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Leibfreundliche Askese und Sinnsuche in Kochbüchern

Wie heutzutage die Religion in Ernährungsfragen mit auf der Zunge liegt - nicht ganz koschere Gedanken

Aktuell wird das Thema „Essen“ immer stärker (quasi-)religiös aufgeladen. Reaktionen darauf schwanken zwischen der Hochschätzung eines ethisch verantwortbaren Umgangs mit dem eigenen Körper und der ihm zugeführten Nahrung und der Ablehnung von Extremformen. Das Christentum trägt zu dieser Diskussion aber offensichtlich nur wenig bei.

„Ich wollte gern wissen, wie Ihr zu dem Thema steht, dass es in der letzten Zeit immer mehr neue Ernährungs-Life­styles gibt, die von den jeweiligen Anhängern beinah reli­giös betrieben werden.“ (Forum Kleiderkreisel, Ernährung)

Diese Frage steht im Raum; im Chatraum „Kleiderkreisel“ und dazu jede Menge Antworten. Z.B. schreibt „saperlotte“:

„Meine Freunde sind immer tierisch militant wenn ich Kaf­fee mit Süß­stoff oder (Light) Cola und nicht bloß ungezuckerten Ingwertee trinke (...) (Wiiiiieeee? Süß­stoff?? Davon kriegst Du sofort Instant-Krebs!!) Ich bin im realen Leben echt ein verdammt friedliebender Mensch. Aber wenn mich wer auf mein Essverhalten anspricht und sich selber als der Messias der Nährwerte aufspielt, könnte ich ihm ins Gesicht schlagen. Mit einem Schreibtisch aus Beton.“ (Ebd.)

„Messias der Nährwerte“, „Ernährungs-Lifestyles religiös betrieben“: Es scheint, dass sich da etwas tut in Sachen Ernährung und Religion. Wäh­rend die Sinnstiftungspotenziale der etablierten Religionen immer weni­ger gefragt zu sein scheinen, suchen mittlerweile viele Sinn und tragende Rituale in ihrer Ernährung.

Seit Ludwig Feuerbach gilt gemeinhin „Der Mensch ist, was er isst“ – und zahlreiche Wege der Ernährung haben Selbstfindungs-, wenn nicht sogar Sinnstiftungspotenzial. Die Postmoderne, in der das unmittelbare Verhältnis zur Nahrung abhanden ist (wer baut noch selbst seine Kartof­fel an?), bietet genug Leerstellen, um Essen religiös aufzuladen.

Wie aber genau durchziehen religiöse Motive das weite Feld der Nah­rungs­aufnahme? Hierzu möchte ich einige Schlaglichter werfen und diese „unterfüttern“, zuerst mit ein paar eigenen Beobachtungen in diesem Feld und dann mit Erkenntnissen aus der Religionswissenschaft.

Zuvor noch sollte ich mich selber outen als „Sünder“. Ich wiege über 100 Kilogramm und damit kulminiert mein ernährungstechnisches Sünden­re­gister in einen BMI, der jenseits von Gut und Böse liegt. Bei Ernäh­rungs­fragen von der religiösen Kategorie der „Sünde“ zu sprechen, ist heute vielsagende Normalität. Was dann genau die jeweilige „Sünde“ betrifft, das offenbart zumeist, in welcher Ernährungskategorie, pardon -konfession wir uns befinden: Sind Kohlenhydrate des Teufels, oder doch eher Fleisch? All diesen Sündenregistern gleich ist, dass die para­die­sischen Zustände vorbei scheinen, in denen Nahrungsaufnahme einfach so geschah, unschuldig nach Lust und Hunger. Essen unterliegt seitdem der Erkenntnis von Gut und Böse. Können die einzelnen Ernäh­rungssünden, je nach „Glaubenshaltung“ in Sachen Essen, auch unter­­schiedlich aussehen, steht doch eins fest: Der Übergewichtige ist schnell die Ausgeburt aller Ernährungs-Todsünden, für die sogar das Christen­tum noch einen Begriff bereithält: „Völlerei“.

Vorbei sind die Zeiten, als Gottesmänner eines Schlags von Thomas von Aquin auch dann noch als redliche Vorbilder dienen konnten, wenn ihr Bauch hinter kein Lehrpult mehr passte. Heute gilt: Wer von Euch ohne Ernährungssünde ist, wiege kein Gramm zu viel! Insofern bin ich nicht ganz unbeleckt, was Ernährungsfragen angeht und daher sind meine Gedanken auch nicht immer „koscher“.

Nun aber zu den Beobachtungen, die über meinen Bauchumfang hin­ausgehen. Folgende Stichworte leiten mich dabei: Utopiebedürftigkeit, Apokalyptik, Erlösung und Sinnstiftung. Diese Begriffe entstammen der Welt des Religiösen, aber sie scheinen auf an vielen Stellen und Phäno­me­nen unseres heutigen Verhältnisses zum Essen.

Die notwendige Utopie vom Wiesenhof

Deutschlands größter Eier-Lieferant heißt „Wiesenhof“. Und er ist zu­gleich der Umstrittenste. Über die Eierproduktion von Wiesenhof kann man auf einschlägigen Seiten mehr erfahren. Das Kaufverhalten der Meisten aber stört das nicht. Die lassen sich vor allem leiten von jenem Logo, das auf jeder Packung prangt: ein heimeliges Bauerngehöft. Und dann heißt die Marke ja auch noch wie ein Anwesen, das in grüner Land-Idylle liegt, eben „Wiesenhof“.

Wir wollen Teil einer Utopie sein, wenn wir uns ernähren. Wollen das Bild einer heilen und einnehmenden Idylle förmlich mitessen, wenn wir im Supermarkt durch Gemüse-Settings flanieren, die an Wochenmärkte erinnern und dadurch Bodenständigkeit ausstrahlen. Von den Produk­tionsbedingungen dahinter wollen wir gar nicht zu viel erfahren. Wer sonst könnte nachvollziehen, dass ein Apfel aus Chile genauso viel kostet wie ein Apfel aus dem Alten Land? Das überfordert die Entschei­dungskompetenz der meisten Konsumenten.

Eine große Kölner Supermarktkette („Jeden Tag ein bisschen besser“) wirbt nun mit Gemüse als „regional“. Aber selbst hier reproduziert die Supermarktwerbung nur unsere Utopien, denn natürlich werden diese Produkte, nur weil sie regional sind, nicht einzeln von Bauernhand gepflückt, wie wir das aus Bio-Reportagen kennen. Sonst könnte die Region nicht ganze Supermärkte mit Tomaten beliefern.

Das vielleicht himmelschreiendste Signum dieser Utopiebedürfigkeit beim Essen trägt den Namen „Bärchenwurst“. Die gibt es tatsächlich. Da lächelt einen die Schinkenwurst als fleischgewordenes Knuddeltier an: als Teddybär. Dass in der Wurst kein Teddy ist, ist selbstredend. Warum aber haben sich die Macher für diese Perversion des Kindchen­schemas entschieden? Weil es gekauft wird. Weil Menschen heute auch beim Essen Teil einer großen Erzählung sein wollen. Und da gibt der märchenhafte Schweinshack-Teddybär mehr her, als eine schnöde Wurst­form, die in ihrer Form profaner darstellt, was sie ist: gehäckseltes Fleisch mit Würzmischung.

Wie sehr diese Utopiebedürftigkeit in Sachen Essen und Lebensstil die breiten Massen bewegt, zeigt der sagenhafte Erfolg der „Landlust“-Ma­gazine. Hier sucht eine urbanisierte und technisierte Gesellschaft nach Idylle, nach Land, nach einem übersichtlichen Lebensentwurf. Und wenn „Landlust“ seine Leser zum Gipsengel-Basteln aufruft, dann hat das einen Mobilisierungseffekt wie einst der Aufruf zum Aufbruch ins Heilige Land – und so kam es, dass im Jahr 2011 in deutschen Apothe­ken die Gipsbinden rar wurden, weil alle einen Engel haben wollten, selbstgebastelt, mit Hilfe der Anleitung aus der „Landlust“ (vgl. West­fälische Nachrichten, Engel).

