Inhalt

Charles de Foucauld (1858–1916) – Inspiration für den Glauben heute und die Begegnung mit Indifferenten?

Charles de Foucauld lebte nicht unter Konfessionslosen, sondern unter Mus­limen. Doch sein Weg, radikal unter und mit Nichtchristen zu leben, inspi­riert heute auch Menschen, in seinem Geist bewusst in der ostdeutschen Diaspora zu leben. Josef Freitag führt in Foucaulds Leben und Denken ein und fragt von dort aus, was Foucauld für Kirche in einer von Konfessions­losigkeit und religiöser Indifferenz geprägten Gesellschaft bedeuten könnte.

Charles de Foucauld wird aus uraltem französischem Adel 1858 in Straß­burg geboren, wächst heran im Kaiserreich Napoleons III. Die Fol­gewirkungen der Französischen Revolution sind noch nicht geklärt, we­der in der Staats- noch der Gesellschaftsform, nicht im Verhältnis von Adel und Besitzbürgern (Kapitalisten). Deutschlands Rolle und die Frank­­reichs verändern sich massiv nach innen und außen durch die Einigungskriege 1864 und 1866 (Habsburger aus Deutschland ver­drängt, Preußen unbestrittene Vormacht); 1870/71 geht nach der gegen Deutschland verlorenen Schlacht bei Sedan Napoleons Kaiserreich unter, Frankreich wird laikale Republik, im Spiegelsaal von Versailles, im Her­zen des politischen Frankreichs, wird das Deutsche Reich ausgerufen. Der Sieg hat den „Erbfeind“ politisch geeint.

Charles ist gläubig in einer frommen Familie zur Erstkommunion und zur „Communion solennelle“ gegangen, einer Art rite de passage ins Jugend- und Erwachsenenalter. Doch was ihm widerfährt, trifft ihn ins Herz: Seinen Vater verliert er mit fünf Jahren, seine Mutter stirbt, zu­rückgezogen, kurze Zeit später. Sein Großvater, der frühere Stadtkom­mandant von Straßburg, nimmt ihn und seine jüngere Schwester auf, doch verlässt dieser nach der Niederlage das ans Reich abgetretene Strasbourg und geht nach Nancy. An der Schule verliert Charles, wie er selbst berichtet, seinen Glauben vollständig, dank der Lektüre von Wis­senschaft und Philosophie. Aber er verliert auch die Orientierung für sein Leben, er wird faul und gleichgültig. Die Jesuiten müssen ihn aus ihrer Schule entlassen. Doch dann schafft er mit eigenem Lernen noch die Auf­nahme in die Militärschule. Dort beginnt das Karussell von Interesse an den Vergnügungen, Desinteresse an der Pflicht und Affären von vorn. Schließlich wird sein Kavallerieregiment nach Algerien in den Atlas ver­legt. Eine gewisse Mimi nimmt er mit, die er, ohne sie zu heiraten, als seine Frau ausgibt, was von den standesbewussten Offizieren und ihren Frauen nicht toleriert wird. Er gibt nicht nach; so wird er bald unehren­haft aus der Armee entlassen. Als seine Kameraden in Kämpfen mit Aufständischen eingesetzt werden, will er wieder an ihrer Seite kämp­fen, wird schließlich wieder in die Armee aufgenommen, aber in einem anderem Regiment, und gewinnt durch seine Einsatzbereitschaft, seine Solidarität mit den einfachen Soldaten und seine Ausdauer wie Verläss­lichkeit die Achtung von Algeriern und Franzosen. Er selber wundert sich über den Alltagsglauben der einfachen Muslime, ihre Anbetung Allahs im täglichen Gebet. Zum Glauben kommt er nicht, aber er fragt sich, was denn die Franzosen an Glauben und im Glauben aufzubieten hät­ten. Wieder in der Kaserne, quittiert er alsbald aus Langeweile den Dienst, um sich dem Studium der Völker, Sprachen und Geographie Algeriens zu widmen, die ihn in ihren Bann geschlagen haben.

