Inhalt

Pastoral der Schwellenchristen? Erkundungen zur säkularen Bedeutung des Evangeliums

In den Sphären von aufgeschlossenem Atheismus und säkularer Frömmig­keit folgt Christian Bauer den Spuren der „Schwellenchristen“ – und ent­faltet eine Ekklesiologie, die (mit Joseph Ratzinger) ein „Fürsein“ der kirchlichen Dauer-„Siedler“ für die „Suchenden“ kennt.

Keine Ahnung, woher sie meine Nummer hatte. Eines Tages hat sie ein­fach angerufen, die junge Filmerin. Ich wohnte damals noch mitten im säkularen Osten von Berlin (vgl. Bauer 2003), und sie wollte für ein Film­projekt „mal mit einem Theologen reden über das Christentum und so“. Wir trafen uns an einem lauen Abend im Spätsommer, sind über den Zaun einer bereits geschlossenen Strandbar geklettert und saßen dann mit Dosenbier an der Spree und haben geredet: über Gott und die Welt, über Menschen und Mächte, über das Leben, die Liebe und das kleine Glück in dieser Zeit. Ich weiß nicht, welche weiteren Folgen diese Begegnung für die junge Filmerin hatte oder was sie heute tut. Und doch liegt für mich ein Hauch von Nikodemusbegegnung über dieser Erinnerung: ein punktueller Kontakt zu nächtlicher Stunde, bei dem es um die wirklich wichtigen Fragen des Lebens ging: Wovon leben wir eigentlich und wofür? Fragen wie diese stehen denn auch im Zen­trum einer ‚extrovertierten‘ Pastoral im Sinne von Papst Franziskus, die sich glaubensnahen Kirchenfremden zuwendet. Man kann sie mit Tomáš Halík als „Zachäus-Menschen“ (Halík 2010) bezeichnen, die in interessierter Halbdistanz zum Evangelium leben. Oder aber, wie im Titel dieses Beitrags, auch als Schwellenchristen – wobei es sich auch hier, wie im Fall von Rahners Begriff des anonymen Christen, nicht um eine Kategorie der kirchlichen Vereinnahmung handelt, sondern viel­mehr um einen Begriff der depotenzierenden Entsicherung des Eigenen: Gott selbst als anonymes Geheimnis einer zwar weithin kirchenfernen, deswegen aber noch lange nicht gottlosen säkularen Welt.

Schwellenchristen sind in existenziellen Fragen ansprechbare, zugleich in religiösen Dingen aber auch höchst skeptische Zeitgenossen. Evange­liumsnahe Randsiedler des Christentums, die dessen gesellschaftliche Übergangszonen als ihren eigenen kirchlichen Ort begreifen – ähnlich wie Simone Weil, die 1943 vermutlich ungetauft an der Schwelle zur Kirche starb (vgl. Winter 2004, 57–59). Sie bewohnen einen hybriden Zwischenraum des Heiligen jenseits der Unterscheidung von Sakralem und Profanem (vgl. Bauer 2008). Der folgende Erkundungsgang einer nicht nur an religiösen, sondern auch an säkularen menschlichen Erfah­rungen interessierten Pastoraltheologie führt mitten hinein in diesen Transitbereich zwischen Kirche und Welt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ (GS 1). Mit lernbereiter Gottesvermutung folgt sie einem entgrenzenden „Lockruf der Gnade“ (PO 18), hinein in jene säkularen Bereiche des Lebens, wo dem Zweiten Vatikanum zufolge zwar „Gott, nicht aber die Kirche ist“ (Bucher 1998, 262). Das führt zu einer neuen pastoralen Option für die Suchenden im Rahmen einer „Theologie der Befreiung […] von den ‚Sicherheiten‘ im Bereich der Religion – seien es die Sicherheiten im Bereich des Atheismus, der sich selbst nicht problematisiert, oder die Sicherheiten einer Religiosität, die auf ganz ähnliche Weise an der Oberfläche bleibt“ (Halík 2010, 39).

