„Ich spreche nicht mit Atheisten, ich spreche mit Menschen“
Interview mit dem ostdeutschen Pfarrer Jörg Bahrke
Wie sieht Ihre Pfarrei aus? Welche Menschen leben hier? Und wie gestaltet sich kirchliches Leben in dieser Diasporasituation?
Die Pfarrei „St. Johannes“ Burg im Bistum Magdeburg besteht aus drei Gemeinden mit ca. 1.700 katholischen Christen. Insgesamt leben auf dem Pfarreigebiet ca. 52.000 Einwohner. Die Gemeinden sind im Dreieck jeweils 30 km voneinander entfernt. Burg und auch Gommern und Loburg sind im Einzugsgebiet der Landeshauptstadt Magdeburg. Bei den engagierten Mitgliedern in der Pfarrei gibt es keinen sozialen Notstand, andere sind vielleicht deshalb nicht präsent. Die Pfarrei mit den gemeinsamen Gremien versucht eine Gemeinschaft zu bilden, doch sind die drei Gottesdienstorte von eigenen Traditionen und Befindlichkeiten geprägt. Sie leben in eingeübten Mustern – sowohl, was die Veranstaltungen angeht, als auch, was die Erwartungen betrifft –, und dadurch ist der Blick über den Tellerrand hinaus gar nicht eingeübt (auch, was die Pfarreiarbeit angeht). Es gibt kaum innovative Initiativen. Auch werden Fremde, Gäste oder Neue nicht immer willkommen geheißen. Unsere Gemeinden sind davon geprägt, dass sich Menschen hier versammeln, die schon immer da waren oder hier hineingewachsen bzw. hineingeboren sind. Das Denken ist von der Vergangenheit geprägt, was auch zu Verklärungen führt und das Leben lähmen kann. Eine inhaltlich Auseinandersetzung unter den Stichworten „Kirchenbilder“ oder „gemeinsam Kirche sein“ ist nur schwer möglich. Mit Visionen zu arbeiten, um sich zu motivieren, ist nicht eingeübt.
Wann und wie begegnen Sie hier Konfessionslosen? Gibt es typische Begegnungspunkte, Begegnungssituationen? Und welche Kontakte bestehen zwischen den Kirchenmitgliedern und Anders- und Nichtglaubenden? Gibt es gemeinsame Aktivitäten?
Bei 3 % katholischen und 12 % evangelischen Christen in diesem Landstrich Deutschlands stets und ständig! Ich begegne Konfessionslosen bei kirchlichen Veranstaltungen durch Familienmitglieder und Freunde; unsere Gemeindemitglieder in der eigenen Familie, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis und in der Arbeitswelt; eigentlich überall.
Zu den Aktivitäten unserer Pfarrei gehört zum Beispiel die Second-Hand-Kleiderbörse unserer Kita mit dem Förderverein zweimal im Jahr, zu der sich viele Familien auf unser kirchliches Gelände einladen lassen. Die Ortsgruppe „netzwerk Leben“ führt eine weihnachtliche Paketaktion für bedürftige Familien durch, deren Adressen sie durch Sozialarbeiter bekommt. Auch ein Heilig-Abend-Projekt mit einer weihnachtlichen Feier mit 25 alten Menschen, die durch eine staatliche Pflegeeinrichtung als Partner mit uns diese Stunden gestaltet haben, fand großen Zuspruch. Jedes Mal sind die Zielgruppen nicht die Gemeindemitglieder.
Aber auch im seelsorglichen, pastoralen und spirituellen Bereich des gemeindlichen Lebens gibt es nicht getaufte Personen, die zum Beispiel die Exerzitien im Alltag mitmachen oder im Familienkreis engagiert sind.
Schauen wir einmal besonders auf die im Osten weit verbreiteten „religiös Indifferenten“: Wie nehmen Sie diese wahr? Als defizitär – oder erst einmal als anders – oder …? Und wie geht es den anderen Christen in Ihrer Pfarrei?
Mittlerweile leben hier Menschen ohne kirchliche Erfahrung und ohne religiöses Wissen. Sie haben nach meinem Verständnis alles, was sie zum Leben brauchen, auch Glaube, Hoffnung und Liebe. Sie können es aber nicht spirituell deuten.
