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Postmoderne Rituale – kirchliche Kasualien

Tagung der KAMP

Was tun die Schu­he, die paar­wei­se im Baum ne­ben der Er­fur­ter Lo­renz­kir­­che hän­gen? Nie­mand weiß, wer sie hin­ge­hängt hat und war­um. Doch fin­den sich auch an­ders­wo Schuh­bäu­me, in de­nen in ei­nem ri­tu­el­len Akt al­te Schu­he de­po­niert wer­den, ver­bun­den mit Wün­schen oder als Aus­druck ei­ner Le­bens­wen­de.

In der Post­mo­der­ne, in ei­ner sich zu­se­hends sä­ku­la­ri­sie­ren­den Ge­sell­schaft hat sich ei­ne neue, re­ge Ri­tual­pra­xis jen­seits der Kir­chen eta­bliert. Ei­ne Her­aus­for­de­rung, aber auch ei­ne Chan­ce für Pas­to­ral, Lit­ur­gie und Theo­lo­gie? Die­se span­nen­de Fra­ge führ­te ein in­ter­es­sier­tes Pu­bli­kum aus ver­schie­de­nen kirch­li­chen Ar­beits­be­rei­chen nach Er­furt: Die Ka­tho­li­sche Ar­beits­stel­le für mis­sio­na­ri­sche Pas­to­ral (KAMP) hat­te für den 20./21. April 2016 zu ei­ner Ta­gung in das Bil­dungs­haus St. Ur­su­la ein­ge­la­den – un­ter dem Ti­tel „Post­mo­der­ne Ri­tua­le als Her­aus­for­de­rung für die kirch­li­che Ri­tual­pra­xis“.

Ein­bli­cke in die kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Ri­tu­al­for­schung gab der Vor­trag von Dr. Ger­not Mei­er, der nicht nur als Stu­di­en­lei­ter in ei­ner Aka­de­mie und Welt­an­schau­ungs­be­auf­trag­ter der ba­di­schen Lan­des­kir­che, son­dern auch als pro­mo­vier­ter Re­li­gi­ons­wis­sen­schaft­ler ei­nen wa­chen Blick für die re­li­giö­se Ge­gen­warts­si­tua­ti­on hat. Im Ge­gen­satz zu tra­di­tio­na­len Ritua­len, die ei­nen stär­ke­ren Ge­mein­schafts­be­zug auf­wei­sen, zei­gen postmo­der­ne Ri­tua­le ei­nen in­di­vi­dua­lis­ti­schen, spie­le­ri­schen Um­gang mit Tradi­tionen. Die­se Ri­tual­dy­na­mik, die es schon im­mer gab, ist in den letz­ten Jah­ren stär­ker in den Blick der For­schung ge­rückt: Auch wenn Ri­tua­le da­von le­ben, dass sie als nur we­nig oder gar nicht ver­än­der­lich wahrgenom­men wer­den, sind Ri­tual­in­ven­tio­nen all­ge­gen­wär­tig – heu­te vor­nehm­lich an­ge­sto­ßen und ver­mit­telt durch Me­di­en (Ki­no­fil­me …). Un­klar sind die Gren­zen von Ri­tua­len – ab wann wird ein Ri­tu­al nicht mehr als sol­ches er­kannt? Po­si­tiv las­sen sich ver­schie­de­ne Di­men­sio­nen von Ri­tua­len ausma­chen: et­wa zeit­li­che und räum­li­che Rah­mung, ei­ne be­stimm­te Form und Funk­tio­na­li­tät, die be­wuss­te Durch­füh­rung und die „Ver­kör­pe­run­g“, d. h. der Ein­be­zug des kör­per­li­chen, gan­zen Men­schen in den Voll­zug des Ritu­als. Ei­ne Zu­kunfts­fra­ge für Ri­tua­le ist die der Au­then­ti­zi­tät: Wer wird als be­voll­mäch­tigt an­ge­se­hen, Ri­tua­le „wirk­sam“ durch­zu­füh­ren? Und gera­de hier tre­ten ne­ben die klas­si­schen Kir­chen zu­se­hends neue Ritualan­bieter!