1. Gottesfürchtige des 21. Jahrhunderts

Ins Blickfeld rücken damit ebenso ambivalenzfähige wie dilemma­kom­pe­tente Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die sich wie der italienische Schriftsteller Ignazio Silone in den 1960er Jahren jenseits des Gegensat­zes von Don Camillo und Peppone verorten: „Ich bin ein Christ ohne Kir­che und ein Sozialist ohne Partei“ (vgl. Stempel 2000). Die hier unter­lau­fene klassisch moderne Differenz von ‚Kirchenchristentum‘ und ‚Parteisozialismus‘ hat sich inzwischen hochgradig pluralisiert – heute stehen wir mit Bruno Latour längst mitten in den entsprechenden Plu­ra­litätsstrudeln einer späten Moderne: „Er [so Latour über sich in der dritten Person] schämt sich dessen, was sonntags, wenn er zur Messe geht, von der Höhe der Kanzel herab ertönt; aber er schämt sich auch des ungläubigen Hasses […] derer, die über die Kirchgänger spotten. Schämt sich, wenn er hingeht, schämt sich, wenn er nicht zu sagen wagt, dass er hingeht; […] als hätten ihn zwei gegenläufige Strömungen gepackt und wirbelten ihn um die eigene Achse“ (Latour 2011, 7 f.). In solchen Äußerungen wird das „atheistische Hyperchristentum“ (Pornschlegel 2011, 19) zahlreicher heutiger Intellektueller sichtbar: „Die avantgardistische Moderne revoltiert gegen beides: gegen die kirchlichen Institutionen […] ebenso sehr wie gegen die säkulare Ge­sellschaft“ (ebd., 8). Jenseits der „abgeschotteten Lager“ (Halík 2010, 28) von allzu „selbstsicheren Gläubigen“ (ebd.) einerseits und allzu „selbst­sicheren Atheisten“ (ebd.) andererseits tun sich damit faszinierende neue Räume des Gesprächs über das Evangelium auf.

Vor diesem Hintergrund gerät zunehmend eine Personengruppe in den Blick, die im Neuen Testament ‚Gottesfürchtige‘ genannt wird: Heiden, die unbeschnitten, aber gottesgläubig auf der Schwelle zum Judentum leben. Ein lukanisches Beispiel für diese „nichtjüdischen Sympathisan­ten des Judentums“ (Theißen 2002, 40), die man in Analogie zu Silones Diktum auch ‚Juden ohne Synagoge‘ nennen könnte, ist ein ‚Gottes­fürch­tiger‘ aus der Diaspora: der äthiopische Kämmerer aus Apg 8. Dem christlichen Missionar Philippus widerfährt etwas in diesem Zusam­men­hang höchst Spannendes: Er steigt zu ihm in den Wagen und be­kommt dort einen Abschnitt aus der eigenen Hl. Schrift zu hören. Das Evangelium ist längst eine open source, so lässt sich mit Blick auf unsere Situation heute sagen, aus der jeder schöpfen kann – auch Halb-, An­ders- oder Nichtgläubige. Dieses Echo des Eigenen in der Stimme des Anderen ermutigt zur mystagogischen Kontaktaufnahme auch mit den ‚Gottesfürchtigen‘ unserer Tage. Diese Schwellenchristen in den Über­gangszonen der Kirche stellen nicht nur eine evangelisatorische Heraus­forderung dar, sondern auch eine entsprechende Heraus-Forderung. Denn sie fordern, aus den eigenen religiösen Gewissheiten herauszu­treten und ein Stück des Weges bei ihnen im Wagen mitzufahren.

