Hiphop und Religion
Ein Interview mit amerikanischen Religionswissenschaftlern und einem deutschen Philosophen
euangel: Was hat Sie dazu bewegt, sich dem Thema Religion im Hiphop zuzuwenden? Und für unsere Leser, die sich mit Hiphop nicht auskennen: Was sind die wesentlichen Kennzeichen von Hiphop?
Monica Miller: Als Religionswissenschaftler interessiert uns die Frage, wie (und mit welchen Absichten, Mitteln und Zielen) religiöse Vorstellungen, religiöse Sprache, soziale, kulturelle und menschliche Interessen sowie theologische und metaphysische Kategorien in der Gesellschaft funktionieren. Offensichtlich erfordert ein solches Interesse ein hohes Maß an Aufmerksamkeit für die Erfahrungen der Hiphop-Kultur, weil eine Fülle von traditionell als religiös definierten Themen, Kategorien und Begriffen vielfach von deren Künstlern in ihrem kulturellen Schaffen benutzt wird. Wenn man sich auf den Hiphop in den USA und seine dortigen Entwicklungen bezieht, trifft dies in besonderen Maße zu, insoweit hier religiöse, theologische und existenziell-philosophische Themen und Sprache allzeit Bestandteil der grammatischen und ästhetischen Techniken der Hiphop-Kultur waren. In dieser Hinsicht sind die Beispiele zahlreich, ja schier endlos – so etwa Afrika Bambaataa (Universal Zulu Nation) und später die Gründung des Temple of Hiphop durch KRS-One. Andere bedeutende und prägende religiös-philosophische Einflüsse ergeben sich unter anderem durch die Auswirkung des Schwarzen Islam (durch die Rhetorik des Schwarzen Nationalismus im Allgemeinen und der Nation of Islam im Speziellen) – spezifischer der Art und Weise, in der die Lebensphilosophie der Nation of Gods and Earths (auch genannt die „Five Percenters“ oder „5%ers“) eine beständige kosmologische Architektur bot, die innerhalb der Songtexte des Rap und der weiteren Sprachlehre des Hiphop eingebunden wurde (und wird), zum Beispiel „Peace, God!“, „God Body MCs“, „What up, G?“ (wobei hier „G“ sowohl für „gansta“ als auch für „God“ steht/stehen kann) und „There’s a God on the mic“. Diese Trends und Tendenzen setzen sich heute in einer großen Bandbreite fort und sind explizit oder implizit (z. B. codiert) ein wesentlicher Bestandteil der kulturellen Kartographie des Hiphop, seines Wortschatzes, Stils und seiner streitbaren weltweiten Attraktivität.
Christopher Driscoll: Als ein jüngeres Beispiel ist heute etwa einer von Kanye Wests größten Hits, der Schlager „Jesus Walks“, zu nennen; in ihm erinnert West seine Zuhörenden: „hier also kommt sie; diese Single ist das, was das Radio braucht; sie sagen, dass du über alles rappen kannst, außer über Jesus“ – „alles“ wird hier von West als Inhalte über „Waffen, Sex und Drogen“ ausgeführt – bevor er dann fragt: „Aber wenn ich in meiner Platte von Gott spreche, wird sie nicht gespielt, was?“ Die Ironie besteht freilich darin, dass es West nicht nur gelang, den Song ins Radio zu schleusen, sondern dass – in typischer West-Manier – der Song ein sofortiger Erfolg war. Dies sagt nicht so sehr etwas darüber aus, wie das Einschleusen von religiösen Inhalten in einer zunehmend säkularisierten Welt erfolgreich sein kann, sondern vielmehr über den Reiz, den Einfluss, die Macht und das Gewicht, die dem Hiphop einzigartig sind. Wir scheinen uns daran gewöhnt zu haben, zu argumentieren, dass das Erforschen gegenwärtiger religiöser Ausdrucksformen und Erscheinungen (in den USA und weltweit) es erfordert, für die Gegebenheiten des Hiphop aufmerksam zu sein. Zumindest dann, wenn wir daran interessiert sind, die Rolle, Art und Auswirkung von Kultur und ihres Verhältnisses zu/mit wechselnden Landschaften, Kosmologien, Weltanschauungen und Ausdrucksformen zu