Für mich ist das erst mal gar nicht wichtig, ob jemand glaubt oder nicht! Ich kenne so viele tolle Menschen und bin sehr freundschaftlich verbunden mit vielen, die nicht einer Religionsgemeinschaft angehören. Ich spreche nicht mit Atheisten, ich spreche mit Menschen. Durch die Ernennungsurkunde des Bischofs bin ich gesandt zu allen Menschen, also zu den 52.000 – für diese Menschen sehe ich meinen Auftrag und mein (priesterliches) Dasein.
Unsere Katholiken leben manchmal mit dem Gedanken: „Ich habe mehr“ und „dabei bleibe ich auch“! Doch leben in fast jeder (Groß-)Familie Nichtglaubende, manchmal sind es die eigenen Kinder. Großeltern und Eltern sind oft betroffen und traurig, dass die nächste Generation nicht getauft wird oder sie nicht mehr in die Kirche gehen oder nicht kirchlich heiraten. Dass kann zu Vorwürfen oder Auseinandersetzungen führen, oder sie vergraben ihre Traurigkeit in Resignation und Traurigkeit.
Und einmal umgekehrt: Wie begegnen Konfessionslose Ihrer Pfarrei, der Kirche, Religion, Christentum, Glaube?
Konfessionslose begegnen uns anlässlich von Sakramentenspendung bzw. Sakramentalien. Unter den Eltern von zu taufenden Kleinkindern oder bei einer Hochzeit sind zumeist konfessionslose Partner, die oftmals auch viele Fragen stellen. Oder der Ehepartner eines erwachsenen Täuflings hat keine Erfahrung mit Kirche. Die meisten Trauernden bei einer Beerdigung sind nicht kirchlich sozialisiert. Also, es kommt immer vor und ist eine schöne Herausforderung in der Verkündigung und beim Bezeugen des eigenen Lebens und Glaubens.
Was meine Person angeht, gibt es viele Gelegenheiten und Kontakte. Das geht los beim Neujahrsempfang der Stadt und dem Kulturstammtisch, führt mich zum runden Tisch für Migration des Landkreises bis hin zu Begegnungen in der JVA oder bei Stadtfesten. Bei Kneipenbesuchen, bei dem der Besitzer schon meine Bestellung kennt und ich schon mal „trunkich“ nach Hause ging: Da wurde ich nach einer langen Diskussion mit drei jungen Leuten über Kirche, Gott und die Welt in einige Trinkrunden hineingenommen, ohne zu bezahlen.
Wenn es sich ergibt und ich erzähle, dass ich Pfarrer bin, gibt es zwei Arten von Reaktionen: Es kommt dann vor, dass das Gespräch einfach weitergeht und diese Info keinen Einfluss hat; oder es gibt Fragen bzw. ich höre plötzlich vertrauensvolle Dinge und darf dann einfach Ohr sein. Die Masse ist von sich aus erst mal gleichgültig gegenüber religiösen Themen.
Was immer wieder passiert, ist ein sozialer Notschrei. Erst jüngst kam ein Anruf: „Es ist Freitag und wir haben für das Wochenende nichts zu essen, Sie sind unsere letzte Rettung.“ So war ich mit dem Familienvater einkaufen und habe den Warenkorb bezahlt.
Sehen Sie Unterschiede, wie Christen und nichtreligiöse Menschen ihr Leben gestalten? Erkennen Sie Unterschiede in den handlungsleitenden Motivationen?
Ich sehe bei den meisten Christen keinen Unterschied in der Lebensgestaltung, abgesehen von dem Besuch des Sonntagsgottesdienstes. Viele sind genauso konsumorientiert und etabliert wie andere Menschen auch. Wie schon erwähnt, sind die sozial Schwachen nicht da. Beim Thema Flüchtlinge und Ausländerfeindlichkeit fällt es mir sehr schwer zuzugeben, dass wir Katholiken oft keine christliche Position einnehmen im Sinne Jesu, der sich „mit besonderer Aufmerksamkeit den Armen, Bedrängten, Einsamen und Heimatlosen zugewandt hat“. Dies ist übrigens auch eine Formulierung aus meiner Ernennungsurkunde von unserem Bischof, als er mir die Pfarrei anvertraut hat. Was ja nicht bedeutet, dass ich der einzige Christ bin, der diesen Auftrag hat!