2. Freunde des Evangeliums

Dort kann man religiösen Zeitgenossen begegnen – aber eben auch sä­ku­­laren, die oftmals alles andere als schlechte Menschen sind: Freunde des Evangeliums, potenzielle Verbündete im Einsatz für die Sache Jesu. Jeder kennt vermutlich solche profanen Heiligen: selbstlose Menschen, die in ihrem Alltag bereit sind, mehr in die „Bank des Lebens“ (Rahner 1968, 215) einzuzahlen, als sie aus ihr herausbekommen. Heldinnen und Helden des Unmöglichen, die sich mit einer „Unbedingtheit jen­seits des Erforderlichen“ (Ott 2006, 109 f.) unter zum Teil erheblichen Risiken für andere Menschen einsetzen – ohne allerdings Gott als eine Ressource ihrer Selbstlosigkeit begreifen zu können. Der „atheistische Humanismus“ (vgl. Lubac 1998) dieser Einsatzbereitschaft inspiriert dazu, das Christentum mit säkular interessierten und engagierten Theologen wie Dietrich Bonhoeffer, M.-Dominique Chenu oder Karl Rahner – zumindest probeweise – als ein potenziell nichtreligiöses, profanes oder anonymes zu denken. Man wird ähnliche Erfahrungen machen wie die ersten französischen Arbeiterpriester nach dem Zwei­ten Weltkrieg bzw. vor dem Zweiten Vatikanum: „Ich bin kämpferi­schen Arbeitern begegnet, habe […] ihre Großmut, ihre Uneigennützig­keit und ihre unbesiegbare Hoffnung erkannt. Ich […] sah ihre Anstren­gungen, um die Ausbeutung, die Ungerechtigkeit und den Krieg abzu­schaffen. Ich bin mutigen, anständigen, menschlichen Marxisten begeg­net“ (Günther/Janés 1957, 140).

Das Evangelium, das diese „Priester im Blaumann“ (Viet-Depaule 2002, 5) ihren Kameradinnen und Kameraden in den Hafenvierteln, Autofa­briken und Kohleminen hatten bringen wollen, haben sie unter diesen nämlich überhaupt erst verstanden. Nicht sie haben die Arbeiter zur Kirche bekehrt, sondern diese sie zum Evangelium. Im gemeinsamen Einsatz für die Rechte der Arbeiter entdeckten sie dessen säkulare Be­deutung – und ermöglichten somit auch eine pneumatologische Selbst­entgrenzung der Kirche auf dem Konzil: „Christus wirkt […] in den Her­zen der Menschen nicht nur, indem er die Sehnsucht nach der künftigen Welt erweckt, sondern auch jene edlen Meinungen animiert, reinigt und stärkt, durch die sich die Menschheit bemüht, ihr eigenes Leben menschlicher zu gestalten […] Während derselbe Geist die einen beruft, ein sichtbares Zeugnis der Sehnsucht nach der himmlischen Wohnstatt abzulegen und sie auf diese Weise in der Menschheit lebendig zu halten, beruft er die anderen, sich dem irdischen Dienst an den Menschen zu verschreiben und durch dieses Amt dem himmlischen Reich den Stoff zu bereiten“ (GS 38).

3. Kirche in den Ringen des Saturn

Diese Einsicht hat ekklesiologische Konsequenzen. Dabei wird heute eine Unterscheidung zunehmend wichtig, die Charles Taylor vor kur­zem in die Debatte brachte (Taylor 2012, 21): Kirche besteht sowohl aus dwellers (‚Siedlern‘) als auch aus seekers (‚Suchenden‘). Eine entspre­chend passagere Kirche des Konzils, so lässt sich diese Unterscheidung metaphorisch weiterdenken, ist wie ein Lagerfeuer des Evangeliums, an dem die großen Fragen des Lebens zur Sprache kommen: eine heiße Mitte mit offenen Rändern. Es gibt Menschen in ihr, die das Holz nachlegen, damit die Flamme nicht erlischt, oder die Glut unter der Asche wieder entfachen – dwellers, vielleicht auch einige seekers –, und zugleich gibt es auch Menschen, die sich nur für einen Moment dort aufwärmen und dann wieder ihrer Wege gehen – seekers oder auch dwellers anderer Lagerfeuer. Siedler wie Suchende sind beide in diesem Sinne auf konstitutive Weise Kirche, sofern man diese nicht nach dem Modell von pastoralen „Thermosflaschen [versteht], die nach innen warm halten, außen aber alles kalt lassen“ (Rahner 1986, 236). Tomáš Halík hat für dieses kirchenkonstitutive Verhältnis von Siedlern und Suchenden kürzlich ein anderes schönes Bild gefunden: „Bisher war […] unsere Pastoral nur auf dwellers eingestellt. Die Zukunft […] hängt aber davon ab, inwieweit es ihr gelingt, auch die seekers anzusprechen. […] Soll die Kirche nur ein gemütliches Heim für dwellers bieten […]? […] Damit sie […] nicht zu einer Sekte wird, muss die Kirche sich wie der Saturn einen ‚äußeren Ring‘ bewahren“ (Halík 2013, 2 f.).