Er fasst den Entschluss, das für Weiße verbotene Marokko zu erkunden, um den Franzosen neue Wege und Gebiete zu erschließen. Dazu muss er sich verkleiden, und zwar als Jude, der weder richtig Arabisch spricht noch auch die Sprache und Bräuche der marokkanischen Juden kennt. Er gibt sich als russischen Rabbi, Josef Aleman (Josef Deutscher), aus und lässt sich von einem arabischkundigen Rabbi führen, dessen Bezahlung aber erst nach der Rückkehr zu entrichten ist – zur Sicherheit. Foucaulds Forschungsbericht „Reconnaissance au Maroc“ kann man nachlesen, die inneren Erlebnisse weniger. Er bekommt die ganze Armut, die Härte, die Verachtung des Lebens als Jude zu spüren, von Seiten der Araber wie der Franzosen. Er wird entdeckt, aber wegen der Heiligkeit der Gastfreund­schaft nicht verraten, auch von Muslimen nicht, von denen einige ihn auch sehr gut auszunehmen wissen. Für seine Entdeckungen bekommt er die Goldmedaille der Geographischen Gesellschaft, die er sich aber gar nicht mehr abholt, denn er hat etwas Neues entdeckt: Die eigene Fami­lie, die ihm die Verfügung über sein riesiges, ererbtes Vermögen per Vormundschaft genommen hatte, nimmt ihn wieder auf, und das in aller Herzlichkeit, ohne Vorwürfe, ohne Hintergedanken. Diese Güte, besonders die seiner Cousine Marie de Bondy, bewegt ihn tief. Er lernt durch sie den Glauben anders, neu kennen. „Mein Gott, wenn es dich gibt, so lass es mich doch erkennen!“ Er will Unterricht nehmen, doch Abbé Huvelin, den er darum bittet, reagiert anders: „Er hieß mich nie­der­knien und beichten und schickte mich dann auf der Stelle zur Kom­munion“ (52). Er ist zu Gott vor Gott bekehrt und sucht seitdem Gott und seine Liebe – mit aller Radikalität, derer er nur fähig ist. „Sobald ich glaubte, dass es einen Gott gibt, begriff ich, dass ich nichts anderes tun konnte, als nur ihm zu leben. […] Gott ist so groß! Zwischen ihm und all dem, was nicht Er ist, gibt es einen so gewaltigen Unterschied!“ (52).

Abbé Huvelin sorgt dafür, dass er nichts überstürzt, und schickt ihn auf Reise ins Hl. Land. In den Gassen von Nazaret entdeckt er seine Beru­fung: Jesus in Nazaret folgen, dem, der verborgen mitten unter den Men­schen lebt, nicht mit Worten, sondern mit seinem Leben das Evan­gelium verkündet, einem einfachen Beruf nachgeht, einer von vielen ist, aber in voller Verbundenheit und Verbindung mit Gott, seinem Vater, lebt.

Wieder zu Hause tritt er in den strengen Orden der Trappisten ein, in dessen ärmstes Kloster, Notre Dame des Neiges, und geht mit nach Sy­rien, um für den Fall der Ausweisung aus Frankreich ein Auffangkloster aufzubauen, also in noch größerer Armut und Verborgenheit. Und doch entdeckt er bei einem Krankenbesuch, dass die Angestellten des Klos­ters, Leute der Umgebung, noch viel ärmer leben als die Mönche, dass sie als armenische Christen den türkischen Pogromen preisgegeben sind, während die Mönche als Franzosen geschützt werden. Als er Priester wer­den soll, will er eigentlich nicht, geht aber im Gehorsam nach Rom. Dort trägt er seine Berufung, als Armer, wie Jesus in Nazaret zu leben, vor. Der Trappistengeneral entlässt ihn wegen und für diese Berufung, die er im Orden nicht leben könne. Foucauld ist innerkirchlich nicht ein­zuordnen. Neuer Wein braucht neue Schläuche …

Zum Priester geweiht, geht er 1901 nach Algerien an die marokkanische Grenze, in die Oase Beni Abbès, damals vorgeschobene französische Gar­nison, in der Hoffnung, dass das verschlossene Marokko sich öffnet und er den Glauben bringen kann.

Bald bietet sich eine unverhoffte, neue Gelegenheit. Die Franzosen wol­len das Innere der Sahara, besonders die Tuareg, befrieden. Dafür ist Foucauld in den Augen von Oberst Laperrine, dem militärischen Verant­wortlichen, der richtige Mann bzw. zivile Helfer. Foucauld macht sich mit der Abteilung Soldaten auf den Weg in den tiefen Süden. Allein ist dieser Weg gar nicht zu machen. Unterwegs sucht er mit möglichst vie­len Tuareg Kontakt, um mit ihnen vertraut zu werden. Er kehrt nach Beni Abbès zurück, aber im Endeffekt nur, um sich endgül­tig in Tamanrasset, am westlichen Fuß des Hoggargebirges, bei einem Wadi (Wasser!) end­gültig niederzulassen. Er steht unter dem Schutz der Franzosen, das wis­sen alle Tuareg. Ohne diesen fernen Schutz könnte er hier gar nicht le­ben. Dass er es kann, hängt aber auch damit zusammen, dass er das Wüstenleben kennt und liebt, vor allem die Menschen mag und ihnen Christi Gegenwart bringen will. Dem dienen die langen Anbetungszeiten vor dem Allerheiligsten. „Ich kann nichts Besseres tun, als den Samen der göttlichen Lehre anderswohin zu bringen – nicht durch Predigten, sondern indem ich mit den Leuten spreche. Und die Evangelisierung der Tuareg vorbereiten, beginnen, indem ich mich bei ihnen niederlasse, ih­re Sprache lerne, das Evangelium übersetze und möglichst freundschaft­liche Beziehungen mit ihnen aufnehme“ (125 f., 1903 an Bischof Guérin).

