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Diesseits von Ewigkeit – auf dem Weg zum eigentlichen Ich

Neuere Fernsehformate wie Casting- und Wettbewerbshows spielen eine existenzielle Aufgabe immer wieder durch, die die spätmodernen Lebensum­stände stellen: die stets unabgeschlossen bleibende Aufgabe eines gelingen­den Lebens als Leben in individueller „Eigentlichkeit“. Somit kennt auch die säkulare Spätmoderne in populärkultureller Symbolisierung ihre eigenen Umkehrforderungen, Gerichte, Heiligsprechungen und Gnadengaben.

Verlust eines religiösen utopischen Horizonts

Selbst wenn der Himmel auch in einer durch und durch säkularer Ge­sell­schaft hier und da voller Geigen hängt: die christliche Hoffnung auf einen Himmel hat sich gesellschaftlich nahezu verflüchtigt – ebenso wie die Angst vor der Hölle, dem drohenden Strafgericht oder dem läutern­den Fegfeuer.

Säkularität bedeutet unter anderem den Abschied von Symbolen, sym­bo­lischen Ausdrucksweisen und sinngebenden Verdichtungen und Ima­ginationen aus dem breiten Angebot institutionell-religiöser Kommuni­ka­tionsroutinen und Ausdrucksformen. Dabei können einzelne Begriffe ihre spezifische religiöse Bedeutungswurzel durchaus überleben. Der „Himmel“ hängt zuweilen immer noch voller Geigen und den einen oder anderen Mitmenschen wünscht man sich mehr oder weniger offen zur „Hölle“. Aber kaum jemand verbindet mit diesen Ausdrücken noch einen existenziellen Bezug auf eine jen­sei­­tige Wirklichkeit. Der jensei­tige Himmel und die jenseitige Hölle (samt Strafgericht und Fegfeuer) haben sich selbst bei den meisten Christinnen und Christen längst aus dem Bereich existenzbedeutsamer und sinngebender Kategorien verab­schiedet. Kaum jemand hat noch Angst um sein „Heil“. Und wer rechnet so sehr mit der Hölle, dass er oder sie das hiesige Leben mit einem aus­rei­chenden Sicherheitsabstand zu diesem Risikoabgrund entlang gestal­ten würde? Der Ablass ist schliesslich nicht nur wegen seiner innerwelt­lichen Unglaubwürdigkeit – weil Käuflichkeit – zu einem Relikt im Mu­seum religiöser Ideen geworden – sondern auch weil sich kaum jemand mehr von der Angst vor dem dunklen Jenseits packen lässt. Selbst inner­kirchlich und mitten in den Milieus von Gottesdienstbesuchenden und Pfarrei-Engagierten ist für Himmel und Hölle als Perspektiven einer end­gültigen Schlussbilanz und -perspektive der eigenen (wie gesell­schaftlichen) Existenz kaum noch ein Resonanzboden zu finden. Säkula­rität ist bei weitem nicht nur ein Phänomen außerhalb der Kirche. Sie lässt sich problemlos im ganz offensichtlich schmerzlosen Vergessen ehemals bedeutender Bestandteile einer christlichen Kosmologie auch in den Kirchen selbst beobachten. Nicht zuletzt zieht der massive Be­deu­tungsverlust einer im Jenseits angesiedelten Heils- und Unheils­perspektive weitere Verschiebungen im symbolischen Kosmos der Religion und der Kirchen nach sich. Sakramente verlieren an Relevanz, Normen der Lebensgestaltung werden der individuellen Akzeptanz überlassen, die gehorsame Beachtung von Glaubenswahrheiten kann eine religiöse Institution nicht mehr wie selbstverständlich einfordern, da der Droh- oder Belohnungshorizont von Hölle und Himmel hinfällig – jedenfalls kraftlos – geworden ist. Die Hölle ist zu einer leeren Dro­hung geworden – und der Himmel zu einem leeren Versprechen. Der Himmel der religiösen Tradition taugt nicht mehr als utopischer Hori­zont der Lebensorientierung.