Wir brauchen eine entsprechende Pastoral der offenen Ränder bzw. der vielen Ringe, die sich mit Karl Rahner konzilstheologisch im Sinne einer sakramentalen Ekklesiologie (vgl. LG 1) denken lässt: nämlich als die explizite Sakramentalität einer heilsuniversal entgrenzten Kirche, die als sichtbares Zeichen der unsichtbaren Gnade („signum visibile invi­sibi­lis gratiae“) daran erinnert, dass diese implizit auch außerhalb der Kirchenmauern wirkt – wodurch das ausdrückliche religiöse Gnadenzei­chen der Kirche jedoch keineswegs obsolet wird. Denn Gott sagt durch dieses Zeichen mitten im Säkularen: „Hier in dieser Welt bin ich und bleibe ich mit meiner Gnade; ich erfülle im Geheimen die letzten Tiefen des Menschen“ (Rahner 1984, 164). Mit Joseph Ratzinger könnte man auch stellvertretungstheologisch von einem proexistenten ‚Fürsein‘ der wenigen explizit-kirchlichen dwellers für die vielen implizit-christli­chen seekers sprechen: „Um die Rettung aller sein zu können, muss sich die Kirche nicht […] mit allen decken, sondern eher macht dies ihr We­sen aus, dass sie […] die Schar der ‚Wenigen‘ darstellt, durch die Gott ‚die Vielen‘ retten will. Ihr Dienst wird zwar nicht von allen, wohl aber für alle getan“ (Ratzinger 1963, 574). Und, so wäre im Sinne des Konzils hinzuzufügen: mit allen.

4. Gott in einer vollen Welt

In einem Vortrag über den homo areligiosus unserer säkularen Gegen­wart lässt Eberhard Tiefensee einen ostdeutschen Jugendlichen zu Wort kommen, der auf die Frage, ob er sich als religiös bezeichnen würde, ant­­wortete: „Ich weiß nicht, ich bin – normal“ (Tiefensee 2001, 14). Kirchlicherseits gilt es, die schlichte Tatsache an sich heranzulassen und anzuerkennen – und zwar nicht nur rein oberflächlich, sondern auch in den Tiefengründen des eigenen Glaubens –, dass es heute gar nicht so wenige Menschen gibt, die ihr Leben auch ohne explizite Bindung an eine Religion sehr gut zu meistern scheinen. Auch in diesem Zusam­men­hang kann aufs Neue eine Erfahrung der Arbeiterpriester gemacht werden: „Wir sind mit einer klaren Vorstellung von dem losgezogen, was wir der Welt zu bringen hätten, und wir haben entdeckt, daß wir Spät-Gekommene waren, die alles lernen mußten […] Wir haben ge­sucht, in welchen Zwischenräumen Platz sein könnte, um unsere Sache unterzubringen, und wir haben eine volle Welt entdeckt, die uns zwang, unseren Glauben selbst einzubringen und in Frage zu stellen“ (Zodrow 2000, 121). In seinen Gefängnisbriefen hat der bereits erwähnte Dietrich Bonhoeffer davon gesprochen, Gott sei „kein Lückenbüßer; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muss Gott erkannt werden“ (Bonhoeffer 1994, 163): „Niemals hat Jesus die Gesundheit, die Kraft, das Glück eines Menschen […] wie eine faule Frucht angesehen […] Ich will also darauf hinaus, dass […] man den Menschen in seiner Weltlichkeit nicht ‚madig macht‘, sondern ihn an seiner stärksten Stelle mit Gott konfrontiert“ (ebd., 182.185 f.).

