Säkularität in religionswissenschaftlicher Perspektive
Lange hatte die Säkularisierungsthese den Hintergrund für die Deutung von Prozessen der Modernisierung dargestellt, durch die Religion und Glaube scheinbar „verdunsten“ und immer mehr verschwinden. Ergänzt durch andere religionssoziologische Großthesen wie die Individualisierungstheorie und das religiöse Marktmodell, ist heute weitestgehend akzeptiert, dass zwar tatsächlich Prozesse der Säkularisierung – und dies nicht nur in den entwickelten Industriegesellschaften Westeuropas – ablaufen, die jedoch einerseits als (Unter-) Prozesse von Pluralisierung begriffen werden können, und andererseits nicht im Sinne eine irreversiblen und linear ablaufenden Bewegung zu verstehen sind, an deren Ende irgendwann Religion obsolet und verschwunden ist. José Casanova fordert dazu auf, sich im oft emotional und kontrovers geführten Diskurs über Säkularisierung darüber zu verständigen, was eigentlich jeweils unter Säkularisierung verstanden wird. Ist es die generell abnehmende Bedeutung der Religion oder eher der Rückzug der Religion aus dem öffentlichen Raum? Oder geht es vielmehr um Freisetzung gesellschaftlicher Teilbereiche von unmittelbarer religiöser Kontrolle? Spätestens seit Charles Taylors Beitrag „Ein säkulares Zeitalter“ ist die Befassung mit dem Phänomen der Säkularität und der Diskurs darüber angefacht worden. Ähnlich wie in der Politikwissenschaft der Nicht-Wähler in den Fokus des Interesses gerückt ist, wird insbesondere in der Religionssoziologie und der Religionswissenschaft über Säkularität und Nicht-Religion in ihrer Abgrenzung und Referenz auf religiöse Sinnentwürfe verhandelt. Im Hintergrund dieses Diskurses stehen nicht nur Casanovas Thesen zur Deprivatisierung von Religion, sondern auch Peter Bergers Kehrtwendung mit seiner Idee der Desäkularisierung und Habermas‘ vielbeachtete Rede, in der er die mangelnde Kommunikationskompetenz („Sprachlosigkeit“) zwischen „religiösen“ und „säkularen“ Bürgern als Bedingungen der Segmentierung der Gesellschaft sieht. In diesem Diskurs über Religion und Nicht-Religion (wie auch immer man beides beschreiben mag) wird jedenfalls deutlich: Einerseits scheint die These Mircea Eliades widerlegt, zum vollwertigen Menschsein gehöre Religion dazu. Zum anderen gerät die Historizität und Kontextgebundenheit von begrifflichen Konzepten von „Religion“ und „Säkularität“ stärker in den Blick. Der vorliegende Band stellt die Dokumentation einer Ringvorlesung dar, die im Wintersemester 2011/2012 an der Universität Hannover stattfand, zu der Vertreter von Religionswissenschaft, Soziologie und evangelischer wie katholischer Theologie beitrugen. Sie trug den Titel „Religiöse und säkulare Identität in der europäischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert.“
Christoph Bochinger weist in seinem Grundsatzbeitrag darauf hin, dass die Religionswissenschaft mit Konzepten säkular-wissenschaftlicher Natur arbeitet und Religion so als menschliches bzw. soziales Phänomen, nicht wie die Theologie als Ergebnis göttlicher Offenbarung beschreibt. Er zeigt auf, dass Säkularität und Religion beide nicht unabhängig voneinander beschrieben werden können. Der religionswissenschaftliche Blick sieht Religion grundsätzlich als etwas Plurales und berücksichtigt sowohl hochkulturelle und popularreligiöse Aspekte, Synkretismen sind dabei Normalfall und nicht Ausnahme.
