Iss das Buch und werde zum Buch!
Wie Schrift, Glaubensgemeinschaft und Einzelne/r zusammengehören
Der Prophet Ezechiel beschreibt seine Berufung zum Schriftpropheten so: In einer Vision hält ihm eine ausgestreckte (göttliche) Hand eine Schriftrolle hin und fordert ihn auf zu essen. Die Schriftrolle ist beidseitig beschrieben, auf ihr finden sich Klagen, Seufzer und Weherufe von Menschen. Ezechiel isst die Schriftrolle, sie wird in seinem Munde süß wie Honig. Zusätzlich erhält Ezechiel den Auftrag, Gottes Wort dem Volk Israel, besonders den Verschleppten in Babylon, zu verkünden (Ez 2,8–3,11).
Was beschreibt diese Vision? Ganz und gar hat sich dieser Prophet offensichtlich die Schrift seines Volkes zu eigen gemacht, er hat sie sich einverleibt, bevor seine Verkündigung selbst zu einem Teil der heiligen Schriften, nämlich zum Buch Ezechiel wurde. Menschen- und Gottesworte gehen in dieser Vision in den sehr lebendig dargestellten Prozessen des Essens, Schmeckens, Verdauens der Schriftrolle und Sprechens/ Handelns des Propheten eine enge Verbindung miteinander ein. Sie verflechten sich, sind im Leib und Leben Ezechiels wie zusammengebunden. Die Schrift des Volkes nährt den herausragenden Priester-Propheten des babylonischen Exils, sie verbindet ihn körperlich mit seinem Volk, dessen Schriftworte er empfängt und dem er aber auch neue Worte sagen wird.
Schrift – von der Gemeinde für die Gemeinde
Die Ezechielvision beschreibt viel mehr als eine Prophetenberufung. Sie gibt uns Auskunft, woher Heilige Schrift kommt, wozu sie da ist, wie heilige Schriften und Wort Gottes neu entstehen: Ezechiels Nahrung ist eine Schriftrolle, auf der die Lebens- und Gotteserfahrungen seines Volkes in dunkler Zeit aufgezeichnet sind. Diese Schrift liegt dem Propheten vor, sie wird seine Nahrung. Aber sie verwandelt sich in dem Vorgang des Essens zu einer Süßigkeit und wird später durch neue Gottes- Worte des Propheten angereichert werden. Was Ezechiel erlebt, kann uns daran erinnern, dass die heiligen Schriften viel weniger geniale Texte von Einzelautoren sind als vielmehr geronnene Erfahrungen von Glaubensgemeinschaften, die diese aufschreiben, tradieren und irgendwann auch in der Endform eines Textes und der Zusammenstellung mit anderen heiligen Büchern autorisieren und so „kanonisieren“. Die Ezechielstelle zeigt, dass die Schriftwerdung in Prozessen abgelaufen sein kann, die mehrere Zeiten miteinander verknüpfen: Biblische Texte, die von den Glaubensgemeinschaften als Nahrung weitergereicht werden, werden angesichts einer neuen Wirklichkeit, in einem neuen historischen Kontext neu verkostet und fortgeschrieben. Die Schriften, die in den Gemeinschaften immer wieder neu gelesen werden, können fortgeschrieben werden (Relecture). Aber auch neue Schriften können entstehen, die das Alte aufnehmen, wie zum Beispiel im neutestamentlichen Buch der Offenbarung, das auch von unserer Ezechielvision und weiteren alttestamentlich-prophetischen Texten inspiriert ist (vgl. nur Offb 10,8–11).
Eigentlich beschreiben wir hier etwas ganz Selbstverständliches: Wenn wir Bibel lesen, dann ist der Bibelkanon, d. h. die Sammlung der Schriften unserer Glaubensgemeinschaften, der Kontext, der unser Lesen bestimmt. Schon was „Heilige Schrift“ ist, bestimmt die Lesegemeinschaft, die jüdische, die christliche – die evangelische, die katholische. Sie legt uns ein Buch mit Schriften in die Hand, das wir als Anker unserer Identität und für unsere Zukunft und Lebensgestaltung brauchen, weil es uns Orientierung für unser Leben und unseren Glauben gibt.