untersuchen und zu verstehen. Landschaften, Kosmologien, Weltanschauungen und Ausdrucksformen, die sich entweder explizit religiöser Terminologien bedienen oder, subtiler, bedeutenden internationalen, ja weltweiten Reiz wecken und ausüben. Unterhalb der Oberfläche bietet der Hiphop ein Schaufenster, durch das man in die große Brandbreite von theoretischen und methodologischen Belangen, die die Kategorie Religion betreffen, blicken kann. Um zu Kanye West zurückzukehren: Etwa zehn Jahre nach der Veröffentlichung von „Jesus Walks“ benennt er sein Album von 2013 mit dem Namen „Yeezus“ und fügt ihm den (sehr erfolgreichen) Titel „I Am a God“ bei. Auf grundlegender politischer Ebene sucht das Lied absichtlich den Streit und entfaltet eine entschlossene Konfrontations- und Direktheitsästhetik (wörtlicher: In-your-face-Ästhetik; d. Übers.), welche wir mittlerweile vom Hiphop erwarten. Doch tiefergehend spiegelt West einen Trend innerhalb des Hiphop wieder, religiöse Rhetorik neuartig auf eine Weise einzusetzen, die gleichzeitig Annahmen über ihre Auffassung, was soziale Arbeit ihrer Meinung nach tut, infrage stellt als auch Wissenschaftlern (und der breiteren Öffentlichkeit) einen Anlass bietet, um darüber nachzudenken, auf welche Weise solche Rhetorik wie auch religiöse Rituale mit gesellschaftlichen Verhältnissen, Unterschiedlichkeit, gesellschaftlicher Gestaltung und Prozessen und Identitätsentwicklung im Allgemeinen zu tun haben. Dergestalt wird Wissenschaftlern durch Untersuchung der sozialen Implikationen und des strategischen Einsatzes von religiösen Themen und ihrer Rhetorik durch Hiphop-Künstler ein neues Feld gegeben, durch das sie über langwährende Themen und Debatten auf dem Feld der Religion, Theologie und sogar Philosophie nachdenken können. Dies spiegelt sich in Thematiken wie: heilig und profan; Hybridität, Synkretismus und Ursprung; Unterdrückung und Macht; Leben und Tod; Bedeutung und Bedeutungslosigkeit; Kapital, Interessenvertretung und Regulierung – ebenso wie in der Thematik der Bildung und des Einsatzes von Identität und Identifizierung in sich verändernden historischen Kontexten und Kontingenzen.
Monica Miller: Schließlich verbindet sich die Hiphop-Kultur mindestens noch auf eine weitere Weise mit der Religion. Für viele Hiphop-Künstler und ‑Anhänger ist Hiphop Religion. Damit meinen wir, dass Hiphop die Art und Weise ist, wie sie (Künstler, Produzenten und Konsumenten in gleicher Weise) in der Welt für sich Sinn konstruieren; wie sie sich selbst und ihren Platz in der globalen Landschaft verstehen. Ein gutes Beispiel hierfür ist KRS-One, der in den letzten Jahren sogar eine Art Bibel geschrieben hat, genannt The Gospel of Hip Hop (Das Evangelium des Hiphop; d. Übers.). In diesem Text führt KRS-One im Wesentlichen eine Theologie des Hiphop aus und wendet sich dem Hiphop in seinen zentralsten Elementen zu: erstens dem Rap, zweitens dem DJ, drittens Graffiti, viertens B‑Boying/Breakdance und fünftens Weisheit. Man kann sich diese Elemente als die essentielle Charakteristik des Hiphop vorstellen. Sie helfen jenen innerhalb und außerhalb ihrer Kultur, die Kultur selbst zu definieren. Diese Elemente sind für viele eine Art Ritual, Dogma und Liturgie geworden, welche die Hiphop-Kultur als eine bestimmte Weise umreißt, dem Selbst und dem Anderen einen Sinn zu geben, sowie um den Bedarf an materiellen Ressourcen in der Weltgesellschaft zu steuern. Solchermaßen ist Hiphop in vielerlei Hinsicht und für viele innerhalb der Hiphop-Kultur eine Art neue Religion und religiöse Option geworden.
euangel: In welcher Form zeigt sich Religion im Hiphop? In welcher Hinsicht wird hier, wie Sie formulieren, „das Wort Fleisch“?
