Die Stadt als pastorales Laboratorium
Urbanität als Herausforderung für Gestalt und Praxis der Kirche
Die Gespräche bei der Fachtagung „Neue Räume in der Stadt“ am 16.6.2016 in Frankfurt haben gezeigt: Einerseits gibt es innerhalb des kirchlichen Personals positiv konnotierte Vorstellungen und Bilder von Kirche in der Stadt, andererseits zeigt sich in der Stadt gerade sehr deutlich die aktuelle Transformationskrise der Kirche: „Kirche kämpft um Mitglieder, gesellschaftliche Relevanz und nicht zuletzt um den Platz in der Stadt“ (Eufinger, Ambivalenzen 83).
Urbanität als leitender Lebenskontext
Auch wenn in Deutschland keine Entwicklung zur Bildung von Megacitys wie in manchen Ländern des Südens besteht, so ist doch in den letzten Jahren eine tendenzielle Landflucht festzustellen. Ältere Menschen ziehen angesichts der besseren und vermehrten Angebote der Daseinsvorsorge und Teilhabe (wieder) zurück in die Stadt. Jüngere Menschen tendieren wegen der Bildungs- und Berufsmöglichkeiten und der Angebote zur Freizeitgestaltung sowieso dahin. Single-Haushalte dominieren. Angesichts des demografischen Wandels sind insbesondere große Städte attraktiv. Dies führt zur zunehmenden Ausdünnung und Überalterung peripherer ländlicher Bereiche. Der Druck auf den Wohnungsmarkt führt in den Städten zu steigenden Preisen und stellt eine Herausforderung für Mobilität und soziale und kulturelle Angebots- und Partizipationssysteme dar.
In den Städten entwickelt sich „Urbanität“ als Lebensweise und Lebensgefühl. Während früher die Stadt im Gegensatz zum Land sinnbildlich für Emanzipation, höhere Bildung, Sitte, Belebtheit, Kosmopolitismus, aber auch für Gewalt, Segregation, Kriminalität und Umweltverschmutzung stand, stehen heute Dichte und Erlebnisvielfalt sowie die neue Gestaltung sozialer Beziehungen im Vordergrund des Interesses. Der „Städter“ steht für Mobilität und Indifferenz, in der Ambivalenz von Wahlfreiheit und Reizüberflutung. Ob in Städten „Anonymität“ vorherrscht und in welcher Weise sie gedeutet und gelebt wird (positiv/negativ), ist jeweils vom Einzelfall her zu betrachten. Manche kirchliche Klage über die „ach so anonyme Stadt“ geht von bestimmten Lebensvorstellungen aus, die die Betroffenen nicht unbedingt teilen müssen. Es existieren auch in den Städten auf verschiedenen Ebenen (z. B. im Kiez oder Straßenzug) zum Teil stabile soziale Beziehungen.
Die Komplexität der (erlaubten und realisierten) Lebensstile führt zu neuen städtischen Lebens- und Sozialformen. Guerilla-Gärten und Urban Gardening sind Beispiele neuer Verantwortlichkeiten und Partizipationsformen. In der Stadt zeigen sich soziale Ambivalenzen (Personen in Armut, Exklusion neben Menschen mit hohem Vermögen, Teilhabe- und Gestaltungsmöglichkeiten), unterschiedliche Sozialprofile (Bildung, Familienstand, Einkommen) sowie unterschiedliche Kirchen- und Religionsprofile (Traditionelle, Ausgetretene, wenn auch kritisch Verbundene, Suchende und „spirituelle Wanderer“, Glaubende anderer Religionen, Nicht-Glaubende und religiös Indifferente). Zur Stadt gehören neben der City als verdichtetem Handels-, Arbeits- und Kulturzentrum und den verschiedenen Unterzentren eines größeren städtischen Raumes (z. B. Berlin, Ruhrgebiet) auch Rand- und Außenbereiche sowie die Übergänge zu mehr oder weniger ländlich geprägten Umgebungssystemen („Speckgürtel“).