Genau das tut er nach langen inneren Auseinandersetzungen um die Fra­ge, ob er zu den Tuareg gehen soll; 1905 ist es entschieden, er bleibt bis zu seinem Tod 1916. Denn er ist der Einzige, der in Frage kommt, der sich um die Soldaten und die Einheimischen kümmern kann: Ihn kennen die Offiziere und vertrauen ihm, und er hat längst begonnen, die Sprache der Tuareg zu lernen; er hat sie gern und kann mit ihnen umgehen. Und sie mit ihm. Sie freunden sich an. Sie retten ihn in einer furchtbaren Trockenzeit, als er aufgrund von Vitaminmangel und Entkräftung dem Tod nahe ist. Er nimmt einen jungen Adeligen mit nach Frankreich und in seine Familie, um ihm die Kultur und den Glauben der Franzosen zu zeigen. Er bemüht sich im Kleinen und Großen um die Entwicklung der Tuareg, sei es das Nähen oder die Sprache. Er wird als Marabut unter ih­nen bekannt. Ein junger Kämpfer der Senoussi, einer religiös-politisch in Libyen gegen die „Ungläubigen“, die Franzosen, im Krieg mobilisierten Gruppe aus den Wüstennomaden, erschießt ihn beim Überfall auf Tamanrasset im Chaos am 1. Dezember 1916.

Zeuge Jesu werden, ohne Worte und Aufsehen, als Kleiner Bruder Jesu

Der Weg Charles de Foucaulds ist sehr verschlungen, erst im Nachhinein gewinnt er an Klarheit und Anziehung; er vollzieht sich in vielen Schrit­ten konkreter, gelebter Umkehr – durchaus nicht nur in eine Richtung, aber immer mit vollem Einsatz, geradezu radikal, und „bis ans Ende“. Das ist nicht heroisch gemeint, das ist seine Art, nicht sein „System“.

Er hat eine verletzte Kindheit, trotz behüteter Anfänge. Ein erstgebore­ner Bruder stirbt noch vor seiner Geburt, er bekommt dessen Namen. Er verliert als Kind erst den Vater, dann die Mutter, in der Schulzeit schließ­lich auch den, der ihn aufgenommen hat, den Großvater; als seine Cousi­ne, der er sehr nahe steht, heiratet, meint er, auch sie zu verlieren. Er hat keinen Menschen, fühlt sich einsam, wohl verlassen. So sucht er Freun­de. Aber er findet sie nur äußerlich, obwohl von seiner Seite wohl ehrlich gemeint. Er verliert auch den Glauben an Gott, doch bleibt sein Herz emp­findsam, sein Geist wach. Er lässt sich nie ganz einbinden, weder in die Ausbildung noch das Militär noch die Forschergruppe in Algerien, nicht einmal bei den Trappisten. Er bleibt zwar in der Sahara, aber bleibt in ihr unterwegs, versucht immer neue Anläufe zur Begegnung mit den Tuareg. Er bleibt auf seinem Weg unterwegs, bleibt in Entwicklung und Veränderung, er ist nicht ruhigzustellen. Er will weiter – Jesus tiefer, entschiedener, liebender nachfolgen, ähnlicher werden. Insofern bleibt er an „Nazaret“ orientiert, so sehr sich die Orte, die Umstände, die Art des Lebens deswegen ändern. Er bleibt unterwegs, sein Leben lang; zu allem bereit, wie die Situation und das Verweisen auf Jesus es erfordern. Er tut, was er für sich als möglich erkennt, was die Umstände erlauben oder eröffnen. Er tut, was er kann. Er arbeitet nicht einen Plan oder ein Programm ab, nicht eine Idee oder Vorstellung. Er wird von der eigenen Suche – nach Größe, nach Liebe, später nach Gott und Jesus, mitten un­ter den Menschen – bewegt.

