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„Dimensionen des Missionarischen“ im Neuen Testament

Insofern sich in der Person und dem Schicksal Jesu als dem erwarteten Christus die Hoffnungen des Glaubens konzentrieren, stellt das Neue Testa­ment das Zentrum des „Evangeliums“ dar. Nicht umsonst tragen die vier großen „Jesus-Biografien“ die Bezeichnung Evangelium als literarische Gattung. Christoph Bultmann reflektiert kritisch die Rede von einem „Mis­sionsbefehl“, indem er „Dimensionen“ des Missionarischen aus einer sorgfältigen Lektüre der neutestamentlichen Texte skizziert.

Zwei Erzählungen mit missionarischen Dimensionen: Matthäus und Lukas

Von „Mission“ zu sprechen schafft Missverständnisse. Von „Dimensio­nen des Missionarischen“ zu sprechen schafft Verständnisangebote. Denn schon der Plural „Dimensionen“ weist darauf hin, dass Diffe­ren­zierungen gefragt sind, die sich am besten im Gespräch miteinander aufklären lassen. Der Gedanke von „Dimensionen des Missionarischen“ bietet ein Dach auch für den interreligiösen Dialog, und ohne einen sol­chen Dialog kann sich die Kirche heute nicht mehr als Kirche verstehen. In Zeiten, als man noch einfach von „Mission“ sprach, fand man auch in der Bibel noch einfach einen „Missionsbefehl“. Heute, wenn man von „Dialog“ spricht, kann man in der Bibel „Dialogstrukturen“ entdecken, über die sich nachzudenken lohnt.

Matthäus lesen

Im gegebenen Zusammenhang sollen hier zwei große Erzählungen der Bibel angesprochen werden. Die erste ist das Evangelium des Matthäus. Der Autor, der ungefähr im Jahr 80 für frühe christliche Gemeinden schrieb, hat seine Erzählung sorgfältig komponiert. Er teilt die Zeit zwi­schen Jesus von Nazareth und Abraham in dreimal 14 Generationen ein und betont für seine Gliederung der Geschichte Israels das Königtum Davids und die Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Babylo­nier (als Beginn der „babylonischen Verbannung“). Die ganze Geschich­te Israels, die Zeit vor dem Tempel, die Zeit des Ersten Tempels und die Zeit des Zweiten Tempels (nach dem Ende der „babylonischen Verban­nung“), ist für ihn auf die Geburt von Jesus in Bethlehem gerichtet, durch die sich ein Prophetenwort erfüllt. Gleich zu Beginn seines Evan­ge­liums legt Matthäus auf diese Weise drei Dimensionen des Missiona­rischen dar: Die Geburt von Jesus ist ein Ereignis, das für ganz Israel von Bedeutung ist, denn von Abraham her läuft die Segenslinie auf ihn zu. Die Geburt von Jesus zeigt die barmherzige Nähe Gottes, denn sein Ehrenname heißt „Immanuel“, „Gott mit uns“. Die Geburt von Jesus wird durch „Sterndeuter aus dem Morgenland“ erkannt, die nach Bethlehem kommen, um dem neugeborenen Kind zu huldigen. Mit diesen drei theologischen Akzenten eröffnet Matthäus sein Evangelium (Mt 1,1–2,12).

Den Abschluss seiner Erzählung hat Matthäus gleichfalls sehr sorgfältig gestaltet. Zwei Frauen entdecken am Tag nach dem Sabbat das leere Grab und hören von einem Engel die Botschaft, dass Gott Jesus aufer­weckt habe. Jesus selbst erscheint den Frauen wenig später auf ihrem Weg zu den Jüngern. Die Hohen Priester am Tempel werden dazu als ein Gegenbild gezeichnet: Sie bestechen die römischen Soldaten, damit sie die Botschaft von der Auferstehung untergraben, indem sie die Behaup­tung verbreiten, dass die Jünger den Leichnam ihres Meisters Jesus aus dem Grab geraubt hätten. Die dritte Szene spielt auf einem Berg in Galiläa, wo Jesus seinen Jüngern erscheint und sie als Boten des Evan­geliums beauftragt. Wiederum finden wir drei Dimensionen des Missio­narischen: Die Botschaft der Auferstehung Jesu wird zuerst von einem Boten Gottes, einem Engel mit einer Erscheinung „wie ein Blitz“ und einem Gewand „weiß wie Schnee“, verkündigt. Die Aktion der Priester zeigt, dass Israel die Botschaft des christlichen Glaubens ablehnt. Mit seiner Rede an die Jünger gibt Jesus, der Auferstandene, den Ausgangs­impuls für die Verkündigung der Botschaft unter allen Völkern. Mit diesen drei theologischen Akzenten schließt Matthäus sein Evangelium (Mt 28,1–20).

