Damit sie das Leben haben (Joh 10,10)
Das „Evangelium“ als ein roter Faden in der gesamten Schrift
Wenn Evangelisierung oder Mission zunehmend als das zentrale Paradigma und die theologische Grundlage für eine veränderte Pastoral und Gestalt der Kirche reflektiert wird, so ist immer wieder danach zu fragen, was denn eigentlich unter diesem Evangelium zu verstehen sei. In der Regel wird dies dann aus dem Neuen Testament heraus theologisch und pastoral-praktisch entfaltet. Immerhin ist ja auch durch die vier Schriften, die als eine „Lebensbeschreibung“ Jesu verstanden werden können, das „Evangelium“ zur Gattungsbezeichnung geworden. Ziel dieses Beitrags ist es, das Verständnis von „Evangelium“ mit Hilfe kanonischer Lesart auf die gesamte Schrift zu erweitern, um von dorther neu nach der Sendung von Kirche und einer entsprechenden pastoralen Praxis zu fragen. Es gilt also, den Gesamtduktus der Schrift wahrzunehmen, die als ein zusammenhängendes Gewebe, als Geschichte des Gottesvolkes (Israel und die Kirche) auf dem Hintergrund der Menschheitsgeschichte mit Gott gelesen werden will. Die verhängnisvolle Antithese von „Gesetz“ einerseits und „Evangelium“ andererseits hat lange einen Blick auf die gesamte Heilsgeschichte der verschiedenen Gottesbünde verengt.
Ich beginne mit dem Buch des Propheten Jesaja, das durch die Beziehung seiner messianischen Erwartungen auf Jesus Christus gewissermaßen das Scharnier der einen Heilsgeschichte darstellt. Im christlichen Kanon wurden die ersttestamentlichen Prophetenschriften von der ursprünglichen Mittelstellung in der Hebräischen Bibel, nämlich zwischen dem Pentateuch (Gen bis Dtn: Tora) und den später entstandenen (meist weisheitlichen) „Schriften“ (ketuvim), an das Ende des Ersten Testaments gesetzt, um wie ein Bindeglied zur Erfüllung in Jesus Christus im sich anschließenden Neuen Testament hinzuweisen. An mehreren Stellen im griechischen Text des Jesajabuches (Septuaginta) findet das Lexem euangelizo – verkündigen Verwendung. Hier sind vier zentrale Stellen für ein Verständnis dessen, was im Zweiten Testament im Blick auf Jesus Christus entfaltet wird, zentrale Aspekte sind von mir markiert:
„Steig auf einen hohen Berg, der du Zion gute Nachricht bringst (ho euangelizomenos Sion), erhebe deine Stimme mit Macht, der du Jerusalem gute Nachricht bringst (ho euangelizomenos Hierousalem); erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage den Städten Judas: Siehe da, euer Gott. Seht, Gott, der HERR, kommt mit Macht, er herrscht mit starkem Arm. Seht, er bringt seinen Siegespreis mit: Alle, die er gewonnen hat, gehen vor ihm her.“ (Jes 40,9 f.)
„Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße dessen, der die gute Botschaft des Friedens hören lässt (euangelizomenou akoän eiränäs), der Gutes verkündigt (euangelizomenos agatha), Heil proklamiert und zu Zion sagt: Dein Gott regiert als König!“ (Jes 52,7)
„Die Wüste und das trockene Land sollen sich freuen, die Steppe soll jubeln und blühen. Sie soll prächtig blühen wie eine Lilie, jubeln soll sie, jubeln und jauchzen. … Man wird die Herrlichkeit unseres Gottes sehen, die Pracht unseres Gottes. Macht die erschlafften Hände wieder stark und die wankenden Knie wieder fest: Sagt zu den Verzagten: Habt Mut, fürchtet euch nicht. Seht, hier ist euer Gott. Die Rache Gottes wird kommen und seine Vergeltung, er selbst wird kommen und euch erretten. Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen. Dann springt der Lahme wie ein Hirsch, die Zunge des Stummen jauchzt auf. In der Wüste brechen Quellen hervor und Bäche fließen in der Steppe …“ (Jes 35,1–5)
Es ist diese Stelle, die in Mt 11,5 aufgenommen und interpretierend erweitert wird durch die Frage des Täufers Johannes, ob denn Jesus der Verheißene sei, der der kommen soll. „Blinde sehen wieder, und Lahme gehen, Aussätzige werden rein, und Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet. Selig, wer an mir keinen Anstoß nimmt.“
„Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung, damit ich ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe, einen Tag der Vergeltung unseres Gottes, damit ich alle Trauernden tröste, die Trauernden Zions erfreue, ihnen Schmuck bringe anstelle von Schmutz, Freudenöl statt Trauergewand, Jubel statt der Verzweiflung … Dann bauen sie die uralten Trümmerstätten wieder auf und richten die Ruinen ihrer Vorfahren wieder her. Die verödeten Städte bauen sie neu, die Ruinen vergangener Generationen. … Gerechtigkeit.“ (Jes 61,1–11)
In diesen Worten wird euangelion als Sieg Gottes über die Feinde und Anbruch des Friedens interpretiert, als Kommen Gottes zu heilender Nähe (Gott ist da), als Aufrichtung seiner heilenden Herrschaft. Die Formulierungen und der Kontext machen deutlich, dass das Umfeld der Befreiung aus dem (Babylonischen) Exil, die Rückkehr ins Heimatland, der Aufbau der Trümmerstätten zum Symbol für Gottes anbrechende Königsherrschaft gedeutet werden. Euangelion meint auf diesem Hintergrund die Ankündigung einer heilvollen Zukunft, den Weg aus der Fremde in die Heimat, aus der Unfreiheit (Ägypten, Babel) in die Freiheit, in der Gottes Volk zu sich findet, den Sieg Gottes über die Fürsten der Welt, über die knechtenden Mächte, das Böse, eine bleibende Gemeinschaft mit Gott. Exemplarische Heilungen (Lahme, Blinde …) und Befreiungen (Gefangene, Arme …) sind wirkmächtige Beispiele, dass Gott sein Königtum aufrichtet, nicht nur über Israel, sondern eschatologisch weltweit (Völkerwallfahrt zum Zion). Wenn Jes 61,1–11 im Munde Jesu in Lk 4,16–30 aufgenommen und hinzugefügt wird, dass sich dieses Schriftwort heute erfüllt hat, so weist dieses „Heute“ nicht auf einen historisch fixierbaren Zeitpunkt, sondern wandert durch die Profangeschichte bis in unsere Tage und qualifiziert sie als Heilsgeschichte. Wenn die Salbung, im Prophetenwort vorgebildet, auf Jesus, den Christus (Gesalbten) bezogen, diesen präsenten Gott anzeigt, um wieviel mehr müssten die in der Nachfolge des Gesalbten ebenfalls mit Geist Gesalbten, die Christen, diese von Gott her gewirkten Zusammenhänge in ihrem jeweiligen „Heute“ zum Vorschein bringen?
Die „Fülle der Zeiten“
Wie bereits angedeutet, wird dieses Verständnis des euangelion im Neuen Testament auf die Person, das Handeln und das Schicksal Jesu hin gedeutet und ausgefaltet. Nachdem Gott auf vielerlei Weise durch die Propheten gesprochen hat (gemeint sind hier die gesamten ersttestamentlichen Schriften, zu denen nach spätjüdischem Verständnis auch die Tora/Mose gehört; vgl. Dtn 34,10), spricht er nun in der Endzeit durch den Sohn (Hebr 1,1).
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die tiefste und eigentliche Sinnspitze des Erneuerten Bundes gerade in dieser Frohen Botschaft vom Kommen des Gottesreichs besteht, das in Jesus angebrochen ist. Im Neuen Testament wird das „Evangelium“ selbst zu einer vierfach vorfindlichen Schriftgattung, nicht jedoch banal nur als Lebensbeschreibung (Biografie) des Jesus von Nazareth, sondern als Aufweis und Zeugnis der in ihm angebrochenen Gottesnähe, wie es in den bereits angeführten Kontexten durchscheint.