Individuelle Religiosität wird nicht als Anlage, sondern kulturell erworben und als Ergebnis eines Sozialisationsprozesses beschrieben. Zur Abgrenzung von Religion und Säkularität votiert Bochinger für eine operationalisierungsfähige Religionsdefinition, die jedoch wie jede Definition als Konstruktion zu verstehen ist. Die Gefahr solcher Religionsdefinitionen sei, dass sie oft unreflektierte Verallgemeinerung kirchlich-christlicher Religionsaspekte seien, die kritisch hinterfragt und ggf. weiterentwickelt werden müssten. Bei Individuen zeigt Bochinger anhand einer Schweizer Studie von 2012 „Religionen, Staat und Gesellschaft“ auf, dass eine stetige Abnahme institutioneller, an eine Religionsgemeinschaft gebundene Religiosität wahrzunehmen sei und säkulare Weltanschauungen und Lebensweisen immer stärker verbreitet seien. Dabei blieben viele Menschen ihren Religionsgemeinschaften in gewisser Hinsicht verbunden, es zeigten sich jedoch unterschiedliche zeitliche und lebensgeschichtliche Profile des religiösen Interesses und die plurale Rezeption mehr oder weniger „religiöser“ Ressourcen aus unterschiedlichen Quellen. Bei öffentlichen Institutionen sieht Bochinger trotz aller Säkularisierung bei Individuen einen eher wachsenden Einfluss der christlichen Kirchen. Er verweist auf eine deutliche Schere zwischen der zurückgehenden institutionellen Religiosität der Individuen und einem gleichzeitig wachsenden Einfluss der beiden großen christlichen Kirchen auf öffentliche, vom Staat finanzierte, aber kirchlich geführte Institutionen. Die konstatierte Zunahme öffentlicher Debatten über Religion sage hingegen nichts über zunehmende Religiosität in der Bevölkerung, da das Thema Religion an sich nicht interessiere, sondern nur im Zusammenhang mit politisch-gesellschaftlichen Ko-Themen. Sein Fazit: Die Religiosität der Bevölkerung in westeuropäischen Ländern geht auf individueller Eben zurück und diversifiziert sich gleichzeitig. Säkularität im Sinne einer nicht-religiösen weltanschaulichen und lebenspraktischen Orientierung ist immer weiter verbreitet, dabei gibt es Grautöne und Zwischenstufen. Es entstehe vielerorts ein Bereich der privaten Subjektivität als Form der „sakralisierenden Beschäftigung mit kleinen Transzendenzen“ (43). Menschen suchten und fänden ohne Rückgriff auf religiöse Institutionen Wege, mit Transzendenzerfahrungen umgehen zu können. Bochinger warnt vor dem Fehlschluss, traditionelle religiöse Deutungssysteme wären auch in der modernen Gesellschaft unabdingbar und es gäbe einen gesellschaftlichen Bedarf an ihrem kulturellen oder moralischen Erbe. Es sei wenig sinnvoll anhand bestimmter Kriterien einen Menschen als ‚ religiös‘ oder ‚ säkular‘ einordnen zu wollen. Sinnvoller sollten unterschiedliche Bezugnahmen auf religiöse und säkulare Weltdeutungen in einem zusammenhängenden Konzept untersucht werden. Das Konzept der „Säkularität“ sei nicht einzuschränken auf den Befund einer explizit anti-religiösen Haltung, sondern ebenso flexibel ausgestaltet wie die Religionskonzepte der aktuellen empirischen Sozialforschung. „‚Säkularität’ ist unter den Bedingungen moderner funktional ausdifferenzierter Gesellschaften nicht einfach als Gegenteil von ‚Religion’ zu verstehen, sondern als eine Variante des Umgangs mit den Subjektivierungszwängen des modernen Lebens.“ (45)
Peter Antes („Leben in einer total säkularisierten Welt“) unterscheidet angesichts der steigenden Tendenz der Konfessionsfreien in beiden Teilen Deutschlands den voraussetzungsloser Atheisten, dessen intellektuelle Bemühungen sich nur auf Fragen aus der Erfahrung und ohne Rückgriff auf Gott richten, vom religionskritischer Atheisten, der die Existenz eines oder mehrerer Götter leugnet. Eine in sich abgeschlossene Profanität, so Antes, sei typisch für die säkularisierte Lebenswirklichkeit, nicht eine speziell atheistische oder agnostische Ausrichtung, sondern die Abwesenheit des Fragens in dieser Richtung. Im Blick auf einen Briefwechsel von Kardinal Martini und Umberto Eco verweist Antes auf den Dialog zwischen Glaubenden und Nicht-Glaubenden über moralische Fragen, der nur dann gelingt, wenn gemeinsam der moralische Wert des Gemeinwohls und der Nächstenliebe anerkannt und radikal praktiziert werden.