In Mt 28,18–20 hat man gerne einen „Missionsbefehl“ gefunden, doch so schnell darf man den Text nicht klassifizieren. Zunächst erlaubt Mat­thä­us die Vorstellung, dass sogar bei der Erscheinung Jesu einige von den Jüngern „zweifeln“. Dann stellt er dar, wie Jesus die Jünger mit einer Zu­sage ermutigt: „Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Er­den. … Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt En­de.“ In diesem Rahmen wird der Auftrag zur Ausbreitung des Evange­liums gegeben: „Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern“. Man kann zu dem Satz die Frage stellen, ob das Verb im ursprünglichen griechi­schen Text „zu Jüngern machen“ oder „als Jünger annehmen“ bedeutet, doch unabhängig von dieser Frage ist klar, dass Matthäus die Welt insge­samt, „alle Völker“, zu einer Dimension des Missionarischen erklärt. Nach der Auferstehung Jesu hat sich für ihn der Horizont über Israel hinaus erweitert, so wie es am Anfang des Evangeliums schon mit der Erzählung über die „Sterndeuter aus dem Morgenland“ angeklun­gen war. In die Beauftragung schließt Matthäus weiter noch zwei Gedanken dazu ein, in welcher Weise sich neu gewonnene Hörer des Evangeliums an die christliche Gemeinde anschließen sollen: Sie werden durch die Taufe als Christen anerkannt („tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes“) und sie werden durch die Lehre in der Gemeinde zu einem Leben als Christen angeleitet („lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe“).

Der Verweis auf die Lehre über Jesu Gebote hat in der Erzählung des Matthäus einen eindeutigen Bezugspunkt: die Bergpredigt in Mt 5–7. Wie Jesus als Auferstandener in 28,16 die Jünger auf einem Berg in Galiläa anspricht, so spricht er sie und viele weitere Hörer in 5,1 (mit 4,23) auf einem Berg in Galiläa an. Die Bergpredigt wird damit direkt zu einem Aspekt des Missionarischen bei Matthäus. Christliches Leben muss so überzeugend sein, wie das „Salz der Erde“ und das „Licht der Welt“ es symbolisieren (Mt 5,13–16), damit die Botschaft des Evangeli­ums neue Hörer und Hörerinnen findet. Und christliches Leben muss so authentisch sein, dass die Glaubenden nicht nur „Herr, Herr!“ sagen, sondern nach dem Willen Gottes leben, den Jesus lehrt (Mt 7,21–23). Kann man einfach von einem „Missionsbefehl“ sprechen, wenn man auf diese Zusammenhänge achtet?

Lukas lesen

Die zweite Erzählung, die hier angesprochen werden soll, ist das Evan­ge­li­um des Lukas, das mit der Apostelgeschichte des Lukas zusammen­gehört und ungefähr aus derselben Zeit stammt wie das Evangelium des Matthäus. An den Anfang stellt Lukas eine Sammlung von Legenden und Liedern über die Geburt von Johannes dem Täufer und Jesus, ge­krönt von der Erzählung über die Hirten, die von ihren Herden auf dem freien Feld nach Bethlehem aufbrechen, um die Geschichte zu sehen, die ihnen ein Engel kundgetan hatte (Lk 1,5–2,39). Die Ausbreitung der Botschaft des Evangeliums wird bei Lukas erst in der Apostelgeschichte zum Thema, während sein Evangelium mit dem Satz endet: „Und sie (die Jünger) waren allezeit im Tempel und priesen Gott“ (Lk 24,53).

Nach der Apostelgeschichte werden die Jünger in anderer Weise zu ihrer Verkündigung beauftragt als bei Matthäus. Dort heißen die letzten Wor­te des auferstandenen Jesus: „Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samaria und bis an die Enden der Erde“ (Apg 1,8). Ein wichtiger Aspekt des Missionarischen ist bei Lukas das Wirken des Geistes, durch den Gott selbst die Boten und die Hörer lenkt. In diesem Sinn zeigt Lukas in seiner Darstellung immer wieder, dass sich manche Hörer der christlichen Glaubensverkündigung öffnen und andere nicht.

Lukas erzählt von der Ausbreitung der christlichen Gemeinden durch das Wirken von Boten, die von Jerusalem aus in verschiedene Regionen des Römischen Reiches reisen. Dabei ist vor allem die erste Zeit eine Zeit der Krisen und Gefahren. Einerseits heißt es: „Und das Wort Gottes breitete sich aus, und in Jerusalem wuchs die Zahl der Jünger stetig; auch ein großer Teil der Priester wurde dem Glauben gehorsam“ (Apg 6,7). Andererseits heißt es: „An jenem Tag nun kam eine große Verfol­gung über die Gemeinde in Jerusalem. Alle wurden versprengt über das ganze Land, über Judäa und Samaria, nur die Apostel nicht“ (Apg 8,1). Lukas ist der Verfasser langer Predigten in der Apostelgeschichte, in denen der christliche Glaube bewiesen werden und für den christlichen Glauben geworben werden soll. Im Zentrum steht dabei immer wieder die Erfüllung der Hoffnung Israels durch das Kommen von Jesus Chris­tus. So hält Petrus zwei Predigten, die in Apg 2,14–41 und 3,11–4,4 aus­führlich nachgezeichnet werden. Stephanus, der verfolgt und gesteinigt wird und eine große Verfolgung auslöst, hält eine Predigt, die Lukas in Apg 7,1–53 auf seine Weise rekonstruiert. Im Vergleich zu Matthäus geht es bei Lukas vorrangig um die Frage der Glaubenserkenntnis, weniger um die Frage des Lebens aus dem Glauben. Doch der Eindruck täuscht. Lukas erzählt ausdrücklich davon, dass aus „allen Völkern“ die Men­schen eingeladen sind, zur christlichen Gemeinde zu kommen. Deshalb zählen die Gebote Israels nicht als die Gebote Israels, sondern sie haben ihre Bedeutung, soweit es in ihnen um die Frage der Gerechtigkeit geht. So kommt Petrus in einer Begegnung mit dem römischen Hauptmann Kornelius zu der Erkenntnis: „Jetzt erkenne ich wirklich, dass bei Gott kein Ansehen der Person ist, sondern dass ihm aus jedem Volk willkom­men ist, wer ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt. Das ist das Wort, das er den Israeliten gesandt hat, als er die Botschaft des Friedens verkündigte durch Jesus Christus, der Herr ist über alle“ (Apg 10,34–36).

Unter der Voraussetzung dieser Erkenntnis erzählt Lukas dann von Pau­lus als dem wichtigsten Boten der frühen Christenheit. Paulus erlebt eine direkte Bekehrung zum christlichen Glauben durch eine Licht­erscheinung und eine Stimme aus dem Himmel (Apg 9), er nimmt die Verbindung mit den Jüngern in Jerusalem auf und er reist durch Klein­asien und Griechenland, um zu predigen. Dabei ist die Gemeinde in Antiochia seine Missionsbasis (Gal 2,11; Apg 11,19–26; 13,1–3; 14,26–28; 15,30–41; 18,22–23). Nur drei Orte aus der Erzählung des Lukas über die Reisen des Paulus können hier genannt werden: Lukas schildert, wie Paulus in Athen eine Predigt hält, nachdem er erst in der Synagoge mit torahtreuen und gottesfürchtigen Juden, dann auf dem Marktplatz mit epikureischen und stoischen Philosophen vielfache Gespräche geführt hat (Apg 17,17–18). Seine Predigt ist das Muster einer Predigt für Men­schen, die auf der Suche sind: „Der Gott, der die Welt geschaffen hat und alles, was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind, er lässt sich auch nicht von Menschenhänden dienen, als ob er etwas nötig hätte; er ist es ja, der allen Leben und Atem und überhaupt alles gibt. Aus einem einzigen Menschen hat er das ganze Menschen­geschlecht erschaffen, damit es die Erde bewohne, so weit sie reicht. Er hat ihnen feste Zeiten bestimmt und die Grenzen ihrer Wohnstätten festgelegt, damit sie Gott suchen, indem sie sich fragen, ob er denn nicht zu spüren und zu finden sei; denn er ist ja jedem einzelnen unter uns nicht fern“ (17,24–27). Paulus also spricht von Religion in einem sehr weiten Sinn und davon, dass alle Menschen offen sind für die Frage nach Gott dem Schöpfer. Doch die Reaktion der Hörer wird kritisch, als es um Jesus und die Botschaft der Auferstehung geht – die einen beginnen zu spotten, die anderen sagen: „Darüber wollen wir ein andermal mehr von dir hören“ (17,32). Das ist die Erfahrung in Athen.