Er hat selbst Jesus, nachdem er ihn schon als Schüler, in der ersten Phase des Selberdenkens, verloren hat, neu entdeckt, genauer: Er hat entdeckt, dass und wie Jesus ihn sucht, entdeckt, bewahrt, geführt hat, ihn will. Der Glaube, der bei ihm nie zu einem erwachsenen Glauben geworden war, sondern verloren ging, geht ihm in Wert und Bedeutung im Staunen über den Glauben und die Anbetung Gottes bei den Muslimen wieder auf. Er kann sich als Offizier in seinem Herzen von den gemeinen, dazu muslimischen und der eigenen Kultur fremden Soldaten auf etwas auf­merksam machen lassen, obwohl doch die Franzosen sie gerade unter­werfen, ausbeuten, verachten. Er kann es noch nicht benennen, fassen, aber spürt etwas. Obwohl er es bekämpft und erobert, fasziniert ihn die­ses Land, faszinieren ihn diese Leute. Dieses innere Abenteuer wird ihm wichtiger als das äußere, kriegerische. Der Gedanke, doch wieder Soldat zu werden, kommt ihm später nie mehr. Die Menschen, denen er begeg­net, „nehmen ihn mit“ – in mehrfachem Sinn. Er lässt sich betreffen, er beginnt, ihre Sprache und Kultur zu lernen. Er will ihr Land genauer ken­nenlernen. Er lässt sich auf sie ein, durchaus (noch) im Abstand und Si­cherheitskreis der Forscher. Der Ehrgeiz oder die sich selbst beweisende Großtat, das verbotene Marokko zu erforschen, bringt ihm die neue Er­fah­rung, diesen Menschen im Guten wie im Bösen ausgeliefert zu sein, auf sie angewiesen zu sein, obwohl er doch alle Mittel zur Verfügung hat. Aber diese Mittel – Geld, Absprache, Lohnvertrag – können nur unter den für die anderen geltenden Bedingungen und Gesetzen wirk­sam werden. Nachher interessiert ihn nicht die Goldmedaille der Geo­gra­phischen Gesellschaft, sondern die Kultur der Berber und Araber, interessiert ihn die Herzlichkeit, die Wiederaufnahme in die eigene Familie und deren innere Gründe. Er möchte den inneren Quellen auf die Spur kommen. So möchte er Unterricht nehmen in der christlichen Religion – und lernt als Beginn in Beichte und Kommunion, die eigene Situation vor Gott zu bekennen, sich selbst zu sehen und ins Wort zu fassen, das Kommen Jesu und die Gemeinschaft mit Jesus, die dieser anbietet, anzunehmen. Er wächst langsam tiefer hinein. So kommt er von seiner Gottesfrage und Gottsuche zur Jesusnachfolge und Jesusge­meinschaft, wird er immer mehr Bruder Karl von Jesus. Er wird es, in­dem er Jesus entsprechend, so wie er es versteht, handelt und sein Le­ben bestimmt. Er wird Zeuge Jesu nicht einfach von außen her oder etwas bezeugend, sondern durch sein an der Verähnlichung zu Jesus ausgerichtetes Leben, das sich von Jesus bestim­men lässt und bestim­men lassen will. Als Antwort auf die erfahrene Liebe wird sein Leben, seine Person, in der Art, wie er lebt, zu einem Zeugnis für Jesus. Seine Briefe und Betrachtungen spiegeln das deutlich. Auch das Motto, das sich herausschält, und sein Logo auf Briefen zeigen es: Jesus Caritas, d. h. Jesus Liebe, mit dem Herz und Kreuz als Symbol. In seiner Person, als Charles de Foucauld, wird er Zeuge.

Der Eintritt bei den Trappisten ist ein Schritt seines Weges, nicht einfach der Weg selbst. Der Austritt von den Trappisten, um noch ärmer Jesus in Nazaret zu folgen, ist der nächste Schritt auf diesem Weg, nicht der Weg selbst. In seiner Zeit als Dienstbote der Klarissen in Nazaret vertieft er sich ganz in Person und Leben Jesu anhand der Evangelien. Jesus wird zum bien‑aimé, zum Vielgeliebten, Herzensgeliebten, auf den er sich ganz ausrichtet, von dem er sich ganz bestimmen lässt. Das gilt auch dann, als er deswegen auf bisher für unmöglich gehaltene Gedanken und Schritte kommt, nämlich Priester zu werden, damit er Jesus zu den Men­­schen bringen und eine Gemeinschaft für diese Aufgabe, die Klei­nen Brüder Jesu, gründen kann. Es ist sein Ideal von Nazaret, das Leben mit dem verborgenen Jesus, das ihn von Nazaret wegholt, nicht von Jesus, und ihn zu etwas für ihn Unvorstellbarem, viel zu Hohem führt: Priester und Missionar zu werden.