Gotteswort in Menschenwort
Das 2. Vatikanische Konzil hat auf der Suche danach, wie der inspirierte Charakter der biblischen Schriften charakterisiert werden könnte, die glückliche Formulierung „Gotteswort in Menschenwort“ gefunden (DV 12), die exakt das beschreibt, was wir auch in der Ezechielvision vorfinden. Aber die Konzilskonstitution Dei verbum geht noch einen Schritt weiter: Das Verhältnis von Göttlichem und Menschlichem in der Heiligen Schrift wird mit dem christologischen Dogma parallelisiert: Jesus Christus ist das Fleisch gewordene „Wort Gottes“ (Joh 1,1–18), „wer ihn sieht, sieht auch den Vater (vgl. Joh 14,9)“ (DV 4); Christus setzt sich gleichsam zu uns, wenn wir die Schrift lesen.
Die Zuwendung Gottes zu den Menschen hat sich im Christusereignis manifestiert, ist jedoch keineswegs darauf beschränkt. Die Bischofssynode in Rom im Oktober 2008 hat diesen Gedanken aufgegriffen und weitergeführt. In ihrer Schlussbotschaft an das Volk Gottes schreiben die Teilnehmer: „Das Wort Gottes geht der Bibel voraus und über die Bibel hinaus“. Wer dieses Offenbarungsverständnis der katholischen Kirche teilt, wird nicht der Gefahr eines engen Biblizismus erliegen. Das Wort Gottes kündet von der Macht und dem Willen Gottes, sich seinen Geschöpfen mitzuteilen und mit ihnen in Dialog zu treten. Denn Gott spricht zu uns in vielerlei Weise: Das Wort Gottes können wir in der Bibel, in unserem Leben, in der gesamten Schöpfung vernehmen. Die Kirchenväter sprechen – um diese Erfahrung ins Bild zu setzen – von den zwei großen Büchern Gottes, die wir miteinander lesen sollen: Das erste ist das Buch des Lebens, in dem Gott sich den Menschen mitteilt; das zweite Buch ist die Schrift, die für Christen und Juden ebenfalls lebendiges Wort Gottes ist.
Schrift essen in meinem Leben – im Leben meiner Kirche
Wenn ich die Ezechielstelle im Blick auf mein Leben anwende, dann frage ich mich, an welchen Punkten ich eigentlich Berührungen mit der Schrift erfahren habe. Ich bin erstaunt, wie viel mir dazu einfällt, obwohl ich in einer gut katholischen Familie in den 1960er Jahren aufgewachsen bin, in einer Zeit, in der es zunächst einmal nicht katholische Tradition war, selbstständig in der Bibel zu lesen. Trotzdem ist auch meine Jugend in meiner Wahrnehmung überhaupt nicht bibelfern gewesen: In den Gottesdiensten, die ich mit meiner Familie Sonntag für Sonntag und in der Klosterschule hinzu noch einmal wöchentlich werktags besuchte, lauschten wir den Lesungen der Schrift und ihrer Auslegung in der Predigt. Für den Religionsunterricht in der Grundschule und Unterstufe kann ich mich ausschließlich an biblische Inhalte erinnern.
Im Laufe der Zeit kamen noch weitere Begegnungen mit der Schrift hinzu, so dass ich mehr und mehr „zu kauen“ bekam: Exerzitien, von unserer Schule angeboten, waren immer biblisch ausgerichtet. In der Oberstufe und im Studium folgte die Begegnung mit der historisch-kritischen Exegese, in den 80er/90er Jahren erste Seminare zur feministischen Bibelauslegung, meine Promotion im Neuen Testament. Noch ganz in den Fängen der wissenschaftlichen Exegese verfangen, begann ich meine Tätigkeit im Katholischen Bibelwerk als wissenschaftliche Referentin. Im Rahmen meiner Kurstätigkeiten dort erlebte ich die Gemeinschaft der Gläubigen/die Kursteilnehmer oft als kritische Instanz gegenüber bibelwissenschaftlichen Hypothesen und neuen Ideen. Ganz besonders aber, seitdem ich mich mit der Lectio divina beschäftige, bin ich restlos vom Glaubenssinn aller Gläubigen (sensus fidelium) überzeugt, d. h. dass in der Lektüre und Relecture die Glaubenden als Gemeinschaftskontext die Schrift auslegen – und sie so gewissermaßen immer „weiterschreiben“ und damit selbst genährt und immer mehr Gemeinschaft im Glauben werden.