Vielleicht muss ja auch gar nicht jeder Mensch den christlichen Weg der Nachfolge gehen, um sein Heil zu finden. Vielleicht hält Gott ja wirklich noch ganz andere Wege bereit: „Wohl habe ich Israel aus Ägypten ge­führt, aber ebenso auch die Philister aus Kaftor und die Aramäer aus Kir“ (Am 9,7). Das Zweite Vatikanum jedenfalls war davon überzeugt, dass jeder Mensch das „ewige Heil erlangen kann, der das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrli­chem Herzen sucht und seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluss der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet“ (LG 16). Die sich aus diesen konziliaren Lockerungsübungen in Sachen Heilswillen Gottes ergebende Gelassenheit gilt auch für kirchlich gebun­dene Christen. Man kann auch als solcher nämlich eine bestimmte Pha­se seines Lebens durchaus einmal im Impliziten leben und sich von der Stellvertretung der anderen Christen getragen wissen – ohne dabei gleich aus der Gnade Gottes herauszufallen. Denn auch diese sind zu­weilen ‚Alltagssäkulare‘. Auch ihr Alltag hat seine eigene Schwerkraft und bedarf einer regelmäßigen religiösen Unterbrechung. Es gilt daher, ihn nicht nur indirekt zu heiligen, sondern ihn – zumindest hin und wieder – auch ausdrücklich zu sakralisieren (vgl. Bauer 2008). Im all­täglichen Kontinuum des Impliziten brauchen wir immer wieder ent­sprechende Unterbrechungen durch das Explizite: Nikodemusgesprä­che, Feiertage, verdichtete Hochphasen des Engagements. Ist das prinzi­piell gegeben, so genügt – zumindest aus der Perspektive Gottes (vgl. Fuchs 2012) – generell auch das Implizite. Nicht anders verhält es sich auch im Evangelium. Darin kommt es zu heilvollen Kontakten von Menschen mit Jesus, die nicht immer in einen expliziten Ruf in die Nachfolge hineinführen, sondern auch mit der Entlassung in das Aben­teuer des säkularen Alltags münden: „Geh hin und sündige von nun an nicht mehr!“ (Joh 8,11).

5. Konzil im ‚Vorhof der Völker‘

Es war ein besonderes Anliegen von Papst Benedikt XVI., zusammen mit dem Päpstlichen Kulturrat nach dem Vorbild des Jerusalemer Tem­pels einen neuen cortile dei gentili (vgl. auch Bolha/Wecker 2002) zu eröffnen: einen „Freiraum […] für die Völker, die hier […] beten wollen, auch wenn sie dem Geheimnis nicht zugehören konnten, dem das Inne­re des Tempels diente. […] Ich denke, so eine Art ‚Vorhof der Heiden‘ müsse die Kirche auch heute auftun […] Zum Dialog der Religionen muß heute vor allem auch das Gespräch mit denen hinzutreten, denen die Religionen fremd sind“ (Benedikt XVI. 2009). Wie auch seine eige­nen Dialoge mit Intellektuellen wie Jürgen Habermas oder Marcello Pera zeigen, steckt hinter dieser Initiative ein echtes pastorales Anliegen – eine päpstliche Option für religionsskeptische Agnostiker, die wie Julia Kristeva dann auch zum Friedenstreffen der Weltreligionen 2011 in Assisi eingeladen wurden: „Neben den beiden Realitäten von Religion und Antireligion gibt es in der wachsenden Welt des Agnostizismus noch eine andere Grundorientierung: Menschen, […] die auf der Suche sind nach Gott. […] Sie stellen Fragen an die eine und an die andere Seite. Sie nehmen den kämpferischen Atheisten ihre falsche Gewißheit, mit der sie vorgeben zu wissen, daß kein Gott ist […] Sie rufen aber auch die Menschen in den Religionen an, Gott nicht als ihr Besitztum anzu­se­hen […] Daß sie Gott nicht finden können, liegt auch an den Gläubigen“ (Benedikt XVI. 2011). Der emeritierte Papst bezieht sich hier indirekt eine höchst bedeutsame Nummer der Pastoralkonstitution Gaudium et spes, in welcher die Säkularität der modernen Welt als ein Zeichen der Zeit identifiziert wird, zu dem auch „sehr verschiedene Phänomene“ (GS 19) des Atheismus gehören. „Der Atheismus entsteht aus verschie­denen Ursachen, zu denen auch die kritische Reaktion auf die Religion zählt […] Deswegen können an der Entstehung des Atheismus auch die Gläubigen einen nicht geringen Anteil haben, insofern […] sie das wahre Antlitz Gottes und der Religion eher verhüllen als offenbaren“ (GS 19).