Mk 1,1 spricht vom Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes und meint mit archä nicht einfach nur den Beginn seiner Schrift oder einen historisch fixierbaren Zeitpunkt der Geburt Jesu, sondern vielmehr den Ursprung, die Grundlage, das tiefste Wesen der Sendung des Sohnes. Das „im Anfang“ der Schöpfung (Gen 1,1) schwingt hier mit und zeigt das Christusereignis als neue Schöpfung. Diese Frohbotschaft von Jesus ist das Evangelium Gottes:
„Er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,14 f.)
Der Matthäusevangelist qualifiziert das euangelion spezifisch als „Evangelium vom Reich“ (Mt 4,23; 9,35; 24,14). Im Lukasevangelium wird, wie bereits angedeutet, durch den Bezug auf Jes 61 die gute Nachricht als Anbruch des Gottesreiches an (damals wie heute) wahrnehmbaren Heilungen und Befreiungen manifest:
„Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt, Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht, damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. … Heute hat sich das Schriftwort, das ihr soeben gehört habt, erfüllt.“ (Lk 4,16–30)
Paulus ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Zum einen identifiziert er ebenfalls wie Mk das Evangelium Gottes mit dem Evangelium von Jesus Christus, unserem Herrn (Röm 1,1–3). In seinen Briefen zeigt sich aber auch erstmals die Rede von „meinem Evangelium“ (Röm 16,25). Dies könnte natürlich apologetisch im Sinne konkurrierender Wahrheitsansprüche als Polemik gegen „andere Evangelien“ (Gal 1,6–9) gelesen werden, gegen die sich die Verkündigung des Paulus abgrenzen will. Aufgrund einschlägiger Äußerungen des Apostels kann diese Formulierung jedoch auch als ein Indiz gesehen werden, dass der Apostel als Zeuge und Verkünder selbst seine Existenz unter diese Botschaft gestellt hat und sie in seinem Leben zu verkörpern und auszudrücken sucht (sein Evangelium).
Besonders ergiebig zeigt sich in unserem Fragehorizont das Johannesevangelium. In ihm kommt der Sprachgebrauch „Evangelium“ erst gar nicht vor. Analog zur Beobachtung, dass der Johannesevangelist an der Stelle, an der die Synoptiker den Abendmahlsbericht bieten, seinerseits in deutender Weise von der Fußwaschung erzählt (Joh 13,1–11), können die Aussagen über die Fleischwerdung des göttlichen Wortes als deutendes Äquivalent verstanden werden, das die Sinnspitze dessen, was „Evangelium“ meint, spezifisch akzentuiert. Der Prolog lehnt sich in seiner Meditation über das Wort „im Anfang“ sprachlich ebenfalls (wie Mk) deutlich an den Beginn der Hebräischen Bibel „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen 1,1) an. Wenn dieses Wort nach Joh 1,14 „Fleisch geworden“ ist und unter uns „gezeltet“ hat, so meint der Evangelist die Einwohnung der göttlichen Herrlichkeit (Schekinah). Jesus Christus ist also das Schöpfungswort, aus dem erst alles entstand, analog zum heilsmittlerischen Verständnis des Jerusalemer Tempels, der als Stiftszelt literarisch in die Wüstenwanderung vorverlegt war. In eine ähnliche Richtung weist der Hymnus des Philipperbriefes (Phil 2): „Jesus Christus war wie Gott, aber er entäußerte sich (ekenosen) und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“ Es ist der „heruntergekommene Gott“ (Michael Herbst), der sich hier in Freundschaft und Rettung jedem Menschen zuwendet. Fleischwerdung (Inkarnation) und Kenosis (Entäußerung) sind spezifische Weisen, dem euangelion Raum zu geben. Die Frohe Botschaft vom Kommen des Gottesreiches