Zwischen Missionsbefehl (Mt 28,19) und „mitgehender“ Mission (Lk 24,15)
Innere Spannungen biblischer Missionstexte
Jesu Botschaft vom Kommen der Gottesherrschaft kann man nicht für sich behalten. Jesus behält sie nicht für sich und auch seine Jünger sollen sie in seinem Auftrag anderen anvertrauen. So beginnt das öffentliche Wirken Jesu mit den Worten:
Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! (Mk 1,15)
Und das hier zum ersten Mal benannte Reich Gottes soll auch die Verkündigung der Jünger prägen. Jesus trägt ihnen auf:
Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. (Mt 10,7)
Heilt die Kranken, die dort sind, und sagt den Leuten: Das Reich Gottes ist euch nahe. (Lk 10,9)
Wenn ihr aber in eine Stadt kommt, in der man euch nicht aufnimmt, dann stellt euch auf die Straße und ruft: … das sollt ihr wissen: Das Reich Gottes ist nahe. (Lk 10,10 f.)
Der Sendungsgedanke ist im Kern sicher als jesuanisch zu bezeichnen. Was aber ist darüber hinaus neutestamentlich zur Mission zu sagen?
Gottes Erbarmen für Israel. Das Wirken Jesu
Jesus verkündet das Kommen des Gottesreiches und wendet sich an die „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (Mt 10,5). Allein die Wahl der Zwölf steht zeichenhaft für die Erneuerung des Gottesvolkes. Dabei sind besonders die „Kleinen“ im Blick:
Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.
Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden.
Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. (Lk 6,20 f.)
Hier spielt sicher Jesaja eine große Rolle, der im Blick auf den Neuanfang von Gott her gesagt hatte:
Der Herr … hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung, … damit ich alle Trauernden tröste. (Jes 63,1–2)
Diesen Anbruch der Gottesherrschaft zu verkünden ist das Modell der Aussendung der Jünger:
Geht! Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Nehmt keinen Geldbeutel mit, keine Vorratstasche und keine Schuhe! Grüßt niemand unterwegs! Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als erstes: Friede diesem Haus! Und wenn dort ein Mann des Friedens wohnt, wird der Friede, den ihr ihm wünscht, auf ihm ruhen; andernfalls wird er zu euch zurückkehren. Bleibt in diesem Haus, esst und trinkt, was man euch anbietet … (Lk 10,3–7)
Mit den Armen Armut teilen, mit den Hungernden Hunger, die Ernsthaftigkeit der Bitte um das tägliche Brot nachvollziehen können – diese „Methode“ zwingt die Jünger, sich ganz und gar auf die einzulassen, zu denen sie gesandt sind. Die Gastfreundschaft der Gastgeber wird dabei zu einem „Anknüpfungspunkt, über Gott und die Welt, über Jesus und seine Frohe Botschaft so ins Gespräch zu kommen, dass der Friede Gottes sich vertiefen und ausbreiten kann“ (Söding 2011, 504). Der Friede Gottes soll und muss also „im Miteinander des gemeinsamen Lebens“ (März 2009, 100) erprobt werden: Es geht hier um die „das Leben erneuernde Zuwendung des Erbarmen Gottes“ (ebd.). Und dieses gilt allen in Israel, daher wird Jesus auch ein „Fresser und Säufer“, ein „Freund der Zöllner und Sünder“ (Lk 7,33 f.; Mk 2,16) genannt, da er sich auch zu den Unreinen, den Nicht-Frommen, den Nicht-Stubenreinen setzte und mit ihnen aß: Dies ist praktizierte Gottesherrschaft, erfahrbare und erlebbare Feste des Erbarmens Gottes (vgl. Zachäus; Lk 19,1–10). Hier steht nicht wie bei Johannes, dem Täufer, das Gericht im Vordergrund, sondern „die schon in der Gegenwart gegebene Erfahrung der Gottesherrschaft“ (ebd. 101).
Die Zwölf haben bei der Sendung durch Jesus eine besondere Funktion. Jesus „macht“ sie, was normalerweise mit „er setzte sie ein“ übersetzt wird, doch ist der schöpferische Akt deutlich wahrnehmbar: So wie Gott im Anfang Himmel und Erde schuf bzw. machte (Gen 1,1), so schafft bzw. macht Jesus die Zwölf (das Verb ist im griechischen jeweils gleich).
Und er machte die Zwölf,
dass sie mit ihm seien
und er sie aussende,
zu verkünden und
Vollmacht zu haben, Dämonen auszutreiben. (Mk 3,14 f.)
