Umkehr der Kirche. Wegweiser im Neuen Testament
„Wer Orientierung sucht, kommt am Neuen Testament nicht vorbei“ (7). In diesem Sinne nimmt Södings Beitrag zur aktuellen Reformdebatte in der katholischen Kirche in den letzten Jahren erschienene Texte auf und stellt sie gekonnt zusammen. Södings Grundsatz, dass das Neue Testament in der Diskussion ein maßgeblicher Wegweiser ist, beruht u. a. auf der exegetischen Erkenntnis, dass erst das neutestamentliche Schlüsselwort „Umkehr“ verstehen lässt, was „Reform“ heißen kann. Eine biblisch verstandene Umkehr meint eine Kehrtwende des Lebens, die Gott „ins Spiel kommen“ lässt und nicht nur Institutionen, sondern auch den Menschen selbst in den Blick nimmt. Das NT beschreibt dabei eine dynamische und faszinierende Kirche – keine, die bereits etabliert ist. Diese Kirche lebt in einer religionspluralistischen Welt, in der christliche Identität „weder durch Verschmelzung noch durch Rigorismus“ (15), sondern durch Dialog und Kritik und im Vertrauen auf das Evangelium erlangt wird. So identifiziert Söding acht Themenfelder, in denen sich biblische Orientierungspunkte verdichten: der Auftrag der Kirche, das Leben der Kirche, die Reform der Kirche, Frauen für die Kirche, Dienste und Ämter in der Kirche, Eucharistie, Spiritualität und schließlich die Frage der Solidarität.
Unter der Überschrift „Der Auftrag der Kirche“ kommt in Kapitel I (16–55) zunächst die Frage nach dem Verhältnis von Evangelium und Gemeinde im NT zur Sprache. Die frohe Botschaft, dass Gott seine Herrschaft für alle Menschen, besonders für die Armen, nahekommen lässt, stellt einen heilszusagenden Zuspruch dar und ist so zugleich ein Anspruch, ein Ruf zur Umkehr, der die Aufforderung zum Glauben und zur Solidarisierung mit Jesus selbst beinhaltet. Das Evangelium, die „Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt“ (Röm 1,16 f.), drängt aber auch zur Gemeindebildung, welche konkrete Form auch immer diese annehmen sollte. Nach den enthusiastischen Aufbruchserfahrungen sind der Schrift jedoch auch die die Mühen der Ebene nicht fremd. Besonders im Hebräerbrief erscheint die Kirche als wanderndes Gottesvolk, als Weggemeinschaft, „die weiß, dass sie noch lange nicht am Ziel angelangt ist, sondern noch einen weiten Weg vor sich hat“ (42). Auf diesem Weg aber folgt die Kirche Jesus, dem „Anführer/Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12,2) – auch heute. In einem weiteren Schritt kommt die Pluralität in den Blick. Schon im NT begegnen Einheit und Vielfalt, wobei „die Einheit des Glaubens … die Einheit [und] der Reichtum des Glaubens die Vielfalt der Kirche“ (43) begründet. Deutlich ist hierbei schon, dass die Einheit (vgl. z. B. die Gemeinschaft der Apostel) nicht Uniformität bedeutet, sondern Vielfalt, die allerdings nicht beliebig sein darf: „Das Evangelium hat so viele Stimmen, wie es Verkündiger hat; und es schafft so viele Weisen der Bejahung, wie es Hörer findet“ (46).
Kapitel II (56–107) widmet sich drei wesentlichen Charakteristika im „Leben der Kirche“: missionarisch, kooperativ und konstruktiv. Im Blick auf das Missionarische erscheint es maßgeblich, dass die verschwindend kleine Minderheit, die die Kirche in der religionspluralistischen Antike darstellte – und die sie in eine Situation reich an Konflikten und Anpassungsdruck führte –, eine ekklesiale Identität und missionarische Kraft jenseits von Rigorismus und Synkretismus entwickelte (58). Dies gelang a) durch kleine Gemeinschaften, die sich durch ein Netz persönlicher Bekanntschaften auszeichneten, b) durch den Aufbau geschwisterlicher Gemeinden, in denen das Leben gemäß dem Leib-Christi-Symbol (1 Kor 12; Röm 12) „auf der Vielfalt der charismatischen Begabungen“ (60) beruhte. Gerade sein Dienstamt verstand Paulus darin, „der Gemeinde zu helfen, die Vielzahl der ihr geschenkten Begabungen zu erkennen und in ihrer Vielfalt zum Zuge kommen zu lassen“ (60). Hier wird auch der kooperative Charakter der Kirche deutlich, da die Charismen, die Gnadengeschenke Gottes, auf den Aufbau der Gemeinde gerichtet sein sollen (1 Kor 14). Diese organische Vielfalt der Ämter und Dienste ermöglicht das Glaubensleben der Ekklesia – dies wiederum eröffnet Möglichkeiten einer kooperativen Pastoral. Mission gelingt im NT darüber hinaus c) durch die Faszination, „die von den Christengemeinden vor Ort auf die heidnische Umgebung ausgegangen ist“ (61) und schließlich d) durch Abgrenzung und Widerstand, Offenheit und Dialog. Eine für die eigene Identität notwendige Abgrenzung von der Umwelt führte nicht zu einer Abschottung, sondern vielmehr zu einer Inkulturation, die neutestamentlich auch bedeutet, „durch Eingehen auf die Geisteswelt, die Sehnsüchte, Hoffnungen und Erwartungen der Adressaten neue Dimensionen des christologischen Heilsgeschehens wahrnehmen und artikulieren zu können“ (63 f.). Gerade dies liest sich auch heute wie ein pastorales Programm – man denke nur an Gaudium et spes 1 –, auch wenn Söding anfügt, dass „Pastoralpläne“ im Neuen Testament in der Sache nicht zu finden sind. Der „Masterplan“ der Urgemeinde bestand vielmehr darin, den Glauben vor Ort zu entdecken und die Sprache der Menschen zu sprechen, die das Wort Gottes hören sollen: Voraussetzung von Mission war also „eine intensive Reflexion der Gemeindewirklichkeit“ (81).
