„Religion(en), Religiosität und religiöse Pluralität im Lichte quantitativer Sozial- und Religionsforschung“
Konferenz des „Zentrums für Quantitative Empirische Sozialforschung“
Das interdisziplinär verantwortete „Zentrum für Quantitative Empirische Sozialforschung“ vereinigt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Leipziger Universitätslandschaft mit Interesse an der Entwicklung und Anwendung von quantitativen sozialwissenschaftlichen Methoden. Für eine Konferenz am 26./27. Juni 2014 in Leipzig hatte das Zentrum das Thema Religion ausgewählt. (Gleichzeitig gibt es einen im deutschsprachigen Raum tätigen „Arbeitskreis quantitative Religionsforschung“, der sich seit 2010 zu jährlichen Tagungen trifft und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler v. a. aus den Bereichen Soziologie, Psychologie, Religionswissenschaften und Theologie mit quantitativ-empirischem Interesse am Querschnittsthema Religion versammelt. Zwischen diesem Arbeitskreis und den Teilnehmenden der Leipziger Konferenz bestehen größere personelle Überschneidungen.)
Das Zentrum setzt in seiner Arbeit die wissenschaftstheoretische Prämisse eines (hypothetischen) Realismus voraus. Dieser geht davon aus, dass die soziale Welt mit ihren Mustern bzw. Regel- und Gesetzmäßigkeiten unabhängig vom Forschenden existiert, und nimmt weiterhin an, dass die soziale Welt erforschbar ist; folglich gibt es „wahre Werte“, die durch die Anwendung empirischer Methoden erkennbar sind. Angestrebt werden also theoretisch begründete und empirisch überprüfte kausale Erklärungen von sozialen Phänomenen. Da zudem angenommen wird, dass die Gesetze der Logik und Mathematik auch in der sozialen Welt gelten, hat sich die Anwendung empirischer Methoden an den Kriterien der intersubjektiven Überprüfbarkeit und Validität zu orientieren. Die Überprüfung von kausalen Aussagen muss daher statistischen Anforderungen genügen (interne Validität), und Generalisierungen (Inferenzschlüsse) müssen wahrscheinlichkeitstheoretischen Erfordernissen (z. B. Zufallsstichproben) entsprechen (externe Validität). Forschungsprozesse müssen daher hinreichend standardisiert sein.
Die insgesamt 16 auf der Konferenz vorgestellten Papers stammen von Referentinnen und Referenten aus verschiedenen Teilen Deutschlands, der Schweiz und Island. Sie lassen sich bündeln zu den Panels „Religion und Lebenszufriedenheit“, „Religion und Bildung“, „Religiöse Pluralität, Bedrohungsszenarien und Vorurteile“, „Religiöse Sozialisation und (religiöse) Lebenspraxis“, „Individuelle Glaubensformen“ und „Religion, Politik und Zivilgesellschaft“. Im Folgenden sollen einige Schlaglichter auf ausgewählte Papers geworfen werden.
Der Kölner Soziologe Heiner Meulemann berichtete von einer Auswertung von Daten des so genannten Kölner Gymnasiastenpanels, innerhalb dessen 1969 erstmals 1301 damals 16-jährige Gymnasiasten ausführlich zu diversen Lebensthemen befragt wurden und drei Wiederbefragungen im 30., 43. und 56. Lebensjahr stattfanden. Erforscht wurde der Zusammenhang von Religiosität und Lebenszufriedenheit. Die alltäglich einleuchtende Nomisierungshypothese (Peter L. Berger), wonach Religiosität die Lebenszufriedenheit steigert (etwa weil sie Unglück und Ungerechtigkeit einen Sinn gibt), konnte nicht bestätigt werden; die Optimismusthese, wonach Lebenszufriedenheit eine optimistische Weltsicht mit sich bringt, konnte nur teilweise (bei der Befragung zum 43. Lebensjahr) bestätigt werden. Nach diesen Daten ist Religiosität also nicht kausal relevant für die Lebenszufriedenheit, eher sind dies bestimmte Facetten des Lebenserfolgs sowie übergreifende Mentalitäten, die Erfolge relativieren und Misserfolgen den Stachel ziehen. Religion ist laut Meulemann dann eher als ein „heiliger Baldachin“ für das Leben anzusehen, der das Leben rahmt oder überformt, ohne die Lebenszufriedenheit entscheidend zu beeinflussen.