Das Utopische im Diesseits der Religion

Die Thematisierung von Heil und Unheil, die Frage nach dem richtigen oder falschen Leben, nach Sinn oder Unsinn der Existenz, findet ihre Antworten kaum mehr unter Bezugnahme auf klassische christlich-religiöse Symbolik. Es darf aber davon ausgegangen werden, dass sich die hier skizzierten Fragen dennoch stellen. Gelingendes Leben, die Suche nach dem wahren Leben, das Verlangen nach einer ultimativen Bestätigung des eigenen Lebensentwurfs ... beschäftigt Menschen auch jenseits traditioneller religiöse Ausdrucksformen und Weltanschauun­gen. Allerdings spricht manches dafür, dass sich diese Fragen angesichts der Lebensverhältnisse in unserer vielfältig entwickelten Moderne an­ders und für Menschen in traditionell religiösen Symbolwelten unge­wohnt, vielleicht sogar fremd stellen. Solche Fragen mitten in den Kommunikationsmustern der Gegenwartsgesellschaft zu entdecken und zu entschlüsseln könnte aber auch zu einer ungewohnt „religions­produktiven“ Übung werden. Der folgende Versuch, „religiöse“ Themen im säkularen Bereich aufzuspüren, bleibt strikt subjektiv. Er will gewagt werden, aber nicht unwidersprochen bleiben.

Theoretisch liegt dem Versuch die Annahme eines funktionalen Religi­onsverständnisses zugrunde. Hier wird Religion überall dort verortet, wo Fragen mit grösster Reichweite gestellt und bearbeitet (nicht unbe­dingt abschließend beantwortet) werden müssen, also Fragen wie die nach dem Sinn des Lebens, Fragen nach dem, was Leben gut sein lässt, was Erfüllung meint usw. Solche Fragen und Themenfelder dürften sich dann als generell für die Menschen relevant erweisen, wenn sie sich in einem großen Kommunikationsbereich, öffentlich und breitenwirksam, nachweisen lassen. Ich gehe davon aus, dass Elemente und Produkte populärer Kultur geeignet sind, um darin zumindest Echos oder zuge­spitzte Reflexe von in der Gesellschaft virulenten Fragen „religiöser“ Art zu entdecken, „religiös“ im Sinne des Radius, innerhalb dessen eine Frage beantwortet werden kann, der den Bereich des Alltäglichen oder Immanenten übersteigt oder doch mindestens seine Grenzen deutlich werden lässt.

Ein relativ junges Phänomen der populären Kultur sind breit wahrge­nom­mene und in vielen Medien tagtäglich rezipierte Fernsehsendungen im Casting- und Wettbewerbsformat. Diese Formate haben sich in den letzten Jahren vervielfacht und sie sprechen heute unterschiedliche Milieu- und Altersgruppen an. So werden Teile der Gegenwarts­gesell­schaft erreicht – Grund genug, um hier von einem sehr breit rezipierten populärkulturellen Phänomen zu sprechen.

Ein genauer Blick auf die jüngeren Fernsehproduktionen rund um Casting und Wettbewerb zeigt, dass hier längst nicht nur verschiedene Disziplinen kompetitiv zur Schau gestellt werden. Weit über bestimmte Einzelkompetenzen (Gesang, Tanz, Model-Qualitäten, Attraktivität...) hinaus, die nur an der Oberfläche im Zentrum der Fernsehsendungen stehen, geht es vor allem um Personen. Dabei ist die Wahrnehmung dieser Personen alles andere als eine diskrete. Es geht im Gegenteil sehr direkt um die Menschen, die sich als Teilnehmende in den Shows prä­sen­tieren – mit ihrer „Personality“ und in der Konkurrenz von „Persona­lities“. Es geht um das Gelingen oder Scheitern, die Akzeptanz oder den Rauswurf von Menschen mit ihren je eigenen Biografien, Lebensent­wür­fen und Persönlichkeiten. Lebensläufe, Familienstorys, Beziehungs­geschichten, Lebenskrisen, das ganze Auf und Ab des Lebens wird in den gegenwärtigen Fernsehformaten mit in den Blick genommen – und in medialen Echos, in Zeitungen, ergänzenden Fernsehsendungen, online-Medien und anderen Orten ausgewalzt, kommentiert und diskutiert. Thema sind Menschen, weniger, was sie im Einzelnen machen, können oder vorführen. Die Teilnehmenden solcher Shows geraten in den prüfenden Blick einer schonungslosen Öffentlichkeit, deren Auge „alles sieht“ und alles ans Licht bringt.