Steffen Führding schlägt als Gegensatz zum breiten Weg der säkularisierungstheoretischen Perspektive den schmalen Pfad eines diskurstheoretischen Verfahrens vor. „Religion“ und „Säkularität“ sind dabei als Konzepte oder klassifikatorische Kategorien, nicht als natürliche Gegenstände zu verwenden. Diskursive Wirklichkeit meint: Die Bedeutung von etwas liegt nicht im Gegenstand, sondern wird ihm zugeschrieben. Die Bedeutungen sind kontingent, im Diskurs, historisch erzeugt und tradiert und abhängig vom jeweiligen spezifischen Kontext. Führding untersucht die Begrifflichkeit des „Religiösen“ und verweist darauf, dass ab der Frühe Neuzeit ein grundsätzlicher Wandel im Religionsdiskurs beginnt, der im 18. und 19. Jahrhundert an Kraft gewinnt und an dessen vorläufigem Ende „unser modernes Verständnis von Religion als Gattungsbegriff steht“. (79) Im Mittelalter habe es ein holistisches Konzept von Religion gegeben: Sie umfasste alle Lebensbereiche, eine Unterscheidung eines religiösen von anderen Bereichen sei nicht möglich gewesen. Außerhalb dieser christlichen Wahrheit habe nach damaligem Verständnis nichts existieren können. Die Privatisierung von Religion (insbesondere bei John Locke) führte dazu, dass so etwas wie der öffentliche säkulare Raum erstmals gedacht werden konnte. Ziel war der Wunsch nach religiöser Toleranz, also die eigene Religion ohne Einmischung des Staates leben zu können. Führding macht deutlich, dass eine solche Konzeptualisierung von „Religion“ als unpolitischer, innerlicher Bereich zwei Funktionen hat: Einerseits schützt er abweichende Meinungen, weiterhin schützt er den gesellschaftlichen Status Quo, weil Konflikte internalisiert und nicht mehr öffentlich ausgetragen werden. Führding resümiert, dass eine Abgrenzung zwischen „Religion“ und „Säkularität“ nicht eindeutig sein kann. Ihre jeweilige Verwendung ist interessegeleitet und bedingt die Reflexion der historischen und kulturellen Gebundenheit dieser Kategorien.
Johannes Quack verweist in seiner Frage nach „Nichtreligion“ auf feldtheoretische Überlegungen. Es sei ein Missverständnis, wenn mehr oder weniger klare Grenzen beim Thema „Religion“ gezogen würden. Das Problem sei, dass „Nichtreligion“ oft als eine einheitliche Restkategorie oder als undifferenziertes Überbleibsel einer Subtraktion von Religion angesehen werde. Jede Analyse von nichtreligiösen Phänomenen bezieht sich seiner Auffassung nach jedoch notwendigerweise auf „Religion“, bzw. auf ein religiöses Feld. Demgegenüber ließe sich das Areligiöse ohne Bezug zum religiösen Feld beschreiben. Das religionsbezogene Feld wird von Phänomenen gekennzeichnet, die gemeinhin als religiös verstanden werden: Glauben, Handlungen, Zugehörigkeiten. Seine Grenzen sind immer umstritten (vgl. Diskussionen um unsichtbare Religion, Zivilreligion, Spiritualität usw.). Auf dem Hintergrund der Überlegungen von Pierre Bourdieu vertritt Quack die These, es gehe bei Untersuchungen weniger um die Gegenüberstellung von religiösen und nichtreligiösen Positionen, sondern vielmehr um die Frage, wie die Grenzen des Feldes von den Akteuren gemeinsam gesetzt, ausgehandelt, kritisiert, unterlaufen etc. würden. Es gebe verschiedenste Möglichkeiten, religiöse und nichtreligiöse Felder miteinander in Beziehung zu setzen. Wenn nun religionswissenschaftliche Forschung „Nichtreligion“ zum Gegenstand nimmt, muss sie sich immer bewusst sein, dass sie selbst Teil eines religionsbezogenen Felds ist. Es gibt also immer Akteure, die im religionsbezogenen Feld agieren und sich positionieren. Insofern gibt es keine neutrale Position bezüglich „Religion“.