Die Glaubensgemeinschaft, die mir die Schrift gereicht hat und heute noch reicht, umfasst das ganze Volk Gottes: Priester, Lehrerinnen, Universitätsprofessoren, einfache Gläubige. Damit decken sich meine Erfahrungen mit dem, was im Dokument der Päpstlichen Bibelkommission von 1993 nachzulesen ist: „Da die heiligen Schriften der Kirche geschenkt wurden, sind sie ein gemeinsamer Schatz des ganzen Volkes der Gläubigen […] Dem Hören des Wortes entspricht der ‚Glaubenssinn‘ (sensus fidei), der das ganze Volk (Gottes) auszeichnet (vgl. Lumen Gentium, 12). […] So haben alle Glieder der Kirche eine Rolle bei der Interpretation der heiligen Schriften zu übernehmen. […] Der Heilige Geist ist natürlich auch den einzelnen Christen und Christinnen gegeben, so dass ihr Herz ‚in ihnen brennt‘ (vgl. Lk 24,32), wenn sie im persönlichen konkreten Lebenszusammenhang beten und sich betend die heiligen Schriften aneignen. Deshalb verlangt das 2. Vatikanische Konzil dringend, dass der Zugang zu den Schriften auf alle mögliche Arten erleichtert werde (Dei Verbum, 22; 25). Man darf nie vergessen, dass eine solche Lesung der Heiligen Schrift nie rein individuell ist, denn der Gläubige liest und interpretiert die Heilige Schrift immer innerhalb des Glaubens der Kirche, und er vermittelt in der Folge der Gemeinschaft die Frucht seiner Lektüre und bereichert so den gemeinsamen Glauben“ (Päpstliche Bibelkommission 1996, III.B.3).
Die Schrift ist also nicht nur Lehr-, Studienbuch und Fundgrube für theologische Argumente; sie ist heilswirksames Lebensbuch und kann im Lebenszusammenhang der Gläubigen zu sprechen beginnen.
Lectio divina – Gott begegnen im Wort
Seit den 70er Jahren ist – angestoßen durch das 2. Vatikanische Konzil – weltweit eine Rückbesinnung auf eine Leseform zu beobachten, die so alt ist wie die Bibel selbst: die Lectio divina, wörtl. „göttliche Lesung“, die eine Lektüre der biblischen Texte im Horizont der eigenen Lebens- und Glaubenserfahrungen beschreibt. Diese spirituelle Leseform nimmt in verschiedenen Lebenskontexten und Zeiten verschiedenste „Gewänder“ an. Sie wird in methodische Schritte eingekleidet, die je nach Lesekontexten und gesellschaftlichen Kultur- und Bildungsstandards unterschiedlich ausgestaltet sind, aber doch alle ein gemeinsames Ziel haben: Bibel so zu lesen (lectio), dass sie zum lebendigen und bewegenden Wort Gottes (divina) wird. Insofern diese Lektüreform in den christlichen Glaubensgemeinschaften beheimatet ist, ist die Lectio divina viel mehr als eine Methode, Bibel zu lesen. Sie ist vor allem auch eine andere Form, Kirche zu sein und Nachfolge zu leben. Dies wurde vor allem in den Kleinen Christlichen Gemeinschaften und Basisgemeinden in Lateinamerika, Afrika und Asien ausprobiert. Die für diese Gemeinschaften entwickelten Leseformen sind in Europa unter dem Namen „Bibel-Teilen“ (gospel sharing) bekannt geworden, die kleinen Gruppen, in denen Lectio divina geübt wird, kennen wir als „Kleine Christliche Gemeinschaften“.