ist untrennbar verbunden mit dem Auferstandenen, dem österlich präsenten Christus. Er ist das endgültige heilende Wort Gottes, das von Anfang an immer wieder gesprochen wurde. In Christus ist es, zwar noch nicht vollendet, weil in geschichtliche Entfaltung hineingegeben, aber dennoch endgültig und unüberbietbar, an jeden Menschen gerichtet. Dieses Berufungsgeschehen, das im Gott-Mensch Jesus Christus sowohl Gott wie Mensch aufeinander bezogen definiert, ist biblisch kodiert mit Jesu Auftreten, seiner Predigt, seinen Zeichenhandlungen, seiner Person, vollendet sich schließlich in seinem Leiden und Sterben und in der Auferweckung Jesu Christi (Pascha-Mysterium), dem Durchgang vom Tod zum Leben, der als heilsvermittelnd verstanden wird. Diese „neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17) als Anbrechen von Gottes Reich ist zunächst einmal Ansage, Zusage und bereits gewirkte Wirklichkeit, die alle universal angeht. Durch das Johannesevangelium wird so ein Bogen geschlagen, ein roter Faden des Evangeliums gewebt, der in Christus seinen Fokus hat. So wird die Schöpfung „im Anfang“ zur immerwährenden, in der Gott sein Schöpfungswort spricht (Gen 1,3: „und Gott sprach“), das Leben ermöglicht (Gen 1,31: „Gott sah, dass alles sehr gut war“). Als eine weitere „Etappenstation“ des Evangeliums erweist sich dann die Berufung Israels/Abrahams (Gen 12,3), „damit in dir alle Geschlechter der Erde Segen erlangen“.
In den Gleichnissen, die das Reich Gottes mit dem Wachsen der Saat vergleichen, entsteht eine Ahnung davon, dass diese Wirklichkeit schon angefangen hat, sich geheimnisvoll zeigt, wächst und reift, aber eschatologisch erhofft wird und sich erst am Ende der Zeiten vollendet. Der Sämann verschwendet großzügig und gratis (gnadenhalber) aus übergroßer Fülle den Samen, egal, auf welchen Untergrund er fällt (Mk 4,1–20), das Gottesreich wächst im Geheimnisvollen, in der Nacht und von selbst (Mk 4,26–29), es entsteht als etwas Großes aus kleinen Anfängen wie dem Senfkorn (Mk 4,30–32). Es ist Gott selbst, der dieses in Gang bringt, bewirkt und letztlich am Ende die Entscheidung darüber trifft, was Spreu und was Weizen, Unkraut und Frucht, ist.
Insofern der lebendige Christus gleichermaßen Zeuge, Inhalt und Ziel des Evangeliums ist, meint Taufe als Antwortgeschehen auf dieses vorgängige Berufungswort Gottes die Hineinnahme des Menschen in das Todes und Lebensschicksal Jesu (vgl. Röm 6). Die Bewegung des Evangeliums, das Geheimnis, setzt sich so „in Christus“ fort. So kann Evangelium heute, als die im auferstandenen Christus nahegekommene und präsente Wirklichkeit Gottes, denen ansichtig werden, die sich personal darauf einlassen. Das Berufungsgeschehen von Gott her erfordert also eine Antwort, die in unterschiedlicher Weise gegeben oder auch unterlassen werden kann. Wird sie aber in einem glaubenden Hören und Sehen gegeben, dann eröffnet sich eine Geschichte, deren Zukunft den Menschen in die Verheißung Gottes weiter hineinführt. Gott setzt sein Evangelium selbst in Gang, es braucht aber zu seiner Bezeugung und Spiegelung den Menschen, der sich dem Samen des göttlichen Schöpfungswortes öffnet. Papst Franziskus verbindet dies mit einer pastoralen Grundoption: „Das Evangelium lädt uns vor allem dazu ein, dem Gott zu antworten, der uns liebt und uns rettet – ihm zu antworten, indem man ihn in den anderen erkennt und aus sich selbst herausgeht, um das Wohl aller zu suchen“ (EG 39).