Als solcher bleibt er mitten unter den Menschen. Er baut sich in Beni Abbès in einer einsamen Senke und doch in Reichweite der Garnison und Oase eine Kapelle mit drei Zimmern und einem Gastraum. „Das Ganze wird sich Khaua, Bruderschaft, nennen, denn Bruder Karl ist Bru­der aller. Bitten Sie Gott, dass ich tatsächlich der Bruder aller Menschen hier im Land werde!“ (110 f.). Er braucht den Raum der Einsamkeit für das Gebet, und zugleich sucht er die Begegnung mit jedem Menschen dort, nicht nur den Landsleuten, dem Militär. Er empfängt nicht nur alle und dient nicht nur allen, die kommen; er dreht für sich die Perspektive um: „Ich möchte alle Bewohner – Christen, Muslime, Juden – daran ge­wöhnen, in mir ihren Bruder zu sehen, den Bruder aller. Man beginnt, das Haus ‚fraternité‘ zu nennen, und das ist mir lieb“ (7.1.1902, an Marie de Bondy). Offiziere, Soldaten, viele Araber, Berber, Tuareg, Arme, Durchreisende, Kranke, Sklaven kommen ihn besuchen, so zahlreich, in­tensiv und bedürftig, dass er den für sich entworfenen Tageslauf nicht einhalten kann und zugunsten der Menschen verändert. So wird er es auch in Tamanrasset halten. Die Einsiedelei im Hoggar baut er an den Kreuzungspunkt der Nomadenwege, um von ihnen besucht werden, mit ihnen in Kontakt kommen zu können. Auf den langen Märschen mit dem Militär nach Süden und durch die Oasen sucht er immer wieder die armen Bewohner dort auf, schenkt ihnen etwas, stellt den Kontakt her. Militärs, Forscher und Besucher kommen gern zu ihm, denn er weiß sich auf sie einzustellen, sie zu unterhalten, ohne seine eigene Position (als Christ, „Einsiedler“, Missionar) zu leugnen. Dabei beeindruckt er alle durch seine Aufmerksamkeit, seine présence, sei es im Gespräch, bei Verhandlungen, bei der Feier der Messe.

Was ist der Kern seines Weges, seiner Art? „Jesus hat mich für immer zum Leben von Nazaret bestimmt. Das Leben als Missionar oder in der Einsamkeit sind für dich wie für ihn nur Ausnahmen […] Wünsche dir die Gründung der Kleinen Brüder und Kleinen Schwestern vom Herzen Jesu. Folge ihrer Regel so, wie man einer Wegweisung folgt, ohne dir daraus eine strenge Pflicht zu machen“ (150).

Im Umgang mit den Tuareg merkt er bald, dass eine direkte Verkündi­gung keinerlei Erfolg haben wird und auch nicht angebracht ist, nicht nur weil sie Muslime sind, sondern weil sie auf einem einfachen religiösen Niveau leben, das vom Islam nur oberflächlich berührt ist. So spricht er einerseits über religiöse Dinge nur so weit, wie sie ihrem Fragen und ih­rer Glaubenssituation zugänglich und zuträglich sind, z. B. über Gast­freundschaft, Ehrlichkeit, Hilfe für den Nächsten, Gebet; und anderer­seits wird ihm klar, dass er sich in einer Situation der Präevangelisierung bewegt, in der die Herzen für die Aufnahme des Evangeliums erst bereit, ja urbar gemacht werden müssen. Von Praeparatio evangelica sprach die Alte Kirche, von der Vorbereitung der Evangelisierung, für die Menschen erst aufnahmebereit und -fähig gemacht werden müssen. Deshalb lernt er intensiv die Sprache der Tuareg, sammelt ihre Lyrik, ihre Erzählungen und Lieder, arbeitet intensiv an einem Wörterbuch Tamaschek‑Franzö­sisch und Französisch‑Tamaschek, um den nachfolgenden Missionaren die Arbeit zu erleichtern, um Zugang zu den Menschen zu gewinnen und zu schaffen. Diese Arbeit an der Sprache als dem Tor zu den Menschen wird zu seiner Hauptarbeit, in die er sich völlig hineinbegibt. Aber er bekehrt niemanden wirklich, er kann nur einen freigekauften Sklaven taufen, der zwischendurch sogar davonläuft.