Zur Geschichte der Lectio divina
Schon die neutestamentlichen Texte entstehen auf dem Hintergrund des intensiven Lesens, Meditierens und der Neuinterpretation der alttestamentlichen Traditionen im Licht der eigenen Lebens- und Glaubensgeschichte mit Jesus von Nazaret, der darum als Messias (Christus) bekannt wird. Die Emmausperikope erzählt exemplarisch von einer solchen biblischen Lectio divina: Jesus lehrt die Jünger, ihre aktuelle Lebenssituation mit den Worten der Schrift (Tora und Propheten) zu verbinden. Diese werfen ein neues Licht auf die traumatische Erfahrung mit dem Kreuzestod Jesu, sie offenbaren den Jüngern neue Sinndimensionen und Interpretationsmöglichkeiten der Ereignisse („Musste nicht der Messias all das erleiden?“ [Lk 24,25–32]).
Die Kirchenväter, Asketen und ersten Mönche des 3.–6. Jh. raten zu einem entsprechenden Studium der Schriften, allerdings noch ohne eine festgelegte Methodologie, ohne feste Schritte im Leseprozess. Erstmals empfiehlt Origenes in einem 238 n. Chr. an seinen Schüler Gregor gerichteten Brief, mit Ausdauer in den Schriften zu lesen (lectio) und diese Lektüre mit dem Gebet (oratio) zu begleiten, „um die Dinge Gottes zu verstehen“ und „Sinn zu finden“. Intellektuelles Verstehen und Beten werden nicht voneinander getrennt, sondern die betend-hörende Haltung ermöglicht für Origenes ein ständig sich vertiefendes Verständnis der Schrift. Der/die Lesende ist nicht „Herr über den Text“, sondern geht in der beharrlichen und betenden Lektüre in einen dialogischen Prozess hinein, muss immer wieder „anklopfen“ und „suchen“, wird aber auch „finden“. Auch andere große Kirchenlehrer empfehlen die Lectio divina. Kassian († 435) versteht sie als ständige Meditation, die den Menschen durchtränkt und nach Gottes Bild umformen wird. Gregor der Große (ca. 540–604) entwickelt das „innere Wiederkäuen des Wortes“, die ruminatio, die das wiederholend „murmelnde“ Rezitieren biblischer Verse ebenso bezeichnet wie das wiederholende Lesen der Schriftstelle (vgl. Ps 1,2). Erst im ausgehenden Mittelalter, im 12. Jh., entwickelt der Kartäusermönch Guigo eine festgelegte Form der Lectio divina, die er im Bild einer Leiter zum Himmel mit den vier bis fünf Stufen Lesen, Meditieren, Gebet, Kontemplation (und Aktion) beschreibt (vgl. Guigo, Scala claustralium). Die Stufen können im Prozess mehrfach wiederholt werden.
Lectio Divina – Himmelsleiter, süße Speise
Auf Guigo den Kartäuser gehen zwei Bilder für die Lectio divina zurück, die uns wieder zum Ezechieltext zurückdenken lassen – das Bild von der Himmelsleiter und der festen Speise: „Als ich eines Tages bei der Handarbeit war, fing ich an, über die geistlichen Übungen des Menschen nachzudenken. Da kamen mir plötzlich vier geistliche Stufen in den Sinn: Lesung, Meditation, Gebet, Kontemplation. Das ist die Leiter, auf der die Mönche zum Himmel steigen. Sie hat nur wenige Stufen, dennoch ist sie unermesslich und unglaublich hoch.“ Das Lesen der Schrift, die Meditation, Gebet und Kontemplation vergleicht er mit vier Schritten der Nahrungsaufnahme. So führe die Lesung „die feste Speise gewissermaßen zum Mund, die Meditation zerkleinert und zerkaut sie, das Gebet schmeckt sie, und die Kontemplation ist die Süßigkeit selbst, welche beglückt und belebt“. Dabei gehören die vier Stufen untrennbar zusammen, da „die Lesung ohne Meditation dürr ist, die Meditation ohne Lesung in die Irre geht, das Gebet ohne Meditation lau und die Meditation ohne Gebet unfruchtbar ist. Das hingabevolle Gebet ist fähig, die Kontemplation zu erlangen, das Erlangen der Kontemplation aber ohne Gebet ist selten oder ein Wunder“.