Anders ist die Erfahrung in Korinth: Lukas weiß zwar nicht viel von der Zeit des Paulus in Korinth zu erzählen, wenn er schreibt: „So blieb er (Paulus) ein Jahr und sechs Monate dort und lehrte unter ihnen das Wort Gottes“ (Apg 18,11). Doch zeigt er in einem typischen Missions­schema, dass Paulus seine Verkündigung zuerst in der Synagoge an „Juden und Griechen (Gottesfürchtige)“, dann aber an die „Heiden“ gerichtet habe. In einer Vision habe Christus ihm Mut zugesprochen mit den Worten „Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! Denn ich bin mit dir …; ich habe nämlich viel Volk in dieser Stadt“ (Apg 18,1–18). Über die Erfahrungen des Paulus in Korinth lässt sich indessen viel aus den Briefen lernen, die Paulus an die Gemeinde dort geschrie­ben hat und die im Neuen Testament im 1. und 2. Korintherbrief zusam­mengestellt sind. Darauf ist noch zurückzukommen.

Als dritter Ort darf Rom nicht übersehen werden. Nach einer langen Schiffsreise über das Mittelmeer, mit einem dramatischen Schiffbruch nach der Abreise von Kreta, lässt Lukas in Apg 28,14 Paulus in Rom an­kommen und dort ein Haus beziehen, in dem er von einem Soldaten bewacht wird, weil noch ein Rechtsverfahren vor dem Kaiser in Aussicht steht. Mit dieser Situation beendet Lukas seine Erzählung von Evangeli­um und Apostelgeschichte, so dass sie als ein Schlussbild im Vergleich mit dem Schlussbild des Matthäusevangeliums gedeutet werden kann. Wie in Korinth spricht Paulus zuerst mit Vertretern der jüdischen Syna­gogengemeinde, von denen – so Lukas – einige sich überzeugen lassen, andere ihm aber keinen Glauben schenken (Apg 28,24). In den nächsten zwei Jahren empfing Paulus in seinem Haus „alle, die zu ihm kamen“, und „verkündigte das Reich Gottes und lehrte über Jesus Christus, den Herrn, in aller Offenheit und ungehindert“ (28,30–31). Dies ist ein star­ker, positiver Schlussakzent im Blick auf die Weitergabe der Glaubens­botschaft, aber es ist ihm ein negativer Schlussakzent vorangestellt, indem Paulus mit einem Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja von der Unfähigkeit in Israel spricht, die Botschaft von Jesus Christus zu verstehen (28,25–27 mit Zitat aus Jes 6,9–10). Die Wendung zu den „anderen Völkern“ wird auch bei Lukas zu einem Programm, und die Glaubenswege der Juden und der Christen haben sich eindeutig getrennt (28,28).

Viele Dimensionen des Missionarischen klingen in den genannten Tex­ten des lukanischen Doppelwerkes an. Der Lauf des Evangeliums unter den Völkern des Römischen Reiches führt von Jerusalem nach Rom, mit Antiochia, Korinth und zahlreichen anderen Orten als Stationen auf dem Weg. Alle, die an der Ausbreitung der Botschaft vom Glauben an die Auferweckung Jesu als dem einzigartigen Erweis der Gnade Gottes für die Menschen beteiligt sind, sind vom Heiligen Geist geleitet. Alle, die an der Verkündigung beteiligt sind, kommen zu der Erkenntnis, dass das Wort ihrer Verkündigung alle Menschen erreichen soll und alle Men­schen zum Glauben einlädt. Alle, die an der Verkündigung beteiligt sind, machen Erfahrungen von Zustimmung oder Ablehnung. In der Zeit, in der Lukas schreibt, beschäftigt ihn besonders die Ablehnung der Botschaft in den jüdischen Synagogengemeinden, doch ist das für ihn eine Erfahrung, die im Licht eines rätselhaften prophetischen Wortes bei Jesaja über die Wege Gottes verstanden werden muss und den Rang und die Würde der jüdischen Gemeinden nicht in Frage stellt. Beim christlichen Glauben geht es um die Öffnung des Glaubens Israels für alle Völker, nicht um die Bestreitung des Glaubens Israels (Apg 28,28). Auf eine weitere Dimension verweist Lukas mit der Vorstellung einer Predigt des Paulus in Athen, mitten in der Welt der Philosophen. Im philosophischen und im suchenden religiösen Nachdenken über den Gott, der die Welt und das eine Menschengeschlecht in dieser Welt geschaffen hat, ist die Erkenntnis möglich, dass Gott den Menschen „nicht fern“ ist (Apg 17,27) – so wie Petrus die Einsicht gewinnt, dass die Gebete und Almosen des römischen Hauptmanns Kornelius nicht vergeblich sind (Apg 10,30–31). Bei allen Besonderheiten der Erzählung des Lukas über die Verkündigung von Jesus Christus, von der Lukas ja sogar meint, dass ihre Wahrheit mit Bezug auf die Propheten Israels beweisbar sei, scheint an einzelnen Punkten ein Verständnis des Glau­bens auf, das heute für die Frage nach Dialogstrukturen wichtig werden kann (Apg 17,16–34; 28,17–31). Auch bei Lukas könnte man nicht ein­fach von einem „Missionsbefehl“ sprechen.