Er sucht Brüder und Schwestern, die seine Anfänge und die Botschaft weitertragen, aber es kommt keiner. Da beginnt er sich innerlich auf Laien umzustellen, die als Kaufleute, Ingenieure, Lehrer, Helfer einer­seits die Geschäfte der Araber übernehmen, aber eben ohne die Leute zu betrügen, und andererseits die Entwicklung anstoßen und vorantreiben. Es geht ihm nicht um Orden als Orden, sondern um die Menschen in der Wüste; dazu sucht er Christen als Christen, gleich ob Laien oder Ordens­leute. So gründet er die „Association“, zunächst als Gebetsgemeinschaft unter Kontemplativen, aber auch mit Laienmitgliedern, mit dem Ziel des Gebetes und der Gewinnung von Helfern und Mitarbeitenden, gera­de als normal arbeitende, ihren Lebensunterhalt selbst verdienende, überzeugende Christen. Die Laien fungieren dabei nicht als Ersatz für Ordensleute, sondern als Zeugen Christi im Alltag und durch ihr Leben. De facto werden sie zu vollwertigen Missionaren „aufgewertet“, heißen aber nicht so, arbeiten auch nicht direkt missionarisch, sondern indirekt, als Beispiel, das anstecken kann. Als Menschen, die wie er, Foucauld, im normalen Alltagsleben Christen erleben lassen, ohne dass es die Leute recht merken, aber eben doch den Glauben, die Motivation der Christen, in und durch ihr Leben erleben lassen. Sozusagen implizites, nicht direk­tes Zeugnis.

Er weiß, dass die Leute nicht ewig unterworfen bleiben werden, sondern zu Partnern der Franzosen werden müssen. Diese Verantwortung der Ko­lonialherren für die von ihnen eroberten Völker spürt er sehr genau und verpflichtend. Auch die Sklaverei lässt ihm keine Ruhe, er kritisiert sie öffentlich und kritisiert dabei deutlich seine eigenen Landsleute, de­ren Inkonsequenzen, ja, Frankreich als Republik. Aber was er erreicht, geht über den Loskauf einiger weniger nicht hinaus.

Seine eigene „Methode“ der Mission ist sehr unkonventionell und unüb­lich. „Ich bin sehr glücklich. Beten Sie darum, dass ich für Jesus ein lie­bender und treuer Gefährte sein kann“ (29.10.1901, an seine Cousine Marie de Bondy). D. h. er bringt durch die Eucharistie, durch Jesu Gegen­wart, Jesus in die Gegenwart der Menschen. Dabei wird er selbst zur „Monstranz“, durch die sie auf Jesus verwiesen werden. Er braucht sel­ber die Gegenwart und Gemeinschaft mit Jesus. Genau das, was er ent­deckt hat und braucht, will er durch sein Leben den Menschen vermit­teln, zugänglich, erlebbar machen. Daher auch die Verähnlichung mit Jesus – damit sie in ihm und durch ihn Jesus entdecken –, eine Verähnli­chung, die auf Dauer immer diskreter wird.

Was hat er erreicht? Eigentlich nichts, er hat keine Bekehrungen vorzu­wei­sen. Hat er sich nicht fruchtlos gemüht, ist nicht alles vergeblich ge­wesen? Dagegen hält er sich an Jesu Satz vom Weizenkorn: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,24). Es gibt tatsächlich einen unerwarteten, aber nicht wahrnehmbaren und nicht wirksam werden­den Erfolg. Als er stirbt, denkt er nicht, dass die unbekehrten Tuareg in die Hölle kommen; und auch die Tuareg glauben nicht, dass der ungläu­bi­ge Marabut – wie nach islamischem Glauben anzunehmen – in die Gehenna muss. Sie hoffen nicht nur, dass er in den Himmel kommt, sondern sie glauben es sogar und drücken diese Überzeugung in ihrem Beileidschreiben an die Familie aus. Innere Veränderungen hat es gege­ben, bei ihm, beim Chef der Tuareg und manchen von ihnen. Aber es hat damals keine Folgen. Die Folgen zeigen sich erst viel später, als die Grün­derin der Kleinen Schwestern Jesu tiefe Freundschaft mit Nomaden, mit Muslimen findet und schließt, ihr Leben und das ihrer Schwestern in einer speziellen, ausdrücklichen Hingabe den Brüdern und Schwestern im Islam weiht. Bei Foucauld und dann Louis de Massignon liegen die Anfänge einer neuen, anderen Haltung der Christen zu Muslimen.