Diese klassische Form der Lectio divina verschwindet ab dem 16. Jh. zunehmend, taucht aber im Jahr 1950 unter Pius XII. in einem Dokument der Bibelkommission wieder auf, wo sie für Priester empfohlen wird. In der Konzilskonstitution Dei verbum (Nr. 25) des 2. Vatikanischen Konzils wird sie schließlich für „alle an Christus Glaubenden“ geöffnet. Im Reflex auf die Empfehlung des Konzils und der Öffnung der geistlichen Schriftlesung auch für Laien entstehen in den 70er/80er Jahren des 20. Jahrhunderts vielfältige Formen der Lectio divina vor allem in Asien, Lateinamerika und Afrika. In Deutschland werden die dort entwickelten Formen übernommen, wie das „Bibel-Teilen in sieben Schritten“ (Lumko-Methode). Seit einigen Jahren gibt es auch eigene kontextuelle Zugänge, die am Ende dieses Beitrags vorgestellt werden.
Lectio divina – eine Möglichkeit für die Glaubensgemeinschaft heute?
Sicherlich war der erste „Sitz im Leben“ der Lectio divina die persönliche, individuelle Schriftlektüre. Sie wurde aber in der Praxis der Ordensgemeinschaften schon früh bei gemeinschaftlichen Versammlungen genutzt, die der Lesung und Auslegung der Schrift dienten. Nach dem 2. Vatikanischen Konzil und in der Praxis der Kleinen Christlichen Gemeinschaften und Basisgemeinden in Afrika, Lateinamerika und Asien hat sich diese Form dann ausdrücklich gemeindlichen Gruppen bzw. „allen Gläubigen“ geöffnet, wie die folgenden Beispiele zeigen.
Formen der Lectio divina
I. Die „klassische“ Form der Lectio divina in 4–5 Schritten
Die im 12. Jahrhundert von Guigo beschriebene Lectio divina in vier Stufen oder Schritten wird bis heute für die Einzel- oder Gruppenlektüre angewandt. Die einzelnen Schritte dieser Form sind dabei nicht ganz genau voneinander abgrenzbar und können auch unterschiedlich lang ausgedehnt bzw. wiederholt werden.
- Lesen (lectio)
Im ersten Schritt stehen das aufmerksame Lesen des Bibeltextes, das Erfassen seiner literarischen Eigenarten sowie die Einsammlung von Wissen zu dieser Stelle im Mittelpunkt. Dazu wird eine Schriftstelle aufmerksam und mehrmals (z. B. in unterschiedlichen Übersetzungen, im Urtext …) gelesen. Im Zentrum steht die Frage: Was sagt der Text? Auch Kommentare und Texte aus der Tradition der Kirche können/sollten hinzugezogen und gelesen werden. - Bedenken (meditatio)
Im zweiten Schritt wird über den biblischen Text in einer sehr persönlichen Weise nachgedacht: Was will mir Gott durch diesen Text sagen? Der Text wird zum lebendigen Wort Gottes, er zeigt seine Bedeutung für das Leben jetzt. - Beten (oratio)
Die persönliche Besinnung führt zur Antwort auf das Wort: Was lässt mich der Text zu Gott sagen? - Betrachten (contemplatio) und Tun (actio)
In der letzten Stufe werden alle eigenen Vorstellungen, Überlegungen, auch Gebete losgelassen. Die Beschäftigung mit dem Wort Gottes darf wirken oder, wie Guigo es sagt, „verkostet“ und genossen werden. Kontemplation heißt: ruhen, sich dem Wort überlassen und im Alltag dann im veränderten Tun (actio) erleben, wie die Beschäftigung mit dem Wort im Lebensalltag weiter wirkt.