Diese „Menschenfischer“ (Mk 1,16) sollen „Menschen für die Herrschaft Gottes und die Gemeinschaft mit Jesus gewinnen. Jesus beruft Jünger, um das Evangelium der Gottesherrschaft zu verbreiten“ (Söding 2011, 500) und bevollmächtigt sie auch, dies tun zu können. Damit ist das Evangelium in Wort und Tat, das mit Jesus nahegekommene Reich Gottes, nicht mehr allein in Jesus selbst erfahrbar, sondern auch in der Begegnung mit den von ihm beauftragten und bevollmächtigten Jüngern. Dies schmälert aber in keiner Weise die Tatsache, dass die Initiative immer von Jesus ausgeht, er bleibt „Meister und Herr“ (Joh 13,13), man kann getrost von einem absoluten „Primat Jesu“ (Söding 2011, 496 ff.) sprechen:
Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt. (Joh 15,16)
Diesem Verhältnis entspricht, dass die Berufung der Jünger mit den Worten: „Folgt mir nach!“ (Mk 1,17) erfolgt. Korrekt müsste es übersetzt werden mit: „Hinter mich!“ Das Sich-hinter-Jesus-Stellen, das Ihm- Nachfolgen ist entscheidend – gerade auch in schwierigen Situationen, wie Mk 8,33 zeigt. Petri nachvollziehbarer Wunsch nach einem Messias, der menschlichen Gottesbildern entspricht, bringt Jesus dazu, ihn zurechtzuweisen, allerdings nicht mit den Worten, die in der Einheitsübersetzung zu lesen sind: „Weg mit dir, Satan“, sondern mit der Aufforderung, sich wie bei der Erstberufung erneut hinter Jesus einzuordnen, ihm und seinem Weg zu folgen: „Hinter mich!“ Nachfolge ist also sich auf den Weg zu machen, „hinter“ Jesus herzugehen, „den Spuren Christi zu folgen“ (1 Petr 2,21).
Hier wird kein bloßes Hinterhertappen angezielt, sondern ein Auftrag und damit verbunden ein Anteil-Erhalten an der Vollmacht, mit der Jesus selbst ausgestattet ist – dies aber „nicht als Belohnung für besondere Treue oder als Auszeichnung einer Elite, sondern im Interesse all derer, die Jesus für die Gottesherrschaft erst noch gewinnen will“ (Söding 2011, 498 f.). Jesus beauftragt und bevollmächtigt seine Jünger, ihn zu repräsentieren und an seiner Autorität zu partizipieren (vgl. Mk 9,37 par. Lk 9,48; Mt 10,40; Lk 10,16; Joh 13,20). Dies ist aber zuallererst ein Dienst, so wie Jesu Leben und Sterben im Ganzen ein Dienst ist, ein Für-die-anderen-da-Sein (Mk 10,45), „um zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lk 19,10).
Von Bedeutung ist hierbei auch, dass die Formen der Zugehörigkeit zu Jesus schon biblisch sehr vielfältig sind: Neben den eingehender behandelten Zwölf, den Repräsentanten des eschatologischen Israels, lassen sich viele beeindrucken (Lk 11,27 f.), manche gewähren Gastfreundschaft bzw. finanzielle Unterstützung (Mk 9,41 ff.), einige schenken seiner Botschaft von ganzem Herzen Glauben (Lk 19,1–10), Einzelne (wenige) werden von ihm in die Nachfolge gerufen (Mt 8,18 ff. par. Lk 9,57 ff.). Diese Unterschiedlichkeiten hat auch Tomáš Halík aufgenommen und eine beeindruckende Zachäus-Theologie entwickelt (Tomáš Halík, Geduld mit Gott).
Matthäische Dissonanzen?
Bei den biblischen Darstellungen der Mission fällt aber eines auf: Jesus „überschreitet zwar in Einzelfällen die [in Israel] üblichen Grenzen hin auf die Heiden, bewegt sich aber aufs Ganze gesehen in Israel“ (März 2009, 96). Erstaunlicherweise geht die nachösterliche Mission sehr schnell über Israel (missio interna) hinaus und wendet sich den Heiden, den Völkern (missio externa) zu. Zwei berühmte Texte aus dem Matthäusevangelium markieren diesen Übergang:
Diese Zwölf sandte Jesus aus und gebot ihnen: Geht nicht zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samariter, sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. (Mt 10,5 f.)
Hier findet sich der Rahmen der vorösterlichen Wandermission Jesu, die ausschließlich auf Israel zielt. Doch keine 20 Jahre später wird genau das, was hier ausgeschlossen wird, durch die christlichen Missionare getan: Ausdrücklich kommen auch die Heiden, die Völker in den Fokus christlicher Mission. Mt nimmt diese Spannung in seinem Evangelium auf und beschreibt die Erweiterung des Missionsauftrags mit dem „klassischen“ so genannten Missionsbefehl:
Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt. (Mt 28,16–20)
Das missionarische Wirken Jesu hatte also ein anderes Format als das der nachösterlichen Kirche. Lukas reagiert darauf mit der Abfassung seines „Doppelwerks“, dem Evangelium (Lk) und der Apostelgeschichte (Apg). Während sich Ersteres auf das Leben Jesu bezieht, „läuft das Wort Gottes weiter“, eben in der Geschichte der Kirche (Apg). Das vorösterliche Missionswerk ist also Aufgabe und Möglichkeit weniger, das nachösterliche stellt sich jedoch als das „aller …, die an das Evangelium glauben (Mk 8,34)“ (Söding 2011, 495), dar. Ostern ist in diesem Sinn eine Entgrenzung des göttlichen Heilshandelns auf alle Völker hin.