Pastoraler Wandel im städtischen Kontext
Bei der kirchlich-pastoralen Befassung mit der Stadt ist zunächst zu klären, ob das Ziel die „Präsenz von Kirche“ (in ihrer bisherigen Gestalt) oder vielmehr die „Kommunikation des Evangeliums“ (Christian Grethlein) ist. Entsprechend werden auch die Angebote gestaltet bzw. die „Hard- und Software“ kirchlicher Pastoral in den Städten realisiert werden. Entgegen der Gestaltungsmacht früherer Zeiten (an den Wänden des Freiburger Münster wurden für den Handel auf dem Münsterplatz die „legitimen“ Hohl- und Längenmaße für Brot und Waren als Produktschutz vorgegeben, die Kirche überwachte hier somit städtische Funktionen wie Wirtschaft, Politik und Ethik) hat die Kirche diese monopolistische Gestaltungsfunktion längst verloren. Dennoch stehen ihr in der Stadt in der Regel zentrale Bauwerke, Kontakte und Einflussmöglichkeiten in hohem Maße zur Verfügung. Es ist eine zentrale Frage, ob Pastoral in den Städten – trotz gegenteiliger Beteuerungen und Konzepte – versucht, möglichst viele Menschen „niedrigschwellig“ zu erreichen, um sie letztlich doch in die „eigentliche“ Form religiöser Teilhabe (in die Pfarrei als klassische Sozialform) einzugliedern oder zumindest eine „punktuelle Kirchenmitgliedschaft“ zu generieren. Citypastoral wäre dann als vorläufige „Anwärmung“ und Versuch der „Wiedergewinnung“ des Raums und/oder der Menschen gesehen. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage nach Hauptberuflichkeit oder Freiwilligkeit interessant. Ist Pastoral in der City als Verstärkung organisierter professionalisierter (Dienstleistungs-)Pastoral zu begreifen? Und: Müsste kirchliches Handeln in der Stadt nicht über eine Kategorialpastoral (City als „Spezialseelsorge“ mit der Stadt als besonderem „Feld“) hinaus in den Erfahrungsraum von neuen Formen von Gemeinschaft führen? Geht es nur um die Beschreibung territorialer und personaler Strukturen von „verfasster Kirche“, oder muss ein solch trennendes Denken (hier Kirche, dort Stadt) nicht dialektisch überwunden werden hin zu einer Entdeckung der „Normalität“ kirchlichen Lebens (in welcher Form auch immer) in „anderen Räumen“ als denen der verfassten Kirche? Bieten wir kirchliche Vollzüge als Gegenentwurf im Sinne eines Rückzugsraums („Oase“ als Abgrenzung für Überforderte und „Verlierer“ der städtischen Lebensweise) oder einer Antithese (Fronleichnamsprozession als Demonstration der „Noch-Bekennenden“, als Irritation: „Das gibt es auch noch!“ oder als verdeckter Herrschaftsanspruch; Ordensleute im Habit als „unterbrechende“ Kontrasterfahrung im Stadtbild) an oder kann Kirche vielmehr ein „Einschwingen“ in die Lebensrhythmen der Stadt realisieren? Kann Kirche in und mit dem öffentlichen Raum selbst als Akteur Nutzer sein, zum öffentlichen „Raum“ beitragen oder in ihren Räumlichkeiten selbst einen „öffentlichen Raum“ schaffen? Die Stadt relativiert die weithin verbreiteten und intendierten kirchlichen behaglichen Nischen und festen religiösen und kirchlichen Vorstellungen und Überzeugungen.
Was würde sich ändern, wenn kirchliche Akteure (freiwillig Engagierte und Hauptberufliche) die Formen religiösen Lebens in der Stadt als eigenständige Form sich entwickeln ließen und daran anknüpften? Das neue Paradigma beinhaltete ein tatsächliches, nicht nur vorgebrachtes Zugeständnis unterschiedlicher Gestalten und Grade von Partizipation (punktuell-passager) von unterschiedlichen Playern. Wie gehen „wir“ (neben Bikergottesdienst, Tiersegnung und Trauerfeier nach Großkatastrophen) mit punktuellen Projekten im öffentlichen Raum um, die nicht von uns initiiert sind, bei denen wir uns aber beteiligen oder etwas anregen könnten (Fete de la Musique, Diner en blanc …)? Haben wir den Kiez/Stadtteil als Lebensraum und die dortige Daseinsvorsorge, die kulturellen Aktivitäten dort als Teil kirchlicher Präsenz und Praxis (Tafel, Hospiz, Stadtteilengagements …) bereits genügend im Blick? Muss es immer ein eigenständiges „kirchliches“ Angebot sein? Kennen wir Akteure der städtischen Zivilgesellschaft (stadtteilbezogene Bürgerbewegungen, Bürgerplattformen etc.)? Immer mehr Städte versuchen, sich im Rahmen eines Citybranding ein Profil zu geben. Kann die Kirche diesen Markenkern erkennen und ggf. zu seiner Stärkung beitragen?
Hinzu kommt, dass sich in der Stadt so verschiedene Ebenen von Interaktion realisieren, dass kirchliche Akteure sich darüber Rechenschaft geben müssen, welche Ausschnitte städtischer Wirklichkeit überhaupt nur in ihren Blick geraten. Kirche – und dies gilt insbesondere für Personen in Leitungsverantwortung – wird lernen müssen, in einer Situation der Unübersichtlichkeit, in der nicht mehr zentral „gesteuert“ werden kann, zu agieren und Delegation und dezentrale Verantwortungsübernahme einzuüben.