II. Das Bibel-Teilen in sieben Schritten / Lumko-Methode
Die in Deutschland bekannteste Form der Lectio divina ist das sogenannte „Bibel-Teilen in sieben Schritten“. Es wurde in den 70er/80er Jahren von den europäischen Missionaren und späteren Bischöfen Oswald Hirmer und Fritz Lobinger für Kleine Christliche Gemeinschaften in Südafrika entwickelt, um Vitalität in die südafrikanische Kirche zu bringen. Diese Form wurde auch in anderen Ländern Afrikas, später auch in Asien (AsIPA) und Europa erfolgreich praktiziert. Auch in Deutschland wird diese Form vielerorts geübt. Leiten kann und sollte das Bibel-Teilen-Treffen jede/r in der Runde. Der/die Leiter/in muss kein Bibel-Experte sein, sondern nur für die Einhaltung der sieben Schritte des Treffens sorgen, sie moderieren, beginnen und beenden. Die „sieben Schritte“ sind in Kurzform:
- Schritt: Einladen
In einem Gebet wird Jesus Christus in der Mitte der Teilnehmenden begrüßt. - Schritt: Lesen
Die Bibelstelle wird laut vorgelesen. - Schritt: Verweilen
Alle suchen nun Worte oder kurze Sätze aus dem Text und sprechen sie mehrmals laut und betrachtend aus. Dazwischen werden kurze Besinnungspausen eingelegt. Zum Schluss kann der Text nochmals im Zusammenhang vorgelesen werden. - Schritt: Schweigen
Nun werden alle für kurze Zeit ganz still und lassen in der Stille Gott zu sich sprechen. - Schritt: Teilen
Alle tauschen sich darüber aus, welches Wort sie angesprochen hat. - Schritt: Handeln
Alle sprechen jetzt darüber, welche Aufgabe sich ihnen nach der Lektüre der Schriftstelle zeigt. Sie verabreden evtl.: Wer tut was mit wem bis wann? - Schritt: Beten
Den Abschluss bildet eine Gebetsrunde.
III. Hören – bedenken – antworten. Ein biblisch-meditativer Impuls
Dieser von Egbert Ballhorn an der Bibelschule Hildesheim für Pfarrgemeinderats-Sitzungen entwickelte kurze geistliche Impuls in Form eines Dreischritts ist eine der neuen kontextuellen „deutschen“ Formen. Die Bibel wird in der gemeinschaftlichen Lesung nicht innerhalb einer eigens dafür zusammengerufenen Bibelgruppe gelesen, sondern der kurze Bibeltext dient als Impulsgeber zur Eröffnung von Sitzungen, Tagungen aller Art in christlichen Gemeinschaften. Als Bibeltext bietet sich eine Schriftstelle des Kirchenjahrs an oder ein zum Sitzungsthema passender Bibeltext. Der Impuls selbst dauert ca. 10 min. Nur der Leiter/die Leiterin hat eine Bibel, die anderen hören zu.
- hören
Der Bibeltext wird in Ruhe vorgelesen. - bedenken
Gemeinsames Schweigen über den Text (1–2 Minuten). An das Schweigen schließt sich ein „Echo“ des Textes an: Die Anwesenden sprechen in das Schweigen jene Worte, die in ihnen nachklingen. Hier gibt es keine Regeln. Man kann mehrmals etwas sagen; es macht auch nichts, wenn manche Dinge mehrfach kommen. Diese Phase dauert 3–4 Minuten. - antworten
Den Abschluss bildet ein Gebet (Vaterunser oder Psalm oder ein kurzes, frei formuliertes Gebet, das einen Aspekt des meditierten Bibeltextes aufgreift).
IV. „Dem Wort auf der Spur“ – Lectio-divina-Projekt des Katholischen Bibelwerks
Das neu für Gruppen entwickelte Lectio-divina-Lesemodell des Kath. Bibelwerks e. V., „Dem Wort auf der Spur“, ist eine ausführliche Form für 45–90 Minuten, die dem Text viel Raum gibt und sich an die klassische Form der Lectio divina nach Guigo dem Kartäuser anlehnt. Es läuft nach einem Dreischritt (mit Unterschritten) ab:
- Sammeln/collectio
Das lateinische Wort col-lectio beschreibt die beiden Schwerpunkte des ersten Schritts: Sammeln und Lesen. Auf beidem liegt zu Beginn des Gruppentreffens der Akzent. Dies trägt der Erfahrung Rechnung, dass heutige Menschen zu zerstreut sind, als dass sie sich auf die verlangsamende Leseform der Lectio divina gleich einlassen könnten. Es gilt daher, zu Beginn durch ein Anfangsritual eine aufmerksame, konzentrierte Atmosphäre zu schaffen. Dann wird der Bibeltext laut gelesen und von den Teilnehmenden in Wörtern oder Wendungen als Echo wiederholt. Auch das Memorieren im Echo trägt zu Sammlung und Konzentration bei. - Begegnen
Hier wird mit dem Text ein intensiver Dialog in doppelter Richtung geführt:
a) Unter der Überschrift „Ich lese den Text“ führen einfache Fragen zur Beobachtung und zur selbstständigen Erschließung des Textes. Solche Fragen sind z. B. Wer tut was (Frage nach Personen und Tätigkeitsworten)? Welche Bilder, Symbole oder Zitate verwendet der Text? Gibt es Worte/Wendungen/Sätze, die sich wiederholen (Frage nach Leitmotiven)? Stehen sie in Beziehung oder im Gegensatz zueinander? Welche Bewegung/Dramatik im Text lässt sich erkennen? Über diese Fragen tauscht sich die Gruppe aus.