Hans-Dieter Gerner und Christian Hohendanner vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung analysierten Daten der ersten fünf Wellen der von ihrem Institut durchgeführten Haushaltsbefragung „Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“, die knapp 15.600 Personen in über 10.000 Haushalten erfasst. Die Fragestellung war, ob aktive Religiosität ein funktionales Äquivalent nicht-kirchlichen zivilgesellschaftlichen Engagements ist, da schließlich sowohl aktive (kirchliche) Religiosität als auch aktive Mitgliedschaft in einem Verein in einem positiven Zusammenhang mit subjektiver Lebenszufriedenheit stehen. Kontrolliert man den Effekt der sozialen Teilhabe, rechnet also seinen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit heraus, so wird der positive Effekt kirchlicher Aktivität zwar schwächer, bleibt aber signifikant. Kirchliches Engagement erhöht also die Lebenszufriedenheit unabhängig von der sozialen Integration, die das aktive Engagement in der Kirche mit sich bringt. Kirche ist demnach „mehr als nur ein Verein“.
Immo Fritsche, Sozialpsychologe von der Universität Leipzig, thematisierte in seinem Paper die Funktionen von Religiosität für die Bewältigung existenzieller Bedrohung, die in experimentellen sozialpsychologischen Arbeiten untersucht wird. Welche Rolle spielt also Religion für das psychologische Grundbedürfnis nach (wahrgenommener) Kontrolle über wichtige Aspekte der Umwelt? Offensichtlich hat die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe und haben religiöse Vorstellungen einen Einfluss auf die Wiederherstellung von Kontrolle nach einer Bedrohung. Kann also Gott die Welt ordnen und so kontrollierbar machen, und habe ich selbst Einfluss auf Gott, z. B. durch Gebet? In den Untersuchungen zeigt sich, dass bei wenig religiösen Menschen eher magische Vorstellungen von einer Manipulierbarkeit Gottes zu finden sind, während religiös Versierte weniger daran glauben, Gott beeinflussen zu können.
Der Psychologe und Theologe Constantin Klein (Bielefeld) hinterfragte die in der Religionsforschung häufig angenommene Vierfelder-Typologie der Religiosität (1. weder religiös noch spirituell, 2. religiös, aber nicht spirituell, 3. spirituell, aber nicht religiös, 4. religiös und spirituell). Empirisch sind nämlich zusätzliche Mischformen zu beobachten. Clusteranalysen der Daten des Religionsmonitors 2008 und 2013 oder des ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage in den Sozialwissenschaften) 2012 ergaben z. B., dass eine Lösung mit vier Clustern noch keinen (hoch) spirituellen, aber nicht religiösen Typ ergibt; dieser taucht erst an sechster oder siebter Stelle der Clusterbildung auf. Eine Siebener-Typologie könnte also für künftige Religionsforschung adäquater sein.
Diese hier nur exemplarisch herausgegriffenen Ergebnisse zeigen, dass die (quantitativ-)empirische Religionsforschung eine Fülle von für die Pastoral relevanten Resultaten zutage fördern kann, die eine hohe interne wie externe Validität aufweisen und häufig weiterführender sein können als bloße repräsentativ angelegte und kaum theoretisch untermauerte Umfrageforschung. Sehr wünschenswert wäre eine viel engere Zusammenarbeit von pastoraler Praxis und empirischer Sozialforschung. In pastoraler Planung und Entwicklung sollten empirische Ergebnisse häufiger als bisher rezipiert werden (was freilich eine gewisse sozialwissenschaftliche Kompetenz erfordert) bzw. müssten die entsprechenden Studien stärker für die pastorale Ebene aufbereitet werden. Umgekehrt könnten aus der pastoralen Praxis vermehrt Anregungen für empirische Studien kommen (was wiederum eine gewisse Einschätzung der Chancen und Grenzen empirischen Arbeitens erfordert) und theologische Expertise in die Interpretation empirischer Daten einfließen.