In der Aufnahme der Ideale und konkreten Verhaltensweisen von Foucauld durch die 20 bis 30 Jahre nach seinem Tod entstehenden Kleinen Schwestern und Brüder verändern sich bei ihnen Gestalt, Praxis und Motivation von Ordensleben signifikant und geben Impulse für ei­nen neuen Stil und ei­ne neue Art von Ordensleben, vor allem vor, mit und direkt nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, nämlich in kleinen Gruppen mitten unter den Armen zu leben und von der eigenen Handar­beit in Fabriken in Solidarität mit den Arbeitenden sein Leben zu führen. Auch hier werden die Früchte erst nach dem Tod des Weizenkorns reifen.

Was könnte Foucauld für eine Situation der Konfessionslosigkeit und Indifferenz bedeuten?

  1. Charles de Foucauld entscheidet sich dazu, zu den Verlassensten zu gehen. Darunter versteht er die Menschen, die Jesus nicht ken­nen. Ihnen will er Jesus bringen. Jesus ist für ihn nicht vorrangig eine historische, religiöse Person oder Name, Programm oder Me­thode, sondern sein „Vielgeliebter“. Diese Liebe bestimmt sein Ver­halten, macht ihn ausdauernd und erfinderisch, bringt ihn den Men­­schen nahe und macht ihn fähig, ihr Bruder zu werden, zum Bruder eines jeden zu werden, ohne sich und Jesus zu verraten. Paulus nennt das: allen alles werden, um einige zu gewinnen. Das ist kein Rezept, sondern ein Lebensweg – um Jesu und der ande­ren willen. Es gibt ungeheure Flexibilität aus entschiedener Orien­tierung. Es achtet die anderen, die Adressaten, in ihrer Iden­tität und ihrem Lebensweg und eröffnet ihnen zugleich neue Spielräume: Spielräume mit Foucauld und durch ihn mit Jesus. Dabei bietet Foucauld an, was er selber emp­fangen hat und wo­von er selbst lebt; und er sucht, was er von den Adressaten empfangen kann. Das Sprachstudium ist nicht nur Mittel zum Zweck der Mission, sondern auch Ausdruck der Achtung vor den Tuareg und ihrer Kultur. Die Botschaft soll in ihrer und gemäß ihrer Erfahrungs- und Ausdruckswelt zu ihnen kommen, sich auf sie und ihre Kultur einlassen. Es ist ein Weg, das Evangelium neu sagen zu lernen, ihm einen neuen Lebensraum, eine neue Spra­che zu erschließen (linguistisch, im Verhalten, in Werten, in Gemeinschaft).

  2. Foucauld lebt selbst von der Gegenwart Jesu und seiner Präsenz vor Jesus. Diese Gegenwart Jesu möchte er vermitteln: nicht nur als das angebotene Eigene, sondern von Jesus selbst her, der der eigentlich aktive, durch Foucauld gegenwärtig werdende Missio­nar ist, der seinerseits die Menschen sucht, weil er unter und mit ihnen leben will. Hier wäre das Stichwort vom „letzten Platz“ einzufügen, den Foucauld einzunehmen versucht, nicht um mit Jesus gleichzuziehen, sondern um ihm diesen letzten Platz unter den Menschen offen zu halten bzw. ihn diesen einnehmen zu lassen (damit Jesus selbst von da aus alles neu aufrollen kann). Sind die Säkularisierten und Indifferenten/Konfessionslosen heute die im Sinne Foucaulds verlassensten Menschen?

  3. Woher nimmt Foucauld die Kraft, in der offensichtlichen Vergeb­lichkeit und Erfolglosigkeit auszuhalten? Am ehesten aus seiner Liebe zu Jesus und zu den Tuareg. Kalkulatorisch um des missio­narischen Gewinnes willen ist sein Verhalten nicht zu verstehen. Er überlässt den „Erfolg“ Jesus und sieht nicht einmal, wie er aussehen könnte. Er richtet sich auf Zeiträume von Jahrzehnten, gar Jahrhunderten ein.