Nach den grundlegenden Beiträgen folgen im zweiten Teil des Bandes Darstellungen von Ergebnissen empirischer Forschungsvorhaben. Sebastian Murken wertet mit Hilfe von religionspsychlogischen Überlegungen zum „Unglauben“ die Ergebnisse des eines Dialog-Projekts im Internet (www.ohne-gott.de) aus, das im Erzbistum Köln durchgeführt wurde. Sein Fazit: Ebenso wenig, wie es „den“ religiösen Menschen gibt, gibt es „den“ Gottesfernen. Er unterscheidet reflektierte Atheisten von zufälligen Atheisten und „gezwungene“ Atheisten und weist darauf hin, dass für viele Menschen eine Ablehnung Gottes mit innerem Ringen verbunden ist. Bei vielen sei die Sehnsucht nach Glaube und Spiritualität festzustellen, die aber nicht mehr durch eine christliche Religiosität erfüllt wird. Apersonale Vorstellungen von Gott erfahren breite Zustimmung, eine personale Gottesvorstellung werde zunehmend zurückgedrängt. Das Phänomen der religiösen Indifferenz ist nach Murkens Analyse weit verbreitet, für viele ist jedoch ein diffuser Wunsch nach Transzendenzbezug offen, der dann wiederum Ausgangspunkt individueller Sinnkonstruktion ist. Murken schließt daraus, dass die Kategorien Glaube vs. Unglaube nicht sinnvoll und hilfreich seien, sondern vielmehr: „Ausgehend von der Frage, wie Menschen Sinn konstruieren, Kontingenz bewältigen und Kohärenz herstellen, muss es eher darum gehen, diese individuellen Sinnkonstruktionen mit ihren sozial determinierten Metaphern zu erfassen, zu verstehen und zu systematisieren.“ (149)
Im Band finden sich außerdem die Ergebnisse Anna Neumaiers aus ihrer Analyse religionsbezogener Online-Diskussionsforen, bei der sie die biografischen Narrationen und die Selbstverortungen nichtreligiöser Nutzer untersucht und auswertet. Den Abschluss bildet die Darstellung des Humanistischen Verbandes und seiner Rolle als Akteur im interreligiösen Dialoggeschehen in Deutschland durch Stefan Schröder.
Auch wenn der (pastoral-)theologisch interessierte Leser hier mit Empirie und religionswissenschaftlicher Theorie genährt wird, so ist dieser Band ein anregender Beitrag zu den pastoraltheologischen Debatten um Erneuerung der Kirche und Fragen um die Verkündigung (oder besser: „Entdeckung“?) des Evangeliums in einer säkularen Gesellschaft. Der durchlaufende „Rote Faden“ des Bandes, Säkularität nicht als Begrenzung und Gefährdung von Religion, sondern als Basis für Verständigungsprozesse von Glaubenden und Nicht-Glaubenden zu verstehen, ist in besonderer Weise dazu geeignet, den Perspektiven einer missionarischen Kirche realistische und gleichwohl ermutigende Orientierung zu geben.
Hubertus Schönemann