Paulus lesen

Ein Ausblick auf die Briefe des Paulus nach Korinth soll die Skizze der beiden großen Erzählungen des Matthäus und des Lukas ergänzen. In Korinth gab es Streit über die Autorität des Paulus, der sein Wirken ge­genüber dem Verdacht verteidigen muss, er stelle sich selbst in den Mittelpunkt. Dem setzt Paulus seine Deutung des Evangeliums als Botschaft der Gnade Gottes entgegen: „Alles aber kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöh­nung aufgetragen hat. Denn ich bin gewiss: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und unter uns das Wort von der Versöhnung aufge­richtet hat“ (2 Kor 5,18–19). In Korinth gab es Streit über die Frage von Weisheit als Erkenntnis himmlischer Geheimnisse. Dem setzt Paulus seine Deutung des Evangeliums als Botschaft vom Tod Jesu am Kreuz entgegen: „Denn da die Welt, umgeben von Gottes Weisheit, auf dem Weg der Weisheit Gott nicht erkannte, gefiel es Gott, durch die Torheit der Verkündigung jene zu retten, die glauben. Während die Juden Zei­chen fordern und die Griechen Weisheit suchen, verkündigen wir Chris­tus den Gekreuzigten – für die Juden ein Ärgernis, für die Heiden eine Torheit, für die aber, die berufen sind, Juden wie Griechen, Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Kor 1,21–24). In Korinth gab es Streit über die Geistesgaben, von denen Glaubende sich bewegt fanden. Dem setzt Paulus seine Deutung des Evangeliums als Botschaft der Lie­be entgegen: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen rede, aber keine Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz, eine lärmende Zim­bel. … Die Liebe kommt niemals zu Fall: Prophetische Gaben – sie wer­den zunichte werden; Zungenreden – sie werden aufhören; Erkenntnis – sie wird zunichte werden“ (1 Kor 13,1.8). Auch hier sind Dimensionen des Missionarischen zu greifen: Die Zusage der Versöhnung mit Gott, der bereit ist, Verfehlungen zu vergeben, die Konzentration auf den Weg Jesu in den Tod am Kreuz, von dem zu erzählen ist, weil Weisheit und Wunderglaube auch von Gott wegführen können, und die Zentralität des Gebotes der Nächstenliebe, ohne die nichts überzeugen und nichts bestehen kann.

Sorgfältig lesen!

Wie kann ein Leser, eine Leserin Dimensionen des Missionarischen in der Bibel entdecken und in der Praxis fruchtbar machen? Vonseiten der Bibelwissenschaft ist die Ermahnung nötig, dass biblische Texte in klei­nen Abschnitten gelesen und sehr differenziert wahrgenommen werden müssen. In der Tradition des Judentums gibt es den schönen Satz über die Torah, „wende sie hin, wende sie her, denn in ihr steckt alles“ („Sprü­che der Väter“/Avot 5.22). Ein solcher sorgsamer Umgang mit biblischen Texten ist immer wieder zu erproben. Ein Superetikett wie „Missionsbefehl“ kann nicht dazu beitragen, das „Wort von der Versöh­nung“ an Menschen weiterzugeben, die außerhalb der christlichen Kir­che in ihrer eigenen Weisheit oder ihrer eigenen Religion leben. Viel­mehr ist es nötig, die Aufmerksamkeit darauf zu lernen, wie andere Menschen in anderen Religionen die Gnade Gottes, die auf Vergebung zielt, und die Gebote Gottes, die auf das Liebesgebot zielen, verstehen. Trotz aller Konflikte, die das Neue Testament vor allem in der Abgren­zung gegenüber dem Judentum konstruiert, ist das Neue Testament auch eine Einladung dazu, Dialogsituationen zu gestalten. Ob ein Leser, eine Leserin den Schlusspunkt der Erzählung des Matthäus eindrückli­cher findet als den der Erzählung des Lukas oder umgekehrt, bleibt je­weils eine eigene Entscheidung. Doch schon die Vielfalt von Richtungen und Texten der frühen Christenheit ermutigt zu Vielfalt in friedlicher Nachbarschaft heute.