Viele könnten sicher auch sagen: „Das oder jenes Schwere in meinem Leben hätte ich so nicht geschafft ohne meinen Glauben.“ Doch sehr wenige können sich mitteilen und wie die Emmausjünger eine Wegstrecke mit anderen mitgehen im Bewusstsein, dass sie jetzt ihr Leben mit anderen teilen und mittragen. In unserer Vergangenheit, die uns nach 25 Jahren immer noch prägt, gab es den Blick nach innen, um uns und unseren christlichen Glauben zu bewahren. Heute, so meine ich, ist es eher der Blick nach außen, der uns verändern und einladen würde, von uns und unseren handlungsleitenden Motiven zu erzählen. Ich hoffe jedoch, dass in der konkreten Hilfe in der Nachbarschaft und in der Familie alle ihren Teil tun.
Was kann Kirche lernen, wenn sie sich auf diese Begegnungen einlässt? Wo und wie können sich Glaube und Nicht-Glaube annähern und gegenseitig befruchten? Braucht es gar ein neues Grundverständnis von Kirche und Christsein?
Kirche ist für alle da! Solange wir das nicht verstehen, erfüllen wir nicht unseren christlichen Auftrag. Schon das II. Vatikanische Konzil hatte alle Katholiken weltweit dazu eingeladen, „von der Welt zu lernen“ (vgl. GS 40). Das kann doch auch heißen, jeder und jede darf uns nicht nur beobachten oder mal vorbeischauen, sondern darf zu uns reinkommen, unser Leben wahrnehmen und unser Leben teilen.
Natürlich ist es dabei gut, das eigene Haus in Ordnung zu halten und immer wieder mal zu putzen und, wenn notwendig, auch zu renovieren.
Wir müssen verstehen, dass wir 24 Stunden lang Christ sind oder eben nicht. Es ist fatal zu denken: Ich bin Mensch – und auch Christ! Im Gegenteil: Ich bin Christ und lebe als solcher als Mensch unter Menschen! Wir Christen sind keine besseren Menschen, weil wir getauft sind. Doch wir sind demütiger, einfacher und barmherziger, wenn wir alle Menschen in unser Herz aufnehmen und auch mit „Zöllnern und Sündern“ essen.
Dazu schenkt uns der Glaube die Kraft, und das Leben mit Jesus stärkt uns.
Ich weiß aus Erfahrung, dass viele Zeitgenossen sensibel sind für persönliche Wertschätzung, ein gutes Wort und Begegnungen auf Augenhöhe. Wir können uns gegenseitig befruchten, wenn wir uns nicht klassifizieren und das jeweilige Gute zu entdecken suchen. Zum Glück leben wir nicht mit Fraktionszwang, indem wir immer die vermeintlich Besseren sind, immer Recht haben und die jeweils bessere Antwort parat haben, die es oft gar nicht gibt. Wir dürfen uns solidarisieren mit den „Menschen guten Willens“ und im sozialen Engagement zusammenstehen. Die vielen guten „Nicht-Glaubenden“ sollten uns ein Ansporn bleiben, uns immer neu zu vergewissern, wo unser Auftrag ist in der Welt.
Was bedeuten vor diesem Hintergrund Weitergabe des Evangeliums und Mission? Oder hat Mission hier gar keine Bedeutung mehr?
Mission ist zunächst Zeugnisgeben ohne Worte. Mission ist Gebet, in dem ich Menschen Gott hinhalte. Mission ist die Haltung, alle Menschen lieben zu wollen, ohne sie zu sortieren.
Mission hat Bedeutung unabhängig von (Katholiken-)Zahlen, weil sie absichtslos ist in ihrem Ansatz und das eigene Leben nach dem Evangelium ausrichtet.
Ich selbst habe nicht den Ehrgeiz, neue Katholiken zu machen, und darf dennoch sagen, dass ich lange keine Osternacht gefeiert habe, in denen ich nicht Erwachsene taufen durfte. Die Menschen sind da, die auf der Suche sind nach „mehr“, die den nächsten Schritt gehen möchten und denen ich ein Stück des Weges Wegbegleiter sein darf. Somit ist Mission auch Begleitung. Und wer weiß, wie viele in unseren Gemeinden es gibt, die genau das tun!
Folgender Satz hat mir neulich weh getan: „Was soll ich mich mit Flüchtlingen abgeben, die kommen ja doch nicht in die Kirche.“ Ich meine, Kirche ist die Quelle meines Handelns und nicht das Ziel meines Handelns.