Während es in den Fernsehproduktionen der 1970er und 1980er Jahre hauptsächlich um vergleichsweise harmlose „Spiel- und Rateshows“ ging (die alle auch ihre Nachfolgeprodukte gefunden haben und so bis heute fortbestehen), so stellen die meisten der neuen Fernsehsen­dun­gen menschliche Existenzen als Ganzes in den Fokus. Es geht eben nicht nur ums Singen, Tanzen, Modeln oder Flirten – sondern um die ganze Person, ihre Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit gegenüber einer Jury, die sich aus grossen Teilen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zusammensetzt. Im Prinzip dürfen alle zu Richtern und Richterinnen werden – und sie sollen es. Nicht zuletzt wollen sie es auch, sonst wären die neuen Fernsehformate kaum so erfolgreich.

Das eigentliche Ich

Ein Tanzwettbewerb im Fernsehen: In mehreren Runden kämpfen die Teilnehmenden tanzenderweise um ihren Erfolg. Eine Teilnehmerin erlebt plötzlich ihren Durchbruch. Ein Juror kommentiert begeistert: „Jetzt sehe ich die eigentliche Katharina!“ Das Publikum applaudiert frenetisch – und glücklich. Es partizipiert am Erfolg und Bestehen der Kandidatin in einem Tanzwettbewerb, der über etliche Folgen im Fern­se­hen zu bester Sendezeit und vor einem riesigen Publikum aufgeführt wird.

Katharina hat es geschafft: Endlich gelingt ihr, der Gelegenheits­tän­ze­rin, ein Auftritt, der den Juror dazu verleitet, anzuerkennen, dass nun die „eigentliche“ Katharina sichtbar geworden sei. Katharina versuche nicht mehr, sich an fremden Vorbildern zu orientieren. Ihr Tanz bringt endlich sie selbst zum Ausdruck, die „eigentliche“ Katharina. Hier liegt der Erfolg von Katharina. Hat sie jetzt gar die Vollendung ihrer individu­ellen Menschwerdung erreicht? Nicht nur der schönste Tanz oder die beste technische Leistung stehen zur Debatte, sondern das Erreichen des „eigentlichen“ Ichs. Ein, wie sich zeigen wird, unhaltbarer, ein zu­­mindest höchst prekärer Zustand. Wie lange mag die „Eigentlichkeit“ der Person erreicht, sichtbar und von anderen anerkannt bleiben? Wann folgt die nächste Überprüfung?

Das Publikum im Fernsehstudio – und wohl auch in den Wohnzimmern – nimmt jedenfalls im Augenblick ehrlich berührt und glückselig Anteil an dieser Situation. Eine Heiligsprechung bei lebendigem Leib? Viel­leicht eine Heiligsprechung mit Befristung – denn die nächste Tanzbe­wäh­rung lässt nicht lange auf sich warten. Der Wettkampf geht weiter. Katharina kann immer noch verlieren. Am Ende der Show wird es nur einen Sieger geben – und das mediale Echo wird mit einiger Wahr­­schein­lichkeit auch diesen Sieg immer wieder mit seiner Vorläufigkeit konfrontieren. Die fernsehgenerierten „Superstar-Heiligsprechungen“ bleiben auch den Siegern nur vorübergehend erhalten.

„Eigentlichkeit“ als spätmoderne Ich-Utopie

Wettkämpfe, Bewährungsproben, Leistungsschauen gehören zu allen Kulturen. Sie werden mal sportlich, mal spielerisch, mal sehr ernst und lebensbedrohlich ausgetragen. Meistens geht es um einen Vergleich und die Festigung von Rangordnungen. Wer ist der Stärkste und der Anfüh­rer einer Gruppe? Manchmal geht es auch nur um das Dazugehören. Mut­proben sichern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Hier muss man sich Anerkennung verdienen. Zur eigenen „Eigentlichkeit“ zu gelangen – das deutet auf eine weitere und neue, eine spätmoderne Bewährungs­probe unserer Gesellschaft hin, die im Prinzip jedes Leben, jeden Le­bens­­entwurf und jeden Lebensweg auf Authentizität und Echtheit hin abklopft und zu bewerten versucht. Dabei ist gerade die Identität mit sich selbst zur schmerzhaft erfahrenen Unmöglichkeit geworden. „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ Diese Beobachtung entspricht wohl eher dem Lebensgefühl vieler Menschen. Das so betitelte Buch von Richard David Precht ist zum Bestseller geworden. „Eigentlichkeit“ scheint ersehnter und unerreichbarer denn je. Die moderne und hochkomplexe Gesellschaft verlangt uns viele Identitäten ab, die wir nebeneinander oder überlappend, aber wohl kaum in Überein­stim­mung und als „Eigentliches“ miteinander verbinden.