Noch weniger als zur Zeit des Konzils können daher heute „viele unserer Zeitgenossen“ (GS 19) an Gott glauben – obwohl er doch christlicher Überzeugung zufolge „Ursprung und Ziel aller“ (GS 92) ist und obwohl es doch die zentrale pastorale „Aufgabe der Kirche“ (GS 19) wäre, ihn als das innerste und tiefste Geheimnis der Welt „präsent und sozusagen sichtbar zu machen“ (GS 19). Entsprechend schwer wiegt das „Gewicht der Fragen, die der Atheismus aufgibt“ (GS 21). An ihnen entscheidet sich die Zukunft der Kirche in einer spätmodernen Welt, die sich selbst in ihren postsäkularen Zügen in multipler Weise säkularisiert. Wer sich für diese Herausforderungen wirklich interessiert, dem kann es ergehen wie einem Mitarbeiter im Bamberger Seelsorgeamt mit seinem Kleinen Konzilskompendium: „Lange lag das kleine dicke grüne Buch im Bü­cher­schrank […] Hervorgekramt habe ich es wieder, als ich […] nach einer Textstelle aus dem Konzil suchen sollte, die mich heute anspricht. Dabei bin ich […] auf drei Artikel zum Atheismus gestoßen, die mich elektrisiert haben: ‚Das trifft genau auf unsere Zeit heute!‘ war mein Gedanke. […] Es sind offene Gesprächs-Räume […] nötig, wenn man den Fragen nachgehen will, die der Atheismus heute stellt […] Zeitgemäße, überzeugende Vorbilder für diesen Weg, die selbst eine atheistische Lebensphase hatten, gäbe es in der Kirche: […] Simone Weil, Madeleine Delbrêl, […] bis hin zu heutigen Theologen wie Tomáš Halík“ (Saffer 2012, 48 f.).

6. Atheismus in der Spur Gottes

Betrachtet man die dominanten Zeitsignaturen unserer global vernetz­ten Gegenwart, so lassen sich im Anschluss an Walbert Bühlmann (Bühlmann 1985, 127 f.) entsprechende kontinentale Herausforde­run­gen einer politischen Theologie der Befreiung („Mysterium liberatio­nis“) in Lateinamerika, einer postkolonialen Theologie der Inkulturation („Mysterium incarnationis“) in Afrika, einer interreligiösen Theologie des Dialogs („Mysterium revelationis“) in Asien und einer heilsexplora­tiven Theologie der Säkularisierung („Mysterium salutis“) in Europa identifizieren. Letztere fände neue Gesprächspartner in suchenden Menschen wie Klaus M. Brandauer, der sich als einen Atheisten „von Gottes Gnaden“ (Heinrich 2013, 14) bezeichnet. Im Gespräch mit ihnen lässt sich nach einem „Atheismus in der Spur Gottes“ (Valentin 1997) fragen: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott“ (Bonhoeffer 1994, 191). Eine solche gottgewollt ‚atheistische‘ Existenz braucht, wie Ottmar Fuchs von der Äußerung eines Studenten berichtet, gar keinen explizi­ten Glauben: „Ich habe meinen Glauben verloren. Nicht wegen des Theologiestudiums […], sondern einfach so. […] Und ich fühle mich nicht unglücklich. Ich kann gut auch ohne diesen Glauben leben […] Gibt es den Gott, über den ich im Theologiestudium nachgedacht habe, dann […] nimmt er es mir auf keinen Fall übel“ (Fuchs 2012, 17). Eine Option für das Gespräch mit ‚neuen Atheisten‘ zielt daher nicht auf die leichten intellektuellen Siege über Dawkins und Konsorten – sondern vielmehr auf jene „theologische Wahrheit des Atheismus“ (Hoff 2009, 139), wie sie Gaudium et spes erschließt und wie sie uns aktuell in den „atheistischen Spiritualitäten“ (Comte-Sponville 2009) bzw. „säkularen Frömmigkeiten“ (Dienberg/Eggensperger/Engel 2013) der Gegenwart begegnet. Deswegen muss man nicht gleich auch selbst „atheistisch glauben“ (Sölle 1968) nach dem Motto: „Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein, gewiss aber auch: nur ein Christ kann ein guter Atheist sein“ (Bloch 1968, 24).