Und wenn es denn schon um „Angebote“ gehen soll: Es braucht eine grundlegende Reflexion darüber, was für wen durch wen mit wem und zu welchem Ziel „angeboten“ werden soll. Stille, Kerzen, Impulse, Reflexion, Feier, Hilfestellung, Dienst … In einer Studie des Freiburger Zentrums für kirchliche Sozialforschung (ZEKIS), die kirchliche Orte der katholischen Citypastoral in Frankfurt mit der Frage „Was erschwert, was fördert und erleichtert, Menschen in der City von Frankfurt mit der Frohen Botschaft in Berührung kommen zu lassen?“ untersuchte, wurde u. a. die bedeutsame Rolle des Frankfurter Doms als zentralem Sakralraum herausgestellt. Solche ikonischen Bauwerke wirken zunächst durch ihre architektonische Repräsentanz im Stadtkontext, haben aber auch ein Funktion über Kerzen, Feiern, Ausstellungen, Gesprächsmöglichkeiten, Fürbittbuch etc.
In der Stadt kann die Kirche darüber hinaus die Rückkehr in die Diakonie lernen bzw. die „unselige“ Trennung in verfasste Kirche und professionalisierte Caritas aufheben lernen. Indem die christliche Botschaft der Erlösung für die Verlierer des Wirtschaftens, die Vereinsamten und Exkludierten in der Stadt realisiert wird, kann in einer Verschränkung von ehrenamtlich und professionell-hauptberuflichen Kapazitäten community building als „Stärkung der Schwachen“ erkannt und versucht werden.
Die Komplexität der Stadt erfordert eine multilinguale, milieuorientierte und kultursensible Pastoral. Insbesondere der Umgang mit gesunder Konkurrenz und Kooperation angesichts der religiös-weltanschaulichen Vielfalt in der Stadt (neue religiöse Bewegungen, Freikirchen, ethnische und Sprachgrenzen, „spirituelle Kleinunternehmer“ mit Sinnstiftung ohne gemeinschaftliche Dimension …) bietet ein im weitesten Sinne ökumenisches und interreligiöses Lernfeld für kirchlichen Umgang mit religiöser Pluralität. Die unüberschaubare Vielfalt von Kommunikation und sozialer Performanz in der Stadt fordert Kirche dazu heraus, ihre Symbolsprache(n) oder Stimulations- und Kommunikationsmöglichkeiten zu überprüfen und anzupassen (Internet: Webpräsenz und Soziale Medien; Gestaltung und Distribution von Schaukasten und Print-Produkten; Entwicklung kreativer Kommunikationsformate).
Die Stadt als pastorales Labor
Papst Franziskus ermutigt dazu, hinaus auf die Straße zu gehen, „die Stadt mit den Augen des Glaubens zu erkennen, der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren Straßen und auf ihren Plätzen wohnt“ (vgl. EG 71). Die Stadt generiert eine neue Kultur, die dazu herausfordert, „neuartige Räume für Gebet und Gemeinschaft zu erfinden“ (EG 73). Kirche in der Stadt ist also dazu herausgefordert, experimentell ausprobieren, in den Sozialräumen der Stadt urbane Überraschungen mit Gott zu entdecken (vgl. Exerzitien auf der Straße). Die Stadt ist der Raum, in dem – mit oder ohne empirische Sozialforschung – die Akteure der Kirche auf die Menschen mit der Frage zugehen sollen: „Was wollt ihr von der Kirche?“ – „Wie können wir gemeinsam etwas vom Evangelium entdecken?“ Wenn tatsächlich die „urbane Religion“ sich zunehmend als neue Normalität entwickelt, kann die Kirche in der Stadt die Passung zwischen Nachfrage- und Angebotsseite der Heilsgüter neu austarieren. Mit anderen Worten: Die Diskrepanz zwischen immer differenzierter werdenden Erfahrungswelten der Menschen und der Organisationslogik von Kirche, die weithin immer noch auf traditionelle Milieus bezogen ist, kann die Kirche, wenn sie sich auf diesen Lernprozess einlässt, befähigen, die Umweltreferenz für ihr Zeugnis wiederherzustellen. Voraussetzung ist jedoch, dass sie die städtischen Lebenswelten als Ort des Bekenntnisses zu einem Gott erkennt, der sich auf die Lebenswelt der Menschen einlässt. Insofern kann die Stadt zum Raum und zum „Material“ eines Systemwandels des Christlichen und Kirchlichen werden. Die entscheidende Frage heißt also: Wie lernen wir als Kirche in der Stadt, mit der Stadt und von der Stadt?