Die Sehnsucht nach „Eigentlichkeit“ ist vor diesem Hintergrund zum Scheitern verurteilt. Zugleich wird in ihr eine spezifische und beharr­liche populäre Anthropologie sichtbar, die an einem individuellen Kern für jeden Menschen, einem personalisierten Idealbild gewissermassen, orientiert ist. Die in der säkularen Kultur empirisch erfasste Wirklich­keit eines Menschen steht unter dem Vorbehalt einer sie übersteigen­den „Eigentlichkeit“. Ihr ist das spätmoderne Individuum verpflichtet. Sie ist die neue Vollendung individueller Existenz.

Casting-Shows, Tanzwettkämpfe, Laufstegkonkurrenzen und Gesangs­wettstreite – aber auch öffentlich ausgetragene Bewährungsproben zu Fragen von Sympathie, Akzeptanz und Partnerschaftsfähigkeit sind Phänomene unserer Zeit. Ob Bauern Frauen suchen oder Frauen um einen Bachelor buhlen – die Bewertungen, die fallen, treffen stets die ganze Person. Sie besteht oder sie besteht nicht. Niemand braucht noch einen göttlichen strengen Richter, wenn das Richten zur Alltags­gewohn­heit geworden ist, bei der letztlich jeder Mensch sich selbst zum Richter wird und die nicht erreichte Eigentlichkeit zum Dauerproblem der eige­nen Biografie.

Was in den zahlreichen Shows in unzähligen Varianten immer neu durchgespielt (gespielt?) wird, ist popkultureller Ausdruck, populärer symbolischer Niederschlag einer zeittypischen Grundbefindlichkeit: nämlich der stets unabgeschlossen bleibenden Aufgabe eines gelingen­den Lebens als Leben in individueller „Eigentlichkeit“. Die spätmoder­nen Lebensumstände, die unsere heutige Gesellschaft vorgibt, sind zugleich Basis für die Möglichkeit des „Eigentlichkeitsprojektes“ und Grund für die Schwierigkeiten, dieses Projekt zu erfüllen. Nach der Emanzipation von Traditionsbindungen und dem Überwinden einer ganzen Reihe sozioökonomischer Zwänge und entsprechender Fremd­bestimmungen ist der einzelne Mensch mehr denn je zum Erfinder seines eigenen Lebensweges und Lebensstils geworden. Dem Freiheits­gewinn der Individualisierung steht die problematische Einsicht ge­genüber, dass jede Lebensentscheidung, jede Berufswahl, jede Partner­wahl, jede Stilwahl ... immer auch anders hätte getroffen werden kön­nen. Das gelebte Leben liegt mehr denn je in der Verantwortung der einzelnen Person – und zugleich wird es als kontingenter denn je erfahren. Es könnte eben alles auch immer ganz anders gelaufen sein. Ein anderer Bildungsweg – ein anderes Leben; eine andere Partnerin – ein anderes Leben; eine andere Karriereentscheidung – ein anderes Leben. Das konkret gelebte Leben ist nur eines von vielen, die auch möglich gewesen wären oder aktuell möglich sind. Die Frage nach dem richtigen Leben ist belastet durch die ständig gegebene theoretische Möglichkeit vieler besserer Leben. Jeder Mensch muss hier immer wi­e­der selbst über das eigene Leben richten und die getroffenen Entschei­dun­gen bilanzieren. Die „Eigentlichkeit“ der eigenen Existenz lässt sich dabei nicht zufriedenstellend an „objektivierenden“ Vorgaben messen. Zwar gibt es mehr und mehr Typberater, Stilberater, Coaches, Thera­peu­ten für einige und milieuspezifische Peergroups mit ihren eigenen ästhetischen Orientierungsgewohnheiten und Sinnvorgaben für andere – aber letztlich richtet jeder Mensch über sein eigenes Leben – kein Publikum kann diese subjektive Lebensbilanzierung zur Gänze über­nehmen.