Die­se theo­re­ti­sche Fun­die­rung er­gänz­te Mar­kus Grün­ling durch sei­ne prak­ti­sche Per­spek­ti­ve: Der ehe­ma­li­ge ka­tho­li­sche Pfar­rer hat sich als frei­er Theo­lo­ge als Ri­tual­de­si­gner selb­stän­dig ge­macht. Da­bei hat er es nicht mit ei­ner fes­ten Ge­mein­de zu tun, son­dern mit punk­tu­el­len Ritual­gemeinschaften und mit Kun­den in sä­ku­la­rem Kon­text. Ent­spre­chend wich­tig sind für ihn der As­pekt der Be­zie­hung, die Kun­den­ori­en­tie­rung und die glei­che Au­gen­hö­he (im Ge­gen­satz zu ei­nem „Von-oben-her­ab“ als „Ex­per­te“). Von sei­nen Er­fah­run­gen her be­ton­te er, wie viel er von den Kun­den ge­lernt ha­be; im­mer wie­der sei­en Din­ge mög­lich ge­we­sen, von de­nen er vor­her nicht ge­glaubt ha­be, dass das gin­ge. Im Mit­tel­punkt von Grün­lings Ar­beit ste­hen Hoch­zei­ten und Be­er­di­gun­gen – und of­fen­bar sind das die Le­bens­sta­tio­nen, bei de­nen auch im sä­ku­la­ren Kon­text am wenigs­ten auf ein Ri­tu­al ver­zich­tet wer­den kann.

Doch was be­deu­tet es für kirch­li­che Lit­ur­gie, heu­te Teil ei­nes Ritual­markts zu sein? Be­ne­dikt Kra­ne­mann, Pro­fes­sor für Lit­ur­gie­wis­sen­schaft an der Er­fur­ter Fa­kul­tät, be­klag­te, dass neue Ri­tu­al­for­men in Kir­che und Theo­lo­gie zu we­nig Be­ach­tung fän­den, ob­wohl sie durch­aus be­reits Ein­fluss auf die kirch­li­che Ka­sual­pra­xis hät­ten. Wich­tig sei aber auch ei­ne Ri­tual­kri­tik, da bei Ri­tua­len Äs­the­ti­sie­rung und Thea­tra­li­sie­rung zum Ei­gent­li­chen wer­den könn­ten und die Ge­fahr von Pro­jek­ti­on und Manipu­la­tion ge­ge­ben sei. Die­ser kri­ti­sche Blick ist aber auch für die kirch­li­che Pra­xis nö­tig: Wo wird die Per­form­anz von Ri­tua­len un­ter­schätzt? Wo wer­den sie nicht ernst ge­nug ge­nom­men? Wo ge­win­nen deu­ten­de Wor­te so viel Über­ge­wicht, dass ei­ne De­ri­tua­li­sie­rung statt­fin­det? Kirch­li­che Ritu­ale zeich­nen sich ge­gen­über sä­ku­la­ren Ri­tua­len durch die Be­zug­nah­me auf Je­sus Chris­tus aus – aber auch auf die Welt: Lit­ur­gie ver­mit­telt die gna­den­hafte Zu­wen­dung Got­tes zur Welt, die al­len Men­schen gilt. So sieht Kra­ne­mann die Kir­che heu­te her­aus­ge­for­dert, Ri­tua­le in ih­rer Eigenwirk­samkeit ernst zu neh­men, den Le­bens- und Welt­be­zug von Li­tur­gie zu stär­ken und wei­ter­hin Mut zu öf­fent­li­chen Lit­ur­gi­en zu ha­ben – et­wa in Form von Trau­er­fei­ern nach Gro­ß­ka­ta­stro­phen für Men­schen mit verschie­denster re­li­giö­ser (Nicht-)Zu­ge­hö­rig­keit.

Kra­ne­manns Vor­trag schloss den Bo­gen ei­ner kom­pak­ten Ta­gung – von Mitt­woch- bis Don­ners­tag­mit­tag. So war auch nur be­grenzt Zeit für Ar­beits- und Aus­tau­schein­hei­ten. Den­noch ge­stal­te­ten sich die Arbeits­gruppen am zwei­ten Tag in­ten­siv – ob es nun um Ri­tua­le rund um Ster­ben, Tod und Be­gräb­nis, um Tau­fe und Kin­der­seg­nung, um Be­zie­hungs- und Fei­er­qua­li­tät oder um neue An­läs­se für Ka­sua­li­en ging.

Und es wur­de nicht nur über Ri­tua­le ge­spro­chen. Durch geist­li­che Im­pul­se und ge­mein­sa­mes Bi­bel­tei­len er­hielt die gan­ze Ta­gung ei­ne ri­tu­el­le, spiri­tuelle Rah­mung. Und mit „Er­fur­ter Ri­tua­len auf der Spur“ war ein Stadt­spaziergang über­schrie­ben, der un­ter an­de­rem auch am Schuh­baum vor­beiführte – und nach der Kom­plet in der Schot­ten­kir­che in ei­nem belieb­ten Ta­gungs­ri­tu­al aus­lief: dem ge­müt­li­chen Bei­sam­men­sein in ei­nem Lo­kal.

Ei­ne Ta­gungs­do­ku­men­ta­ti­on ist ge­plant.