nach dem Tod eines geliebten Menschen wird Kindern und Jugendlichen erst nach und nach im Alltag klar, was der Verlust für sie bedeutet. Der Alltag bekommt ein „fremdes Gesicht“, z. B. durch das morgendliche Fe­h­­len des mütterlichen Abschiedes. Die Schulgemeinde kennt oft keine der Trauer entsprechenden, auffangenden Gesten und Verhaltenswei­sen.

Für die Gruppenstunden mit den trauernden Kindern wird der Raum kind­gerecht hergerichtet. Die großen Puppen können auch schon einmal für Rollenspiele eingesetzt werden.

Berührungsängste der Erwachsenen gegenüber dem Thema Tod

Kinder sind darauf angewiesen, dass die Erwachsenen ihnen die Welt erklären und offen sind für ihre Fragen. Dies gilt auch und gerade beim Thema Tod. Sie brauchen eine möglichst klare und authentische Kom­munikation, die sich an ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe und den da­mit verbundenen Todesvorstellungen orientiert. Häufig versuchen Er­wachsene, Kinder durch einen sprachlichen „Schutz“ zu schonen. Da­hinter stehen oft die eigenen starken Berührungsängste gegenüber dem Thema Tod. Es ist wichtig, Kinder darin zu unterstützen, den Verlust eines ihnen nahestehenden Menschen begreifen zu wollen. Dies ist die Voraussetzung für bewusstes Trauern, dazu gehören auch ganz normale Gespräche rund um das Thema Tod.

Jugendliche wollen meist allein mit ihren Verlusterfahrungen fertig wer­den. Sie wollen sich nicht an Erwachsene binden und ziehen das Ge­­spräch mit Gleichaltrigen vor. Sie wollen kein Mitleid und keine Auf­merk­samkeit. Sie sprechen auch oft in der Schule nicht darüber. Wenn die Familie zusammenbricht, versuchen sie das System aufrechtzu­er­halten. Oft bleiben sie als einzige, handlungsfähige Personen übrig und zeigen vorerst gar nichts von ihrer Trauer. Junge Menschen haben viel länger als der Rest der Familie in einem Zustand von Tapferkeit zu blei­ben. Manche Jugendliche fallen in frühere Verhaltensweisen zurück, z. B. verstärkte Abhängigkeit zum hinterbliebenen Elternteil. Oder sie werden aggressiv. Gerade bei jungen Männern schützt Aggression vor Überwältigung durch eigene Emotionen. Oft ist es ein versteckter Hilferuf.

Eine gestaltete Mitte, viele Kerzen und Teebecher sorgen für Atmosphäre bei den Gruppenstunden für junge trauernde Erwachsene.

TrauerbegleiterInnen müssen sich selbst mit der Sinnfrage auseinandersetzen

Für Trauerbegleiterinnen und ‑begleiter ist es eine große Herausfor­de­rung, nicht „vordergründig“ auf solche Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen zu reagieren, sondern die Gefühle dahinter zu erken­nen und ihnen gebührend Platz einzuräumen. Trauerbegleiterinnen und ‑begleiter haben die Aufgabe, das Kind bzw. den Jugendlichen darin zu bestärken, seinen eigenen neuen Weg gehen zu dürfen, und ihm dabei unterstützende Angebote zu machen. Trauerbegleiterinnen und ‑beglei­ter sind aufgefordert, sich selbst ernsthaft mit der Sinnfrage des Lebens, mit Werden und Sterben auseinanderzusetzen, denn Trostsuchende ha­ben ein sensibles Empfinden für die Wahrhaftigkeit und Authentizität gegebener Antworten.

Erfahrungen aus dem Projekt „diesseits“

Über die Jahre haben wir Trauerbegleiterinnen und ‑begleiter des Pro­jekts „diesseits“ nun Erfahrungen gesammelt. Dabei hat sich für uns die Anlehnung an das Traueraufgabenmodell für Erwachsene nach Wor­den/‌Paul als hilfreich erwiesen. Diese Traueraufgaben „sind nicht im Sin­ne einer feststehenden, chronologischen Abfolge von Aufträgen an den Trauernden zu verstehen, sondern eher als Themen, die den Trau­er­prozess prägen und deren Bearbeitung dazu dient, mit dem Verlust le­ben zu lernen“ (Stephanie Witt-Loers/Halbe 2013). Aufgabe bedeutet somit, dass der Trauernde selbst die Möglichkeit hat zu gestalten. Die vier von J. W. Worden entwickelten Aufgaben hat Chris Paul später wei­ter­entwickelt, ergänzt und in einem „Kaleidoskop des Trauerns“ zusam­mengeführt. Demnach gehören zum Trauern: Überleben, den Verlust als Wirklichkeit realisieren, Gefühle wahrnehmen, Anpassung an eine ver­änderte Umwelt, verbunden bleiben, einordnen und Sinn finden. Mit diesem Konzept können wir auch Jugendlichen einen aktiven Ansatz der Trauerbewältigung aufzeigen und sie auf ihrem individuellen Weg un­ter­stützen und ermutigen.

Das Projekt „diesseits“ startete 2010 als Kooperationsprojekt der katho­lischen Innenstadtpfarrei Franziska von Aachen und des Malteser Hilfs­dienstes in Aachen. Inzwischen hat sich der Malteser Hilfsdienst aus dem Projekt zurückgezogen, weil er sich verstärkt der Flüchtlingsarbeit widmen möchte. Trauerseelsorge ist ein Schwerpunkt im Pastoralkon­zept der Pfarrei Franziska von Aachen, sie trägt das Pro­jekt finanziell, stellt eine hauptamtliche Mitarbeiterin und die Räumlichkeiten. Ein großer Raum mit Fensterfront zur Straße wird als Gruppenraum ge­nutzt. Darüber hinaus stehen „diesseits“ weitere Räume im Pfarrhaus zur Verfügung wie das Kaminzimmer, die Kapelle und das Büro der Projektleiterin. Hier können Einzelgespräche, Kleingruppenarbeit oder meditative Sitzungen stattfinden.

Multiplikatorenarbeit ist für das Projekt sehr wichtig

Multiplikatorenarbeit ist für das Projekt sehr wichtig. So gibt es Verbin­dungen zur Jugendhilfe der Städteregion, zum Kreis der Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, zur Katholischen Hochschule NRW in Aachen, zur RWTH, zur Universitätsklinik (insbesondere zur Palliativ­station und zur Kinderonkologiestation), zum Bildungswerk Aachen, zur Familienbildungsstätte Helene-Weber-Haus, zu IN VIA Aachen e. V. (fu­sioniert mit der Elternschule), zu Schulen und Kindergärten, zu den lo­ka­len Medien und zu anderen Kinder- und Jugendtrauerinitiativen. Das Projekt „diesseits“ ist Mitglied im palliativen Netzwerk Aachen, bei den Aachener Hospizgesprächen und in der diözesanen Trauerkonferenz. Auf ein gutes Netzwerk wird bei „diesseits“ großer Wert gelegt, weil es bei den zahlreichen Angeboten für Trauernde nicht um Konkurrenz gehen kann, sondern der Mensch in seiner Trauer im Mittelpunkt stehen sollte.

Unsere Arbeit im Projekt ist anspruchsvoll und anstrengend. Wir werden mit vielen tragischen Geschichten konfrontiert und manchmal kommen auch wir zu einem Punkt, an dem wir – von der Trauer sehr bewegt – nicht mehr weiterwissen. Zum einen ist es dann gut, in einem Team si­cher aufgehoben zu sein. Besonders genießen wir die unterschiedlichen Blickweisen, die durch das Lebensalter und die Lebenserfahrungen der unterschiedlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entstehen. Zum anderen helfen Supervisionen, Reflexionen und Gespräche, sich in der Rolle des Trauerbegleiters zu festigen und wieder neu gestärkt den Kin­dern und Jugendlichen zuwenden zu können.

Nicht zuletzt bekommen wir alle im Team – so trivial dieser Satz zu­nächst auch klingen mag – sehr viel zurück. Es ist so schön zu sehen, wie die Kinder zügig zu den wirklich wichtigen Themen kommen. Dies er­laubt eine intensive, authentische Arbeit mit der kindlichen Trauer. Im­mer wieder überraschen uns die Kinder in ihrer Art, mit Trauer umzuge­hen. Sie sind ganz tief in ihren negativen Emotionen und schon im nächs­ten Moment wieder frei davon. Wir lassen uns gern auf diese Sprunghaftigkeit der Kinder ein und profitieren von der sich ergebenden Dynamik. Wir wissen um die selbstschützenden Trauerpausen, die sich die Kinder nehmen, und gehen darauf ein. Dies unterscheidet die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen deutlich von der Arbeit mit Erwachsenen. Oft können wir die Impulse aufnehmen, die sie geben. Dabei lernen wir selbst sehr viel von den Kindern.

Kontakt:

Maria Pirch

Gemeindereferentin/Trauerbegleiterin
Gestaltberaterin in Integrativer Pastoralarbeit
Tel. : +49 (241) 413 10 226
Mobil: +49 (176) 206 145 30
E-Mail: pirch@remove-this.franziska-aachen.de
Pontstr. 148, 52062 Aachen