Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
nach der Analyse des Soziologen Charles Taylor befinden wir uns (zumindest in den entwickelten Industriestaaten Westeuropas) in einem säkularen Zeitalter.
Von nicht wenigen in der Kirche wird Säkularität als ein zu bekämpfender Gegner des Glaubens, im Sinne der klassischen Säkularisierungstheorie als ein unumkehrbarer eindimensionaler Prozess des Schwindens von Religion verstanden. Manchmal wird sogar ein dahinter wirkmächtig verborgener Säkularismus als leitende Weltanschauung vermutet, den es – möglicherweise durch Neu-Evangelisierung? – zu bekämpfen und zu überwinden gilt. Viele Religionssoziologen werden nicht müde zu betonen, dass die Säkularisierungsthese in ihrer klassischen Form obsolet geworden ist und nicht mehr zur Analyse der gegenwärtigen Gesellschaftsdynamiken herangezogen werden kann.
Kann Säkularität in der Gegenwart aber nicht auch verstanden werden als eine Grundlage des Dialogs, in dem sich Menschen unterschiedlicher weltanschaulicher Bekenntnisse über Ziele und Werte des Zusammenlebens verständigen können, ohne ihr religiöses Zeugnis außen vor zu lassen? Dies funktioniert unbeschadet der Herkunft moderner Wertvorstellungen und bürgerlicher Freiheitsrechte einer durch Reformation, Aufklärung und Revolutionen geronnenen jüdisch-christlich religiös geprägten Geistesgeschichte, deren Grundlagen und Wertvorstellungen in großen Teilen der Bevölkerung auch heute als Glaube bewusst gelebt werden.
Sicherlich ist Deutschland – insbesondere in seinem östlichen Teil – ein säkular geprägtes Land. Das sollte glaubende Menschen jedoch nicht mutlos stimmen oder zum Schweigen bringen. Es ergeben sich derzeit neue Blicke auf die unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten von Religion, Religiosität und Säkularität, wie sie einerseits in biografisch-zeitlicher Erstreckung wie auch andererseits im konkreten Alltag des Hic-et-nunc von Menschen festzustellen sind. Auch ein religiöser Mensch ist schließlich nicht immer nur religiös, sondern handelt und empfindet immer auch als säkularer Mensch in einer säkularen Umwelt.
Und schließlich: Könnte eine bestimmte Sicht von Säkularität nicht als Chance dienen, für gegenwärtige und zukünftige Gotteserfahrung aus dem „Material“ der „Welt“ zu schöpfen. Dies insbesondere für eine Religion wie das Christentum, das davon ausgeht, dass diese Welt von Gott so gewollt und geschaffen ist. Im Buch der Weisheit wird Gott gepriesen: „Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen … Denn in allem ist dein unvergänglicher Geist.“ (Weish 11,24f) Mehr noch: Der christliche Gott hat mit der Fleischwerdung (Inkarnation) seines göttlichen Wortes diese Welt und jeden Menschen unverlierbar geheiligt, weil im Christus das Bild des unsichtbaren Gottes eingeprägt wurde (vgl. Kol 1,15). Können Säkularität und „radikale Kontingenz“ (Magnus Striet) nicht lernfähig machen für ein erneuertes Verständnis des Transzendenten und seiner innerweltlich antreffbaren Bezüglichkeit: dem Evangelium?
Wir laden Sie ein zu einem Streifzug zu einem erneuerten Verständnis von Säkularität, das dem Glauben und der Pastoral der Kirche neue Impulse geben kann.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr