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Spiel mir das Lied vom Leben

Internationales Kunstprojekt „Before I die“ auch in Berlin

Einmal die Polarlichter sehen. Laugh about all the stupid things I’ve done. Meinen Sohn kennenlernen. Two weeks horse riding in Altai mountains. Allen sagen, was ich von ihnen denke. Vergeben können. Die Orte meiner Vergangenheit wiedersehen. Sagen können: Je ne regrette rien (ich bereue nichts). Das Leben frech, wild, intensiv leben. JETZT!

Ein kunterbuntes Kaleidoskop an Lebenslust und Lebenshunger ist es, wel­ches sich dem Besucher der Hackeschen Höfe im März 2015 offen­bar­te. Der Grund: Das Erzbistum Berlin beteiligte sich in der Fastenzeit zwei Wochen lang an dem globalen Kunstprojekt „Before I die“, das Men­­schen einlädt, ihr Leben zu reflektieren. Dabei kann man den Satz­an­fang „Bevor ich sterbe, möchte ich …“ auf öffentlichen Tafelwänden im Vorübergehen vervollständigen und seine Sehnsüchte so mit anderen Passanten teilen.

From New Orleans around the world

Initiiert wurde das Projekt ursprünglich von der amerikanischen Künstle­rin Candy Chang 2011 in New Orleans, nachdem sie einen engen Freund verloren hatte. Ein leer stehendes Haus in der Nachbarschaft hatte sie mit Tafelfarbe angepinselt und Kreide hingelegt, um einen anonymen Platz zu schaffen, an dem man seine Gefühle mit anderen Menschen tei­len kann. Eigentlich war das Ganze als Experiment gedacht, ohne zu wissen, was daraus wird. Doch bereits am nächsten Tag war die ganze Hauswand voller Kommentare. Dadurch sah Candy Chang die Menschen in ihrer Nachbarschaft in einem ganz neuen Licht, entdeckte Seiten an ihnen, von denen sie bisher nichts wusste, und erkannte an der vollge­schriebenen Hauswand, dass sie nicht alleine ist mit dem Versuch, sich darüber klar zu werden, was ihrem Leben Sinn geben kann. Nachdem sie einige Fotos dieser Hauswand online gestellt hatte, verbreiteten sich die­se in Windeseile und sie erhielt Hunderte von Mails von Leuten, die eben­falls eine solche Wand gestalten wollten. Daraufhin richtete sie eine Homepage ein mit allerlei Hinweisen zur Durchführung eines solchen Projekts.

So ist die Idee seitdem durch die ganze Welt gezogen: von Kanada, Mexi­ko und Paraguay über Frankreich, Rumänien und Israel bis nach Japan, Taiwan und Australien. Auch in Deutschland gab es diese Tafelwände schon in verschiedenen Städten: ob Hamburg oder Bremen, Aachen oder Osnabrück. Insgesamt über 500 Tafelwände in mehr als 70 Ländern und 35 verschiedenen Sprachen.

Babylonisches Sprachengewirr mitten in Berlin

Auch unsere Tafeln spiegelten ein wahrhaft babylonisches Sprachenge­wirr wider, denn die Hackeschen Höfe sind einer der Hotspots für Berlin-Besucher aus dem In- und Ausland. Ob auf Deutsch oder Englisch, Fran­zö­sisch, Italienisch oder Spanisch, Chinesisch, Griechisch oder Arabisch – die schwarzen Tafelwände waren ein Magnet, der ganz unterschied­li­che Leu­te anzog: Schüler und Sprachstudenten, Familien mit Kinder­wagen und Dreirad, Geschäftsleute mit Krawatte und Aktentasche, Touristen mit Reiseführer und Rucksack, Senioren mit Einkaufsbeutel – alle ver­harr­ten an den Tafeln, lasen die Kommentare anderer, kamen darüber miteinander ins Gespräch, machten Fotos, griffen dann auch selber zur Kreide, um eine Lebenssehnsucht zu notieren. Auch die Postkarten, die in einer Transparentbox in der Nähe der Kreidebehälter steckten, wurden zahlreich mitgenommen, teilweise auch gleich mehrere, um sie an Freun­de, Bekannte und Kollegen weitergeben zu können.

In medias res

Wir waren noch mit den Aufbauarbeiten beschäftigt, als die Tafeln bereits Wirkung zeigten: Ein Lehrer mit seiner Schulklasse aus Süd­deutsch­land nutzte die Frage, um zu früher Morgenstunde mit den Teenagern in einen Austausch über den Sinn des Lebens zu treten.

Vielfach wurden auch die Wünsche anderer kommentiert, indem jemand ein Ausrufungszeichen dahinter setzte, ein wichtiges Wort unterstrich oder sich dem Wunsch kurzerhand anschloss: BEVOR ICH STERBE, MÖCHTE ICH … unbedingt mal in Berlin leben. Ergänzung eines anderen: Ja, ich auch!

So entstand ein Austausch der Leute untereinander, ohne dass sie mit­ein­an­der gesprochen hätten, rein schriftlich – und doch intensiv und verbindend!

Kontakt auf Augenhöhe

Ideale Gelegenheit, um mit Passanten ins Gespräch zu kommen oder Kom­mentare der Leute untereinander aufzuschnappen: das mehrfach am Tag erforderliche Putzen der Tafeln, um wieder Platz für neue No­tizen zu schaffen: während der Woche drei Mal täglich; am Wochenende sogar fünf Mal.

Mit Wisch-Eimer und Schwamm in der Hand ergaben sich ungezählte Kon­takte, ungezwungen und auf Augenhöhe. „Sie haben offenbar was mit dieser Aktion zu tun. Sagen Sie, woher kommt diese Idee …?“ So oder ähnlich entspannen sich die Dialoge und oftmals war man plötzlich „mittendrin“.

„Eine tolle Idee. Die Tafeln fordern mich heraus zu überlegen, was für Prioritäten ich in meinem Leben setzen will“, bemerkte etwa ein 46-jäh­riger Österreicher nachdenklich. Ein Deutschlehrer aus Bayern steht lan­ge vor den Tafeln, ganz versunken: „Nun steh ich hier schon ’ne ganze Weile, beobachte die Leute und überlege, was ich selber draufschreiben würde. Gar nicht so leicht, wenn’s wirklich ums Eingemachte geht!“

Das geht einer jungen Frau offenbar ähnlich. „Los, komm, jetzt schreib doch irgendwas“, drängelt ihr Freund ungeduldig, als sie überlegend mit der Kreide in der Hand vor der Tafel steht. „Sag mal, spinnst du? Bei so ’ner Frage kann man nicht einfach irgendwas schreiben“, entgegnet diese schnaubend – und grübelt ungerührt weiter.

Und bei einem Mutter-Tochter-Gespann entspinnt sich fast eine kleine Meinungsverschiedenheit, ob sie nun etwas auf die Tafeln schreiben oder nicht: „Du hast ja nur Angst, dich mit dieser Frage auseinander­zusetzen!“, hält die Tochter ihrer Mutter vor.

„Wir hatten vor einiger Zeit einen Todesfall in der Familie, deshalb be­rührt mich die Frage sehr“, meinte eine Mittfünfzigerin, und eine ande­re Touristin bekannte: „Die Frage ist so existentiell; ich hatte vorhin ’ne richtige Gänsehaut, als ich das las.“

Mitten in die zweite Woche des Projektes platzt die unfassbare Nach­richt vom Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen mit 150 Toten. Die Erschütterung darüber war vielen Passanten anzumerken, wenn sie zur Kreide griffen – und offenbarte, dass die Frage „Before I die, I want to …“ alles andere als ein philosophisches Gedankenspiel ist, sondern plötzlich erschreckend real sein kann, wenn der Tod unerwartet in den Alltag einbricht.

Kaleidoskop voller Lebenshunger

Das mehrfach täglich notwendige Putzen der Tafeln nutzten wir auch, um die Notizen zu fotografieren und zu dokumentieren. Dabei kristalli­sierte sich nach der zweiwöchigen Projektlaufzeit heraus, dass sich die meisten aufgeschriebenen Wünsche auf vier Kategorien bezogen, näm­lich LIEBE, PARTNERSCHAFT & FAMILIE  („um meine große Liebe kämp­fen“, „meinen Kindern gerecht werden“, „love myself“ …), ZUFRIEDENHEIT & WOHLBEFINDEN („Frieden schließen mit mir“, „nicht sagen: hätte ich doch“, „ich sein“ …), REISEN („Käsekuchen in New York essen“, „hike the Inka trail“ …), AKTION & ERLEBNIS („go back in time and go to the real Woodstock“, „mit Walen tauchen“ …).

Aber auch in die Kategorien FREUNDSCHAFT, GESUNDHEIT & KRANK­HEIT, SCHULE, STUDIUM & BERUF, REICHTUM & BESITZ ließen sich viele aufgeschriebene Sätze einordnen.

Und – wenn auch weit abgeschlagen, aber zumindest nicht gänzlich feh­lend: einige Stichworte gehörten in die Bereiche GOTT & KIRCHE („mit­er­leben, dass die katholische Kirche den Priestern die Ehe erlaubt“, „je­den Tag als Gottes Geschenk schätzen – und ihn bewusst leben“ …), SPIRITUALITÄT („learn to meditate“) und PHILOSOPHIE („den Sinn des Lebens gefunden haben“)

Und die Moral von der Geschicht’? Lernfeld Leben!

Als Projektreferentin für „Suchendenpastoral“ versuche ich immer wie­der, Projekte zu initiieren, mit denen wir rausgehen aus den klassischen kirchlichen Kontexten, „rein“ in das „normale“ Leben in seinen viel­schich­tigen und spannenden Facetten. Denn ich verstehe Suchenden­pastoral zunächst mal als eine Pastoral an uns selbst, bei der es wichtig ist, selbst ans Suchen und Staunen zu kommen.

Für mich meint „Suchendenpastoral“ nicht etwa, dass den Menschen, die wir mit unseren Angeboten erreichen möchten, etwas fehlt, was sie suchen, und wir passgenau eine „Rundum-Sorglos-Lösung“ in der Ta­sche haben. Vielmehr sind wir die Suchenden – nach einem neuen all­tags­taug­lichen Vokabular, einer zeitgemäßen, aber nicht anbiedernden, fri­schen, überraschenden Weise, sich mit gesellschaftsrelevanten The­men bzw. existentiellen Lebensfragen auseinanderzusetzen und unsere Bot­schaft als Deutungshorizont anzubieten. Doch dazu müssen wir raus aus der kirchlich-kuscheligen Komfort-Zone, rein ins pralle Leben. Wir wol­len lernen von den Menschen hier in der Stadt und uns auf sie ein­lassen – indem wir wahrnehmen, hören, fragen. Wertschätzend, auf Augenhö­he, voneinander lernend.

Auf diesem Hintergrund war das Kunstprojekt „Before I die“ eine wichti­ge Lernerfahrung für mich, in vielerlei Hinsicht.

Zunächst einmal: Ein solches Projekt ist nicht alleine zu stemmen. Es braucht Verbündete, mit denen man es gemeinsam vorbereitet, durch­führt, reflektiert, organisiert. Damit meine ich zum einen Kollegen aus dem Dezernat Seelsorge, mit denen ich das Projekt gemeinsam realisiert habe. Zum anderen braucht es aber auch externe Kooperationspartner, wie in diesem Falle die Betreiber der Hackeschen Höfe, die sich von der Idee überzeugen ließen, ihr Areal zur Verfügung stellten, einen Haus­mei­ster als Ansprechpartner für konkrete Hilfestellungen vor Ort be­nann­ten, das Projekt ihrerseits auf ihrer Homepage publizierten und als interessierte Gesprächspartner zur Verfügung standen.

Auch die Betreiber der kleinen Geschäfte in dem Hof, in dem wir die Ta­feln errichtet hatten, gehören dazu, denn auch sie warfen immer mal wieder ein Auge auf die Tafeln und hatten unsere Kontaktdaten „für den Fall der Fälle“. Die meisten von ihnen sahen in der Aktion eine Bereiche­rung für ihren Hof und einen „Publikumsmagneten“. So war es für beide Seiten eine Win-win-Situation.

Solche Projekte machen mir immer wieder deutlich, dass Kirche schon lan­ge nicht mehr (nur) nach den „Komm-Strukturen“ klassischer Ge­mein­­depastoral funktioniert, sondern dahin gehen bzw. da sein muss, wo die Menschen sind. Dabei geht es nicht darum, Veranstaltungen zu „konstruieren“, sondern vielmehr an vorhandene Gegebenheiten anzu­docken; Themen aufzugreifen, die gerade (in der Stadt) „dran“ sind. Wichtig ist, erfahrbar zu machen, dass der Glaube für das Leben eine Relevanz haben kann, dass der Glaube Antworten anbietet auf existen­tielle Fragen – wie in diesem Falle auf die Frage „Bevor I die I want to …“.

Dieses Kunst-Projekt hat deutlich gemacht, wie wichtig es ist, mit unse­ren Angeboten niederschwellig und doch anspruchsvoll zu sein. Auch mit einem so passageren Projekt wie „Before I die“ ermöglichen wir punk­tuelle Begegnungen mit Kirche (vergleichbar einer „Auftank-Sta­tion“), wobei es aber dennoch auch auf Qualität ankommt.

Mit einer solchen Pastoral im Vorübergehen, die im öffentlichen Raum platziert ist, werden wir (wohltuend) gezwungen, uns immer wieder auf den Weg zu machen, in Bewegung zu bleiben, uns auszuliefern und ab­hängig zu sein von Menschen, die das Projekt unterstützen und sich dar­auf einlassen. Und wir dürfen die Erfahrung machen, dass plötzlich mit­ten im Alltag der Stadt ein kleines (Glaubens‑)Biotop entsteht, das gera­de durch seinen passageren Charakter ein besonderes Gepräge erhält. Denn die Passanten können Nähe und Distanz selber bestimmen und anschließend wieder in der Anonymität der Stadt untertauchen. Das macht es für viele leicht (oder überhaupt erst möglich!), sich für diese Fragestellung zu interessieren.

Die Kommunikation mit Passanten kann sich auf verschiedenen Ebenen entwickeln, von einem ersten Aufmerksam-Werden auf die großen Let­tern „Before I die …“, einem interessierten Lesen der vielfältigen Kom­mentare, einem Sich-Austauschen über die Sätze anderer bis hin zum Formulieren von Kommentaren. So wird ein Dialog über die doch oft tabuisierte Frage von Tod und Sterben auf verschiedene Weise möglich.

Für all diese Erfahrungen haben wir es gerne in Kauf genommen, dass so manche Jugendgruppe an den Tafeln ihren unbekümmerten Übermut aus­ließ. Im ungünstigsten Fall mit Schlüpfrigkeiten unterhalb der Gür­tel­linie. Vereinzelt mit Kommentaren, bei denen man zumindest kurz grinsen musste: BEVOR ICH STERBE, MÖCHTE ICH … an einer Amei­sen­straße die Ampel sein. Nun gut. Schwamm drüber. Aber erst, nach­dem’s dokumentiert wurde :-).

Und auch ein Niederländer brachte mich zum Lachen. Mit ihm war ich ins Gespräch gekommen, während seine Frau schon langsam weiter­schlenderte. So sucht er anschließend in den angrenzenden Höfen nach ihr. Offensichtlich vergebens. Als er wieder an den Tafeln vorbeikommt, meint er mit einem Augenzwinkern: „Before I die I want to find my wife again!“

Übrigens:

Wer sich an diesem globalen Kunstprojekt beteiligt (Voraussetzung: non profit), kann bei einer Projektkoordinatorin in den USA die LogIn-Daten erfragen und eine eigene Unterseite auf der internationalen Seite dieses Pro­­jektes einrichten.

Eindrücke von den Tafeln in den Hackeschen Höfen sind in der Galerie der weltweiten Tafeln auf www.beforeidie.cc zu finden. In der Ru­brik „Build Your Own Wall“ finden sich viele hilfreiche praktische Tipps zur Gestaltung eigener Tafeln und zur Durchführung eines solchen Projektes.