Dass ausgerechnet das Engel-Motiv die Massen bewegte, ist das eine. Das andere ist aber der implizite nostalgische Zug. Als könnten wir zurückbasteln, was wir einst verloren haben: den Bezug zu einer Wirk­lichkeit, in der die Generationen vor uns einst selbstverständlich lebten. Und im Grunde wollen wir da auch nicht mehr drin leben. Aber es geht um die Rituale, die in der Postmoderne selektiv und vom Kontext ent­grenzt reproduziert werden. Der Religionswissenschaftler Michael Stausberg nennt dies „reflexive Ritualisation“ (Stausberg 2004). Genau­so ist die Utopiebedürftigkeit in Essensangelegenheiten selektiv.

Im Grunde schwant auch den beseelten Wiesenhof-Verbrauchern und Landlust-Abonnenten heute, dass ihr Essen nicht allein das ist, was die Marketingabteilung der Lebensmittelunternehmen glauben machen möchte. Aber was ist die Alternative?

Die Offenbarung der Orthorektiker

Immer mehr Menschen entscheiden sich dazu, als mündiger Konsu­ment hinter die Fassaden der Nahrungsmittelproduktion zu schauen. Und zahlreiche erfolgreiche TV-Formate wie „Marktcheck“ – „Service­­zeit“ – „Vorkoster“ etc. helfen dabei. Allein der „Spiegel“ widmete dieses Jahr schon vier Titelgeschichten dem Thema Essen: „Dick durch Stress“ (7/2013), „Die Suchtmacher“ (10/2013), „Natürlich künstlich“ (31/2013) und „Das Schweinesystem“ (43/2013). In den Jahren zuvor war es im Durchschnitt eine Titelgeschichte – da tut sich was.

Sei es der Fleischskandal oder Berichte über die Gefahren von versteck­ten Zuckern: Hier geht es um „offenbartes Wissen“. Dass die Wirklich­keit nicht so ist, wie sie scheint und dass das dicke Ende zum Schluss kommt, gehört zur Essenz jeder apokalyptischen Bewegung. Und Apo­ka­lyptiker tummeln sich derzeit viele in der Ernährungswelt. Ob das dicke Ende nun den eigenen körperlichen Verfall (Stichwort BMI-Sün­der) oder die große ökologische Katastrophe bedeutet, das hängt wieder von der jeweiligen Orientierung ab.

Aber mit fast allen Bewegungen des „guten Essens“ geht einher, dass sie sich speisen aus der Sicht in einen Abgrund: seien es die Produktions­um­stände wie Lohnkostendumping, die ökologischen Folgen einer Turbo-Landwirtschaft, sei es die Synthetisierung von Lebensmitteln oder einfach die ernährungsphysiologische Katastrophe, die sich spätes­tens am Kaloriengehalt fest macht: Die dagegen richtige, faire, naturbe­zo­gene, reine und gesunde Ernährung kann zum umfassenden Lebens­inhalt werden.

Und schneller kann man nicht zum Träger von Offenbarungswissen werden als durch die Lektüre der einschlägigen Essensratgeber. Die Frage ist dann, ob man daraus eine radikale Lebensentscheidung ab­leitet; eine Lebenswende, wie einst apokalyptische Gruppierungen in den Religionen sie trafen. Viele machen dies in Essenssachen, und der willentliche Verzicht auf bestimmte Lebensmittel, allen voran Fleisch, gehört in vielen Kreisen zum guten Ton. Wenn es dann aber radikal bis fanatisch wird, dann gibt es dafür sogar einen passenden Begriff. Den hat im Jahr 1997 erstmals der amerikanische Arzt Steven Bratman be­nutzt (vgl. Bratman 2001). Er führte den Begriff der „Orthorexie“ ein, einer krankhaften Form der Ernährung.