Im Sinne einer „theologischen Verschärfung atheistischer Religionskriti­ken“ (Hoff 2009, 147) bedenkenswert ist jedoch folgende Äußerung des Intendanten des Hamburger Thalia-Theaters zum Todesschrei Jesu am Kreuz („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“): „Dieser Schrei […] stellt mitten in der Gründungsphase einer neuen Religion in aller […] Radikalität die Kernfrage, ohne eine Antwort zu haben. Sie im­plantiert schonungslos den Atheismus und begründet paradoxerweise aus ihm die neue Religion“ (Lux 2013, 4). Es lohnt sich auch in diesem Sinne, die alten Gott-ist-tot-Theologien der 1960er Jahre heute wieder zu lesen (vgl. Nürnberger 2007, 7–9.172.195 f.) und sich in einer neuen existenziellen wie intellektuellen Aufrichtigkeit als honest to God (vgl. Robinson 1963) zu erweisen. Dabei ist schon viel gewonnen, wenn man sich mit den Nichtglaubenden bzw. Nichtglaubenkönnenden in diesen Fragen solidarisch weiß: „Mit den Atheisten stimme ich in vielem über­ein, in fast allem – außer in ihrem Glauben, dass es Gott nicht gibt“ (Halík 2010, 9). M.-Dominique Chenu, einer jener Konzilstheologen, die stets das Gespräch mit den Atheisten ihrer Zeit gesucht haben, bekann­te einem Marxisten gegenüber, der ihm zuvor von den Glaubenserfah­rungen seiner Kindheit berichtet hatte: „Wenn das ihr Gott ist, dann weisen sie ihn zu Recht zurück – und ich bin mit ihnen Atheist“ (Chenu 1975, 167). Ein solches christliches Glaubenszeugnis bleibt nicht ohne Konsequenzen: „Mein Mann glaubt an den Glauben von Père Chenu“ (Depierre 1990, 43). Diese Aussage der Ehefrau eines atheistischen Ar­beiters liegt nicht nur in der Reichweite von Gianni Vattimos credere di credere, in ihr begegnet auch der Glaube an den Glauben dem Zweifel am Zweifel.

7. Resümee: Apologetik der Sehnsucht

Wie Dietrich Bonhoeffer, so fühlt auch der Autor dieses Beitrags sich man­chen Säkularen näher als vielen Religiösen: „Während ich mich den Religiösen gegenüber oft scheue, den Namen Gottes zu nennen, […] kann ich den Religionslosen gegenüber […] ganz ruhig und wie selbst­verständlich Gott nennen“ (Bonhoeffer 1994, 141). Und wie Tomáš Halík würde auch er Gott lieber auf dem Boden säkularer menschlicher Erfah­rungen suchen als auf dem „Markt der Religionen“ (Halík 2010, 156). Wer darüber mit religionsskeptischen Zeitgenossen ins Gespräch kommt, gewinnt neue Gesprächspartner. Denn in jeden Menschen ist ein desiderium naturale (vgl. Engelhardt 2005, 132–166) eingesenkt, eine meist anonyme Sehnsucht nach dem ewigen Glück. Auf dem von Maurice Blondel gespurten „Weg der Immanenzapologetik“ (Klinger 1990, 83) kann der pastorale Dialog von Kirche und säkularer Welt an den Paradoxien menschlicher Existenz ansetzen: „Die Kirche weiß […], dass Gott […] allein die Antwort auf das tiefste Sehnen des mensch­li­chen Herzens ist, das an den Gaben der Erde nie voll sich sättigen kann. […] Immer wird der Mensch wenigstens ahnungsweise das Verlangen in sich tragen, zu wissen, was die Bedeutung seines Lebens, seines Schaf­fens und seines Todes ist“ (GS 41). Für einen entsprechenden Dialog muss man sprachfähig sein. Das führt die Pastoral an die Grenzen des theologisch Sagbaren. Denn dafür braucht es eine spirituelle, ja mysti­sche Theologie, die überzeugend von jenem unendlichen Geheimnis Gottes zu sprechen weiß, von dem man weder reden noch schweigen kann. Man muss von entsprechenden Erfahrungen erzählen können. Denn der Christ der Zukunft wird ja in der Tat ein Mystiker sein, der sich über das desiderium naturale mit allen Menschen überhaupt verbunden fühlt. Und der Theologe einer, der auch einmal mit Dosenbier über Berliner Zäune klettert – und im rechten Moment zu schweigen weiß.