Eine Passage im diesjährigen Fastenhirtenbrief meines Bischofs Gerhard Feige begleitet mich bis heute:
„‚Ohne Zweifel‘ – so war von Papst Franziskus schon gleich nach seiner Amtseinführung zu hören – ‚ist die Barmherzigkeit die stärkste Botschaft des Herrn.‘ Das zeigt sich auch in der innigen Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe, wie Christus sie uns vorgelebt hat und ans Herz legt. ‚Ein neues Gebot gebe ich euch‘ – sagt er – ‚Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben‘ (Joh 13,34). Das ist keine unverbindliche Empfehlung, sondern gehört zum Wesen unseres Glaubens. […] Dabei ist nicht unsere Großzügigkeit, Berechnung oder Rührung der Maßstab, sondern die Notlage und Bedürftigkeit derer, die unseren Weg kreuzen. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter kommt dies sehr deutlich zum Ausdruck. Während die etablierten Personen – Priester und Levit – eher fragen: ‚Was wird aus mir, wenn ich dem, der unter die Räuber gefallen ist, helfe?‘, ist der Samariter, der als Fremder zufällig des Weges kommt, von der Sorge erfüllt: ‚Was wird aus dem, der da liegt, wenn ich ihm nicht helfe?‘“
Weitergabe des Glaubens geht für mich auch nicht vordergründig über Katechismuswissen, sondern über Haltungen. Ich führe „Neue“ auch nicht vorrangig zu der Quelle und zum Gipfel unseres Glaubens, der Eucharistiefeier, sondern in eine christliche Lebenshaltung. Am Ende des Lebens werde ich gefragt werden nach den Werken der Barmherzigkeit (Mt 25) und – etwas überspitzt gesagt – nicht danach, wie oft ich die Kommunion empfangen habe. Wer sich täglich mit den Texten des (Tages-)Evangeliums beschäftigt, wird in der Liebe zu den Nächsten wachsen, und dadurch wird wie von selbst die Sehnsucht wachsen nach der Mitfeier der großen Danksagung, der Eucharistie. Das ist meine persönliche Erfahrung!
Welche Rolle spielt das Pfarrteam beim Bemühen, Kirche für alle Menschen – auch Nichtglaubende – zu sein?
Das Pfarrteam mit Gemeindereferentin, Diakon und meiner Person ist für mich Stärkung, Ermutigung, Korrektiv und Ernüchterung zugleich. Für mich ist es wichtig, mich abgleichen zu können in meinen Ideen, Beurteilungen und meinen Gedanken. „Zwei sehen mehr“, heißt es. Und: „Wer glaubt, ist nicht allein.“ Unser Papst hat mal gesagt, dass er große Entscheidungen nie allein trifft. Das ist etwas sehr Wichtiges, denn gemeinsam sind wir Kirche und gemeinsam sind wir auch verantwortlich für die Menschen. Natürlich bin ich immer letztverantwortlich als Pfarrer. Doch vorher muss ich den Weg suchen, spüren und finden; und das gelingt mir nur im Miteinander aller, die mit mir zu den Menschen gesandt sind. Die Jünger wurden zu zweit ausgesandt, weil sie im Miteinander das neue Gebot bezeugen sollten. Das Hören aufeinander und das gemeinsame Spüren für den nächsten Schritt halte ich für besonders bedeutsam in unserer Situation.
Seit über einem Jahr feiert unser Team zusammen mit der Pfarrsekretärin und dem Hausmeister das Bibelteilen vor der wöchentlichen Dienstberatung. Wir versuchen, die Haltung aus dem Evangelium uns schenken zu lassen. Dies ist dann die Grundlage für die Besprechung danach und gibt uns für den Tag eine gewisse Stärkung und Orientierung. Dabei gibt es immer eine bestimmte Abhängigkeit von der Bereitschaft, mitzudenken und sich einzubringen. Doch oft habe ich erleben dürfen, dass eine anfängliche Idee mit der Ergänzung der anderen etwas Neues und Schöneres hervorbrachte. Allein hätte ich zum Beispiel unser wöchentliches Projekt „Workshop Miteinander“ für die Flüchtlinge niemals anstoßen, organisieren und durchführen können. Zuerst wollten wir etwas für sie tun, dann ist die Idee des Miteinanders entstanden, und jetzt gibt es Begegnung auf Augenhöhe und jeder kann sich einbringen mit seinen Begabungen.
Auch wollen wir, als pastorale Mitarbeiter, die Menschen begleiten und nicht versorgen. Die Kirche hat das lange genug getan. Daran erinnert mich mein Team regelmäßig, und mein Kirchenbild ist vielleicht wiederum eine Hilfe für die Teammitglieder. Ich bin dankbar, dass wir uns so begegnen und ergänzen können.