Gottes Erbarmen für die Völker. Die Kirche
Ostern erweist den Gekreuzigten als den zu Gott Erhöhten. Nur durch dieses Ereignis ist es überhaupt zu verstehen, dass die „Sache“ Jesu weitergeht. Die gerade noch verängstigten und niedergeschlagenen Jünger (vgl. die Osterberichte) machen sich auf und tragen den österlichen Impuls nach dem Geistempfang am Pfingstfest weiter. Jesus wird vergegenwärtigt, die Verkündigung wird christozentrisch. Doch trotz diverser Zuwächse (Apg 2,41; 5,12–16; 6,7) versteht sich die Jüngergemeinde nach wie vor als eine Gruppe in Israel mit messianischer Prägung; daneben finden sich auch andere jüdische Gruppen mit dieser Prägung. Daher beginnt die christliche Mission zu Beginn normalerweise in den Synagogen (vgl. Paulus). Dort gab es sicher auch sympathisierende Heiden, die Gottesfürchtigen, die oftmals wichtige Adressaten der christlichen Verkündigung waren. In der Apg hören wir aber auch von der paulinischen Heidenmission auf dem Areopag (Apg 17), die sich um die Anschlussfähigkeit der christlichen Botschaft an die antike Philosophie bemüht. Diese Rede bricht mit dem Hinweis auf die Auferstehung Jesu von den Toten ab „und zeigt damit in der Tat die entscheidende Differenz zur antiken Weltsicht auf“ (März 2009, 104). Am „Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit“ (1 Kor 1,23) und an der Stellung zu ihm entscheidet sich letztlich alles. Durch ihn sind aber nun auch alle Menschen, „Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Frau“ (Gal 3,28) eingeladen, sich dem Reich Gottes anzuvertrauen, denn in Christus Jesus sind alle „einer“. Dies ist das durchtragende Moment: Es geht nicht darum, „durch den Hinzugewinn von Sympathisanten Einfluss zu gewinnen oder die eigene religiöse Aktionsbasis zu vergrößern. Es geht vielmehr darum, angesichts vielfacher existentieller Not der Menschen das Erbarmen Gottes zu verkünden und zu leben“ (März 2009, 105). Dient Jesu Wirken in Israel also als Zeichen von Gottes Erbarmen in Israel, so verdeutlicht die nachösterliche Mission insgesamt das allen Völkern, allen Menschen nahekommende Erbarmen Gottes. Das neue Volk Gottes ist Israel in eschatologischer Vollendung, ein universales Heilsangebot für alle Völker, entgrenztes Erbarmen, universales Zeichen für die Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft. Wegen dieser „Frohen Botschaft“ sind die Christen „Zeugen Jesu“ (Apg 2,14.32), „Christi Wohlgeruch“ (2 Kor 2,14) und „ein Brief Christi“ (2 Kor 3,2–6). In diesem Sinne kann die Mission auch nicht zur Diskussion stehen, denn die Liebe Gottes steht nicht zur Diskussion – sie steht nicht in menschlicher Verfügungsgewalt: „Wenn ich nämlich das Evangelium verkünde, kann ich mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!“ (1 Kor 9,16).
„Er ging mit ihnen“ – Das Nahekommen des Gottesreiches auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24)
Wie eine solche Mission nachösterlich aussehen kann, ist biblisch u.a. durch die Emmaus-Perikope (Lk 24,13–35) vom auferstandenen Jesus selbst erzählt. Nach den dramatischen Ereignissen vor und nach Jesu Tod gehen zwei seiner Jünger weg von Jerusalem und „sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte“. Während sie gehen, kommt Jesus hinzu. Er geht mit ihnen mit, an ihrer Seite, weg von Jerusalem, gewissermaßen in die „falsche“ Richtung. Er passt sich ihrem Rhythmus an, hört ihre Erlebnisse und ihre Wahrnehmung des Geschehenen, ihre Hoffnungen und deren Zerbrechen und Scheitern. Er selbst spricht erst, nachdem er ihre „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ (Gaudium et spes 1) gehört hat. Sein sich anschließendes Erklären und Darlegen durch die Auslegung der Schrift ist jedoch nur ein Erstes; es folgt die durch ihn und in ihm erfahrbare Gottesgemeinschaft im Brechen des Brotes. Durch dieses realisierte Reich-Gottes-Geschehen gehen „ihnen die Augen auf“, ihnen wird eine neue Perspektive geschenkt, „Augen des Glaubens“ (Pierre Rousselot). Das bringt die Herzen der Emmaus-Jünger zum „Brennen“, das treibt sie heraus, zum Weitersagen, zur Mission.