Die Frage des Gemeindeaufbaus leitet über zu Kapitel III„Die Reform der Kirche“ (108–142). Eine Reform nach biblischem Vorbild kommt an der Umkehr nicht vorbei, einer Umkehr hin zu Jesus Christus – es handelt sich also um eine „Wiedergewinnung des Ursprünglichen, des Wesentlichen und Authentischen“ (111). So konstatiert Söding, dass die „einzige Diskussion über eine Reform der Kirche, die sich lohnt, … sich darum [dreht], wie der Glaube heute verbindlich und verständlich bezeugt werden kann“ (109). Besonders im Blick auf urchristliche Lebensformen und Gemeindemodelle steht die neutestamentliche Pluralität nicht für eine Unsicherheit, sondern für die „Fähigkeit der Inkulturation“ (113), der Fähigkeit, der Vielfalt der Begabungen gerecht zu werden. Dem entspricht ein Verständnis des Katholischen, das davon ausgeht, dass Kirche alle und alles versammeln will, um alle und alles zu heilen und zu heiligen (vgl. Henri de Lubac, Catholicisme, Paris 1983). Auf dieser Linie liegt auch das von Söding aufgegriffene Verhältnis von Welt und Kirche, das besonders nach der Freiburger Rede (2011) von Papst Benedikt XVI. und dem dort in die Debatte eingebrachten Begriff der „Entweltlichung“ diskutiert wurde. Deutlich ist für Söding dabei, dass hier weder eine weltfremde noch eine weltvergessene Kirche gefordert wurde, sondern eine verweltlichte, also eine sich selbst überflüssig und unnötig machende Kirche abgelehnt wird. So stellt Söding die Frage: „Was hat die Kirche, was die Welt nicht hat?“ (141), und lässt sie Benedikt XVI. beantworten: „Unser erster … Dienst muss es sein, … die Gegenwart des lebendigen Gottes zu bezeugen und damit der Welt die Antwort zu geben, die sie braucht“.
Nach der Besprechung dieser grundsätzlichen Problematik wendet sich Söding den eher „internen“ Fragen zu: Frauen, Dienste und Ämter, Eucharistie, Spiritualität. In Kapitel IV (143–161) erscheint der neutestamentliche Textbefund im Blick auf die „Frauen für die Kirche“ zunächst deutlich: Der erste europäische Christ ist eine Frau, Lydia (Apg 16,11–40); Paulus verweist auf die Aufhebung aller diskriminierenden Unterschiede (Gal 3,28), und auch darüber hinaus finden sich Frauen in kirchenleitenden Funktionen. Daneben gibt es im NT aber auch eine offene und verborgene Frauenfeindlichkeit (1 Kor 14,34; Kol 3,18; Eph 5,22; 1 Petr 3,1; 2 Kor 11,3; 1 Tim 2,14). Insgesamt gibt es einen biblischen Hintergrund „sowohl der sozialen Unterdrückung als auch der politischen Emanzipation der Frauen“ (148). In diesem Zusammenhang diskutiert Söding auch die Frage der Zulassung von Frauen zum Priesteramt. Hier weist er darauf hin, dass u. a. das Apostolische Schreiben Ordinatio sacerdotalis eine Schwäche in der Aufnahme des differenzierten biblischen Befundes hat, z. B. bei der Wahrnehmung von Frauen in kirchenleitenden Positionen im NT. Auch wenn die „katholische Amtstheologie … eine Entwicklungslinie, die das Neue Testament anlegt, konsequent ausgezogen“ (160) hat, ist aber das „amtstheologische Potential des [NT] … mit dem dreifachen Dienstamt des Bischofs, Priesters und Diakons nicht schon ausgeschöpft“ (160). Vielmehr könn(t)en neue Ämter für Männer und Frauen entstehen, „die neuen Diensten eine neue Form geben“ (161). An anderer Stelle sprach Söding im Blick auf eine Aktualisierung der paulinischen Charismenlehre davon, dass „das Neue Testament [hier] … mehr zu bieten [hat], als die Kirche daraus gemacht hat“ (Interview in der Wiener Kirchenzeitung „Der Sonntag“, 22.05.2014). Kapitel V (162–192) schließt sich so mit der Frage nach „Diensten und Ämtern in der Kirche“ nahtlos an. Dabei kommen das Zueinander von Charismen und Ämtern, das Bischofsamt und das Verhältnis von Petrus und Paulus zur Sprache. Gerade Letzteres macht deutlich, dass einer allein nicht ausreicht: „Paulus hätte die Kirche nie zusammenhalten können; er hat sie vorangetrieben. Petrus hatte nie die Energie des Paulus; aber er ist der Hirte“ (190).