Der Düsseldorfer Psychologe Reinhard Pietrowsky geht davon aus, dass allein in Deutschland rund 800.000 Menschen mit diesem Essverhalten leben, also mit einer „verhaltenspsychologischen Ernährungsstörung mit zwanghaften Anteilen“ (SWR 2 Impuls, Orthorexie). Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl Stuttgarts.

Zu der extremen Fixierung auf gesundes Essen paaren sich soziale Fol­gen. Orthorektiker meiden die gemeinsame Mahlzeit mit Freunden, die nicht gesund essen wie sie, die in ihrem Sinne nicht „rein“ sind – es kommt oft zum sozialen Rückzug. Reinheit ist ein Begriff aus der Welt des Kultisch-Religiösen, und daher verwundert es nicht, dass Orthorek­tiker mit religiösen Fundamentalisten verglichen werden. Die oben ge­nannte Forendiskussion zeugt davon. Wenn man so will, ist Orthorexie (die „rechte Ernährung“) die Orthodoxie („Rechtgläubigkeit“) der post­modernen Genussgesellschaft.

Erlösung durch Essen

Das Verhalten der Orthorektiker zeigt eine Art von Erlösungsbedürf­tigkeit in ihrem Essverhalten. Der durch Junkfood geformte Leib und die Welt mit ihren vordergründigen Nahrungsmittelproduktver­spre­chen wird als feindlich, als unrein angesehen. Erlösung kommt dabei nicht von außen, sondern durch die totale Umstellung des Essverhal­tens, durch eine Form der Selbstdisziplinierung, die konsequenter züchtigt als jeder Bußgürtel. Und daher haben wir es heute mit mehr „Essenssünden“ zu tun als jede Generation vor uns.

Zugleich ist dieses Phänomen ein Ausdruck höchsten Wohlstands. In der Nachkriegs-Steckrüben-Generation war die Diskussion müßig, ob ein fettes Fleischstück in der Suppe landen sollte oder nicht – es ging ums Überleben. Dass es darum aber auch allen Offenbarungswissens-Ernäh­rern geht – nur auf einem anderen existenziellen Niveau – das steht au­ßer Frage. Und dabei hat das Erlösungsmotiv nicht nur eine Dimension von Selbsterlösung, sondern auch von Ganzheitlichkeit. Seien es vegeta­rische, vegane oder frugale Ernährungs- und Lebensentwürfe: Oft steht dahinter die Sehnsucht, in die Schöpfung nicht allzu sehr einzugreifen. In eine Schöpfung, was auch immer dann darunter verstanden wird, in der alles mit allem zusammenhängt. Und auch hiermit befindet sich das Essverhalten wieder im Vorhof der Religion. Denn dieses Bewusstsein der Interdependenz führt besonders dann zu einer radikalen Lebens- und Ernährungsentscheidung, wenn von dem Empfinden der eigenen Involviertheit irgendetwas transzendiert auf eine höhere Ebene. Wo es dann nicht mehr egal ist, was ich alles gegessen habe, sondern wo ich mich einmal dafür verantworten muss – wo auch immer, wird der postmoderne Mensch sagen.

Sinnstiftung im Kochbuch

Konsequent hat diese religiösen Züge die Religionswissenschaftlerin Anne Koch analysiert, und zwar anhand von ayurvedischen Ernährungs- und Kochbüchern (vgl. Koch 2005). Die Belege, die sie darin findet, sind frappierend. Die Wortfelder, in denen sich diese Kochbücher bewegen, sind eindeutig im religiösen Feld verankert.

Einen Grund für den Erfolg dieser Literatur sieht Koch in einem Di­lem­ma der Postmoderne: Dank der hochkomplexen Produktionsbedingun­gen von Essen (Stichwort Apfel aus Chile) gehe das Gefühl für den ei­gent­lichen Wert von Nahrung verloren. Aber es gebe ein Bedürfnis nach Wertorientierung. „In dieser Zeit ist es hochkomplex, wenn nicht un­durchschaubar und unentscheidbar, welche Nahrung aus welchen Ge­schäften mich zum anständigen Käufer macht. Wie viel einfacher haben es da Mitglieder mancher religiöser Gruppierungen. Für sie ist genau geregelt, welche Ernährung die Gebotene ist. Mit diesen Ernährungs­ratschlägen wird Angehörigen einer religiösen Gruppe Orientierung in kognitiver Hinsicht und auch in emotionaler gegeben. Es kann ein be­frie­digendes Gefühl sein, sich ‚richtig‘ zu ernähren, besonders wenn es gesund und spiritualitätsvertiefend ist.“ (Ebd., 245)

Koch sieht in vier zeitgenössischen Debatten diese Tendenzen einer Popularisierung eines quasireligiösen Essverhaltens angelegt, die sich alle irgendwie mit dem indischen Ayurveda vermengen:

a)    in der Überfluss/Konsumdebatte
b)    in der Gerechtigkeit/Fair-Trade-Debatte
c)    in der Wellness-Bewegung und schließlich
d)    in der Heilnahrungsdebatte. (Ebd., 248)

Und bei der Durchsicht zahlreicher ayurvedischer Kochbuch-Publikatio­nen kommt der Religionswissenschaftlerin die Frage auf: „[G]eht es um die Weitergabe von Kochrezepten oder eher um Trost? Geht es um Le­bensrat oder das Loswerden eigener Lebensweisheiten, geht es um Information oder Orientierungsvermittlung oder Lebensverjüngung?“ (Ebd., 249)

Begriffe wie „Harmonie“ oder „Ganzheitlichkeit“, aber auch dezidiert religiöse Weisheiten finden sich in den Kochbüchern, die Koch erforscht hat. Das Ganze gibt ein geschlossenes wie schlüssiges System, in dem nicht nur Essen bereitet wird, sondern auch Sinn.

Koch kommt zu Schlüssen, die auch Schwächen des Christentums aufzeigen:

„Die tiefste Infragestellung unserer kulturgewohnten Ernährung wird durch die Beobachtung angestoßen, dass ‚leben‘ und ‚essen‘ im seman­ti­schen Feld der Ayurveda-Kochbücher parallelisiert sind. Dadurch kön­nen wir reflexiv werden auf unsere eigene Kulturgeschichte und entde­cken, dass die einflussreichste Religion des Christentums mit ihrer kon­fessionellen Vielfalt keine Diätetik hervorgebracht hat. Das Christentum kennt lediglich eine Fastenzeit und den freitäglichen Fleischverzicht. Die Religion ist zwar kultisch um ein Memorialmahl zentriert, und Gleichnisse der heiligen Schriften greifen zu Nahrungsmehrungswun­dern. Doch ist der Fokus nicht die Ernährung, sondern an die Überliefe­rung angelagerte Symbolgehalte. Ayurveda kann also wichtige Lebens­bereiche weltanschaulich oder spirituell abdecken, die im Christentum vakant bleiben.“ (Ebd., 261)

Und dann stellt Koch eine einfache Kosten-Nutzenrechnung auf: „Ver­gleicht man die Preise von Ayurveda-Anwendungen mit den monatli­chen Steuerabgaben an eine christliche Kirche, so könnten sich viele auch einen monatlichen Vortrag plus ein bis zwei Mal Panchakarma leisten anstatt der Inanspruchnahme der aktiven oder ruhenden christlichen Mitgliedschaft.“ (Ebd., 262)