b) Unter der zweiten Überschrift „Der Text liest mich“ wird der Text auf sein Potenzial abgeklopft, welche Impulse er für heutiges Leben bereithält. Fragestellungen könnten sein: Wo spricht der Text in mein Leben? Welche Botschaft hält der Text für uns als Glaubensgemeinschaft heute bereit? Im Gespräch werden die Erkenntnisse wieder ausgetauscht. - Weitergehen
Alle legen den Text zur Seite oder schließen die Bibel. Der Text wird von einem Leser/einer Leserin nochmals laut vorgelesen, alle anderen hören zu. Aus der hörenden Haltung heraus kommt es zum Gebet. Mit einer Zeit der Stille/Kontemplation wird die Lectio divina abgeschlossen.
Das Bibelwerk hat inzwischen mehrere Leseprojekte zum Advent und zur Fastenzeit nach dieser Methode veröffentlicht, auch ein Jahresprojekt zum Markusevangelium ist im Erscheinen. Die Materialien pro Leseprojekt bestehen aus einem Heft für die Leitung und Leseblättern zu den Bibeltexten für die Teilnehmenden. Auf ihnen ist der Bibeltext in einer satzweise gegliederten und strukturierten Übersetzung abgedruckt mitsamt den Leseschlüsseln zu „Ich lese den Text“ und „Der Text liest mich“ sowie grundlegenden Informationen zum Text wie Abfassungszeit, Kontext, theologische Einordnung. Vom Bibel-Teilen unterscheidet sich diese Form insofern, als dem biblischen Text viel Raum gegeben wird: Er wird in der Gruppe mehrfach gelesen und über das Leseblatt in den Alltag mitgenommen und kann dort nochmals gelesen werden (ruminatio). Die verschiedenen Leseprojekte können bestellt werden unter www.bibelwerk.de.
Die Verwandlungskraft der Schrift
Die Lectio Divinaist eine „einfache“ Form, Bibel zu lesen – eine Form für das ganze Volk Gottes –, und speist sich im gelungenen Fall aus den Erkenntnissen und Erfahrungen aller – der Theologin, des Priesters, des Bibelwissenschaftlers oder der Mutter mit fünf Kindern. Die geistliche Lesung führt zur Begegnung mit der Schrift als Wort Gottes und zur Begegnung mit Gott selbst. Letztlich ist sie eine ausgestreckte Hand für uns, die uns die Schrift hinhält, wie es Ezechiel erlebt hat. Und es kann auch das Gleiche passieren wie bei Ezechiel: dass wir von der Speise verwandelt werden und für andere Lebens- und Glaubenwort werden:
Lectio Divina
löse das Sternensiegel
und öffne das Buch
in dem die heiligen Worte
dunkel leuchten
wie glühende Fossilien
von erloschenen Feuern
in denen Propheten einst
die Worte geschmiedet
von deinem Atem behaucht
erwachen sie wieder
wie an aller
Wortschöpfung Anfang
schau in jede Seite
wie in einen Spiegel
so als läsest du
deine eigene Biographie
und je mehr dein Leben
in den Text verwoben
verwandelst du dich
in Gottes heiliges Buch
Andreas Knapp