Kapitel VI (193–216) geht der „Eucharistie“ nach, die die Kirche „nicht mit allen, aber für alle“ (193) feiert und aus der heraus sie lebt (vgl. die Enzyklika Ecclesia de Eucharistia, 2003). Hier kommen sowohl liturgische als auch biblische und dogmatische Überlegungen zum Zuge, die helfen, den (einschließenden) Sinn des Sakraments zu erschließen.
Kapitel VII (217–255) widmet sich der „Spiritualität“. Besonders hingewiesen sei hierbei auf Södings Ausführungen zur religiösen Sprachnot (247–255). Er fordert eine „Alphabetisierungskampagne“, einen „religiösen Sprachunterricht“ (247). Ausgehend von der Feststellung, dass es nicht mehr bekannt sei, worum es im Glauben eigentlich gehe, erscheint eine elementarisierte Erschließung eines „Grundwortschatzes des Glaubens“ (248) notwendig. Katechismen sind hier jedoch zweitrangig, da als primäre Quellen vor allem Liturgie und Bibel in den Blick kommen. Sie erschließen den Grundwortschatz und erzählen „gleichzeitig die großen Geschichten des Glaubens“ (249). Für die ganze Schrift aber erscheint Jesus Christus als „Mitte“, als „Gravitationszentrum“, wobei Söding aber eine ursprünglich immer schon christologische Aussageintention der alttestamentlichen Texte zurückweist (254). Das Ziel der Alphabetisierungskampagne ist für Söding, einen „Zugang zur Glaubenssprache der Bibel“ und „damit Zugänge zu den Wurzeln [der] eigenen [christlichen] Identität“ (255) zu ermöglichen – eine religiöse Alphabetisierung zielt also darauf ab, die eigene Muttersprache besser zu beherrschen. Kapitel VIII (256–279) rundet das Thementableau mit der Frage nach der „Solidarität“ ab. In der Nachfolge Jesu muss die Kirche Brot für die Welt sein, den Schrei nach Gerechtigkeit hörbar machen und für jedwedes bedrohte Leben eintreten.
Södings überaus lesenswerte Beschreibung neutestamentlicher Wegweiser für eine Umkehr der Kirche ist notwendig und weiterführend. Einige Punkte seien noch einmal benannt: Umkehr in der Orientierung an Jesus Christus, Ernstnehmen des Wegcharakters des Christseins, Ineinander von Einheit und Vielfalt, Mission, kooperative Pastoral, Inkulturation, Dienst an der Welt, Charismenvielfalt, religiöse Alphabetisierungskampagne, Barmherzigkeit – und bei allem zentral: die Erneuerung des Glaubens. Auch wenn das Neue Testament selbst nicht als pastorale Blaupause dienen kann, so hat es doch auch heute einiges zu sagen. Zu bedenken ist hier auch, dass jede „Kirchenreform, die zu einer Vitalisierung des Glaubens geführt hat, sich am Neuen Testament zu orientieren versucht hat“ (111). Söding weist mit seinen neutestamentlichen Wegweisern einen Weg, der eine Vertiefung und Ausfaltung wert ist, denn das Neue Testament liefert der Reformdebatte in der katholischen Kirche die eigentliche Pointe: Die entscheidende Inspiration muss von Jesus kommen. So erscheint die Erneuerung des Glaubens als eigentlicher Schlüssel für eine Kirchenreform. Dabei hilft ein Sich-Einlassen auf das Neue Testament – und zwar um zu hören, „was der Geist den Gemeinden sagt“ (Offb 2,11).
Markus-Liborius Hermann