Die neuen Fernsehformate sind Reflexe dieser Lebenslage: Das Projekt des eigenen Lebens, die Bewertung eigener biografischer Entscheidun­gen und die Bilanzierung von Lebensentwürfen oder auch nur entworfe­ner „Personality“ wird zu einem öffentlichen Thema – und als solches zur Identifikationsgelegenheit für jede einzelne Person. Der „Traum“, den die Teilnehmenden der Shows sich zu erfüllen hoffen, ist eben der Traum aller: die erfolgreiche „Eigentlichkeit“ der Person, die im Star­ruhm ihre deutlichste Bestätigung zu finden meint und eben davon zu einem guten Teil auch abhängig ist. Auch das Ich-Projekt braucht die anderen.

Die Zuschauer sind somit doppelt in das Spiel verwickelt. Sie sind selbst „Betroffene“ als Gestalter ihres eigenen Ich-Projekts. Zugleich sind sie auch Richter und Richterinnen über die öffentlich gemachten „Eigent­lichkeitsprojekte“ bzw. „Ich-Projekte“ der Kandidaten einer Show. Die erweiterten Möglichkeiten der Mediennutzung verstärken diesen Ef­fekt. So unterscheiden sich die neuen Fernsehproduktionen nicht nur durch die Thematisierung ganzer menschlicher Existenzen von älteren Showformaten im Fernsehen, sie tun dies auch durch einen starken Einbezug der teilnehmenden Öffentlichkeit, die über soziale Medien und Mitbeteiligung in unterschiedlichen Bewertungsprozessen invol­viert ist. Hier wird nicht nur zugeschaut – hier wird aktiv mitgewirkt. Urteilen und Bewerten sind dabei Handlungen, die nicht nur gegenüber anderen vollzogen, sondern auch gegenüber der eigenen Person ständig geübt werden.

„Eigentlichkeit“ bleibt damit abhängig vom Wohlwollen der Anderen. Die „Ich-Projekte“ der spätmodernen Gesellschaft fallen immer wieder in die Abhängigkeit von der Zustimmung durch die Anderen zurück. „Eigentlichkeit“ ist keineswegs nur eine Leistung aus eigener Kraft. Sie ist auch möglich und abhängig vom Wohlwollen der Anderen. Unter Umständen muss dieses Wohlwollen sogar demütig erbeten werden. Showkandidaten sind manchmal Bettler um die Gunst und die Gnade – manchmal auch um die Barmherzigkeit – der Zuschauer. Sie verspre­chen, in der nächsten Prüfung „alles zu geben“, und bitten ihre Richter um diese weitere oder auch letzte Chance der Bewährung. Des Heil des „eigentlichen“ Ichs ist damit auch ein Geschenk, ein Gunsterweis und gewissermaßen unverfügbar. Sicher sein kann man sich nicht.

Manchmal überrascht das Zuschauergericht auch mit seiner Transfor­ma­tions- und Anerkennungsmacht: es macht aus hässlichen Entlein schimmernde Stars und aus Aschenputteln Königinnen. Das Fernseh­gericht aus Juroren und mitentscheidender Öffentlichkeit macht sichtbar, was bislang verborgen geblieben ist. Träume werden wahr. Diese Geschichten, die von Zeit zu Zeit sogar globale Aufmerksamkeit erfahren, sind wie säkulare Heiligsprechungsprozesse. Sie beflügeln das Träumen von „Eigentlichkeit“, das hinter jedem unscheinbaren Leben noch ein „eigentliches“ und vielleicht ganz anderes verheißt.

Der alte Himmel religiöser Traditionsbildung mag verloren gegangen, seine Ewigkeit abgelaufen sein, aber die utopische Ausrichtung der Menschen und ihrer Lebensprojekte – heute auf ihre „Eigentlichkeit“ – ist samt anhaltender Kontingenz und Unberechenbarkeit ungebrochen. Die säkulare Spätmoderne kennt ihre eigenen Gerichte, ihre Heiligspre­chungen, ihre Gnadengaben, ihre Umkehr- und Opferforderungen und täglichen Übungen – immer im Blick auf das unverfügbare und verheis­sungsvolle Ich-Projekt der „Eigentlichkeit“.