Diese Rechnung mag zuerst einmal abwegig erscheinen, aber aus der Sicht des postmodernen Sinnsuchenden, der sich zunächst einmal bei den Anbietern umschaut, erscheint sie plausibel. Und so offenbart Koch ein weiteres Problem des Christentums für die postmoderne Sinnsu­cher­gruppe: „Viele Leistungen der christlichen Großkirchen, allen voran der Gottesdienst, sind nicht individualisiert auf den einzelnen hin, son­dern kollektive Produkte“ (ebd.) – ganz anders als die persönliche An­wen­dung im Ayurveda. Und während die reinigenden und läuternden Funktionen in beiden Religionen auffindbar seien, käme beim Ayurveda noch eine ganz wichtige Dimension hinzu, die dem Christentum fehle: die sinnliche Ästhetik von Wärme und nackter Haut. Anne Koch wirbt schließlich dafür, diese Dimensionen im Feld des Religionsbegriffs ernst zu nehmen und nicht zu vernachlässigen.

Ich denke, dass die Münchner Religionswissenschaftlerin einige Pro­blem­anzeigen macht, die für eine Auseinandersetzung des Christen­tums mit den oben genannten Phänomenen bedeutend sind. Die „nicht ganz koschere“ Art, wie ich die oben genannten Gedanken skizziert habe, zeigt, dass ich zu Vielem eine durchaus kritische Distanz habe – aber dennoch offenbaren sich darin Dinge, die nachdenklich machen sollten:

In Sachen Essen und Ernährungsverhalten sind viele Menschen in der sogenannten „Postmoderne“ bereit, große persönliche Opfer zu brin­gen. Aus einer Überzeugung bzw. Einsicht geleitet, stellen sie Teile ihrer Lebensweise komplett um. Dabei von Konversion zu sprechen, ist nicht abwegig. Sie betreiben eine Form der Askese, aber keine leibfeindliche, sondern eine leibfreundliche. Sie tun das sicherlich immer auch aus Sorge um ihre Gesundheit, aber oft geht es um mehr. Der Sensus für einen Schöpfungsbegriff in Verantwortung ist dort jedenfalls mehr präsent als bei manch einem katholischen Schweinezüchter aus dem Oldenburger Land. Dass so eine „Konversion“ auch zu extremen Lebens­vollzügen führen kann, das wurde anhand der „Orthorektiker“ gezeigt – aber es bleibt, dass diese Menschen, auch wenn sie vielleicht gar nicht im klassischen Sinne religiös motiviert sind, eine Lebenswahl treffen, die über das rein Materielle, das Leben im „Hier und Jetzt“ hinaus transzendiert.

Warum viele Menschen vom klassisch religiösen Sinn, sprich vom Chris­tentum, nicht mehr motiviert sind, das hat Anne Koch aufgezeigt. Das Christentum, obwohl es sogar eine Mahlgemeinschaft als zentrale Zei­chenhandlung feiert, scheint wenig Strahlkraft zu haben. Zum einen, weil seine sinnstiftenden Angebote und Rituale oft nicht als kompatibel wahrgenommen werden für das hohe Bedürfnis nach Individualität. Zum anderen, weil sich das Christentum in der Gestalt, wie es öffentlich wahrgenommen wird, einer wichtigen Dimension zu versperren scheint: der Sinnlichkeit, der Körperlichkeit. Dass das Christentum zuerst als kognitive bzw. moralische Übung wahrgenommen wird, zeigt, wie viel verschüttet ist von der Tradierung jener Botschaften des Mannes von Nazareth, der im Johannes-Evangelium als erstes Wunder des neuen „Reiches Gottes“ dafür sorgte, dass auf der Hochzeit genug Wein vorhanden war. Der sich die Füße waschen lies von einer Frau mit feinstem Öl – ein Akt der Sinnlichkeit. Und der in seiner Lehre, vom „Sauerteig“ über das „Salz der Erde“ bis zum „Brot des Lebens“, immer wieder predigte, dass Religion und Erfüllung etwas ist, was man nicht nur im Jenseits stattfindet, in einem leiblosen Raum des Glaubens, sondern etwas, an dem man Geschmack finden kann – hier und jetzt.