Die Fülle das Lebens und die Pastoral der Kirche
Auf der Suche nach Bedeutung und Ziel des „roten Fadens Evangelium“ von Schöpfung über Berufung, Fleischwerdung und Erlösung bis hin zur erhofften Vollendung landen wir schließlich bei Joh 10,10: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben, und es in Fülle haben“. Wenn es die Sendung (Mission) der Kirche in ihren Getauften ist, von diesem göttlichen Leben zu zeugen, diesem Leben Raum zu geben, es darzustellen und darauf hinzuweisen, wo dieses Leben sich geheimnisvoll von Gott her entwickelt, dann kann eine Pastoral, die sich von dieser Sendung her speist, nur eine Pastoral des Lebens sein. Sie setzt dem vorfindlichen Leben nicht von außen einen exklusiven religiösen Mehrwert auf, sondern macht von innen her die Facetten des real-alltäglichen Lebens als Leben im Geist Gottes offenkundig. Es geht bei einer solchen missionarischen Pastoral also weniger um konkret bestimmte und explizite Frömmigkeitsformen, sondern um Aufmerksamkeit für die Orte, Situationen und Prozesse, in denen und mit denen Gott selbst heute noch durch den lebendigen Christus und durch seinen Geist seine heilende Beziehung anbietet und damit sein Königreich in Szene setzt. Eine solche Pastoral der offenen Hände geht von der Unbedingtheit und dem „Umsonst“ Gottes aus, der sich ohne Vorbedingungen den Menschen zuwendet, ahmt diese Zuwendung im eigenen Handeln nach und lässt sich beschenken mit den Früchten des Gottesreichs. Eine solche Pastoral ist sensibel für das Kleine und Zarte, für das Ungewöhnliche, wo Leben wächst und reift, wo Leben aber auch herausgefordert und gefährdet ist. Eine solche Pastoral sucht Gelegenheiten, mit anderen Menschen guten Willens, egal welcher weltanschaulichen Orientierung auch immer, zur Fülle des Lebens und zur Gemeinschaft der Menschheitsfamilie (LG 1) beizutragen und in diesen Vollzügen Gottes Geist und den Auferstandenen am Werk zu sehen. Für den Bereich der Schulpastoral beispielsweise könnte das heißen, nicht „von außen“ durch professionelle Seelsorger bestimmte Angebote oder Formate wie Gottesdienste, Tage der Orientierung etc. zu leisten, sondern vielmehr (professionell) dazu beizutragen, dass Christinnen und Christen im Lebensraum Schule, nämlich Schüler, Eltern, Lehrer und andere das Leben an dieser Schule verantwortlich und im Sinne von Erfüllung mitgestalten und gerade darin das Wirken Gottes, das euangelion entdecken und ihm Raum und Gestalt geben. Wie müsste die Kirche – vor allem die Träger des besonderen Priestertums und Hauptberuflich-Professionelle im Dienst am gemeinschaftlichen Entdeckungs- und Darstellungsgeschehen und in den Formaten kirchlicher Gemeinschaft – sich verändern, um als priesterliches Gottesvolk eine solche Pastoral des Lebens auszuprägen und um damit ihre Sendung zu erfüllen: Sakrament, d.h. Werkzeug und Zeichen, für das Wachsen des Gottesreiches zu sein? Aus der Krankenhauspastoral in Frankreich stammen die Anregungen zu einer pastorale d'engendrement, einer Pastoral der Zeugung, die sich auf die Begegnung mit dem Anderen offen einlässt und als Geschenk begreift, was sich aus dieser Begegnung heraus als Begegnung mit Gott entwickelt und heranreift.
In diesem Sinne lädt Papst Franziskus zur pastoraler Umkehr und Erneuerung und zum Umbau der pastoralen Strukturen ein: „Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für die pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden …“ (EG 27).