  4. Foucauld ist der Überzeugung, dass eine Zivilisierung der Christi­anisierung vorangehen muss. Die Zivilisierung hat auch den Ton der Humanisierung, der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung – natürlich nach französischem Modell. Aber das Mo­­tiv dafür ist die Verantwortung der Franzosen, die von ihnen eroberten Völker zu missionieren, sie zu erziehen, um sie als Brü­der annehmen zu können. Sind die Franzosen zu dieser kommen­den Gleichberechtigung nicht bereit, werden sich die Völker ge­gen ihre Herrschaft auflehnen. Foucauld versteht diese Herrschaft als Dienst an den Völkern, als apprivoisement (sich vertraut ma­chen). Das ist die politische Dimension des „Bruder aller wer­den“.
    Sind wir heute zu einer solchen, kommenden Gleichberechtigung mit anderen Menschen und anderen Kulturen bereit? Sehen wir andere als „kommende Brü­der“, die uns (deswegen) heute als ihre Brüder erfahren sollen? Wollen wir lernen, ihnen Bruder zu werden (damit sie unsere Brüder werden können)? Stellen wir sie nicht lieber auf uns ein als uns auf sie?

  5. Foucauld war in der Sahara eigentlich immer der Gebende – bis er in der Trockenheit und eigenen Hilflosigkeit auf die Hilfe und das Handeln der Tuareg angewiesen ist. Er muss und darf empfangen. Da wird aus Großzügigkeit und Zuwendung eine Gegenseitigkeit, jedenfalls in Ansätzen, wenn auch nie vollständig oder durchge­hend. Damit eröffnet sich ein neues Verhältnis zu den Tuareg. Es entstehen wirkliche Freundschaften, wirkliche Gegenseitigkeit. Daraus erwächst nicht nur eine neue Sicht des Anderen, sondern eine neue Sicht auf die eigene Situation, den eigenen Glauben, den eigenen Gott.
    Lassen wir uns als Christen auf die Angewiesenheit auf die Säku­laren, die Konfessionslosen ein, ohne die wir unsere eigene Situa­tion und uns selbst in unserer Lage nicht verstehen können? Ge­hen wir das Risiko der Freundschaft mit ihnen ein, nicht nur einer missionarischen Zweckfreundschaft, sondern einer Freundschaft in Gegenseitigkeit, die auch uns verändert, die unser Leben mit ihrem durchdringt, uns mit ihnen in Austausch bringt? Glauben wir, dass wir die Indifferenten brauchen, um heute authentisch Christ sein zu können – nämlich mit ihnen? Können wir ohne sie und gegen sie authentisch Christen sein?

  6. Foucauld suchte anfangs Ordensleute für seine Aufgabe und für eine Gemeinschaft in dieser Aufgabe. Deren Nichtkommen lässt ihn erkennen, dass auch und gerade Laien diese Aufgabe von Be­gegnung und Entwicklung und Zeugnis für ein christliches Leben gut übernehmen könnten – vielleicht im Alltag und für den Alltag sogar besser als Ordensleute. Und er schreitet zur Tat, als er das erkennt. Schreiten wir zur Tat, wenn es um die Anerkennung, Er­öffnung und Einladung zu der möglichen und nötigen Rolle der Laien für das Zeugnis eines christlichen Lebens im Alltag unserer Welt geht? Und von daher um glaubwürdiges Christsein und glaubwürdigen Einsatz für die Menschen und ihre Welt? Je säku­la­rer und indifferenter die Menschen werden, umso wichtiger wird die Rolle christlich glaubwürdiger Laien – nicht als Notlösung für fehlende Priester, sondern als Zeugen Christi auf ihrem urei­genen Feld der Durchdringung der Welt mit dem Geist des Evan­geliums! Was wird der Klerus von und mit ihnen lernen?

  7. Wie ist der Gott Jesu Christi unter den Bedingungen eines Glau­bens an einen anderen Gott als den Gott Jesu Christi zu bezeugen (interreligiöse Situation!)? Es ist dann nicht die Frage, ob jemand glaubt, sondern an welchen, d. h. konkret an wessen, Gott. Diese Konstellation gibt den Zeugen einen ganz neuen Stellenwert für den Glauben und seine Glaubwürdigkeit. Deswegen bekommt die Orientierung Charles de Foucaulds an Jesus, um als Kleiner Bruder Jesu sein Zeuge zu sein, in Verähnlichung mit ihm, ein ganz neues Gewicht für ein inter‑religiös glaubwürdiges Zeugnis für den Gott Jesu Christi und für die aus diesem Glauben entste­hende Glaubensgemeinschaft, die Kirche. Dann gehört die Orien­tierung an Jesus (die nicht einfach als Imitatio, sondern als Seque­la, als Nachfolgen in der Kraft des Geistes Jesu funktioniert) heute mit neuem Gewicht in das christliche Zeugnis hinein.