Christopher Driscoll: Im Hiphop spielen Körper eine Rolle, sie werden zelebriert, betrauert und angefragt. In diesem einfachen Sinn wurde die Fleischwerdung des Wortes – als eine Inkarnation schwarzer und lateinamerikanischer Subjektivität und Humanität – zu großen Anteilen dank der Phänomene der Hiphop-Kultur möglich gemacht. Hiphop, auch wenn er über die schwarzamerikanische Kulturproduktion hinausgeht, kann nicht von seinen historischen Wurzeln in schwarzamerikanischer Erfahrung getrennt werden. Es ist die Erfahrung, in tragischer Hinsicht, als Drei-Fünftel-Person, als Sklave, nur halber Mensch angesehen worden zu sein. Trotz dieser tragischen Geschichte bietet Hiphop aus Sicht einer theologischen Anthropologie bzw. einer für die Inkarnation sensiblen Theologie eine großartige Möglichkeit für eine Verkörperlichung und rhetorische Inkarnation vollen Personseins für Schwarze und andere marginalisierte Amerikaner. Und dieser Hintergrund ist einer der Gründe – so denken wir –, warum sich so viele überall auf der Welt, die andere (aber ähnlich repressive) Geschichten und Lebenssituationen erfahren haben, von Hiphop angesprochen fühlen.
Monica Miller: In technischer, theologischer Sprache entfaltet sich diese Hiphop-Inkarnation auf mehreren Wegen: Durch existenzielle Konfrontation mit dem scheinbar endlosen Leid in der Welt; durch eine Tillichsche Wendung zur Kultur als Religion; und durch die schon genannte Betonung von Verkörperlichung, Personsein und Gemeinschaft – ohne die eine (Hiphop-)Zusammenkunft (cypher; d. Übers.) nicht möglich ist. Insbesondere aber auf jene Weise, dass die verschiedenen Betonungen auf den Körper eine Art kultureller und künstlerischer Reinigung (Katharsis) ermöglichen. Zugleich helfen sie, engstirnige und unkritische Annahmen infrage zu stellen, dass (so etwas wie) Religion automatisch Befreiung, Freiheit und Gerechtigkeit verheißt. Dem Werk amerikanischer farbiger Theologen und Gläubiger wie Delores Williams und Anthony B. Pinn folgend sind und waren Religion und Theologie niemals auf Befreiung, sondern vielmehr auf Überleben ausgerichtet.
euangel: Was sind die Unterschiede zu institutionalisierter Religion, etwa in den Kirchen/Denominationen? Brauchen wir ein neues Verständnis von Religion – und wenn ja, welches?
Monica Miller: Wir beide haben zu Diskussionen, die diese beiden Fragen beinhalten, Beiträge geliefert. Für mehr zu dem Thema mögen sie deshalb Miller, Religion and Hip Hop (Routledge 2012), und CERCL, Breaking Bread, Breaking Beats (Fortress Press 2014), heranziehen. Aber, um eine kurze Zusammenfassung zu geben: Einer der Hauptunterschiede zwischen Hiphop-Kultur und Verwirklichungsformen von christlichen oder monotheistischen religiösen Kulturen und Institutionen liegt in dem Unbehagen, das Hiphop mit Scheinheiligkeit hat, und seiner daraus folgenden Neigung, Scheinheiligkeit zu entlarven. Wir wissen sehr gut, dass religiöse Institutionen nicht ohne Fehler sind. Und ein ähnlicher Ruf ereilt die angebliche Verherrlichung von Gewalt und Frauenverachtung durch Hiphop. Der Unterschied jedoch betrifft die Art und Weise, in der die Hiphop-Kultur nicht vorgibt, auf dem Standpunkt moralischer Überlegenheit zu stehen. Wir denken hier an Beispiele wie die Lieder „No Church in the Wild“ oder Tupac Shakurs „Blasphemy“, oder jüngeren Datums: Ras Kass’ „How to Kill God“. Diese Lieder sind starke Kritiken von institutioneller Religion auf der Grundlage, dass die Institutionen sich „heiliger als du“ benehmen. Für viele im Hiphop liegt das Problem mit institutioneller Religion darin, dass sie entweder Rechtfertigung oder menschliche Sündhaftigkeit überbetont. Hiphop ist da vielschichtiger und weiß mit der Ambiguität der menschlichen Erfahrung besser umzugehen. Mit dieser Einschätzung ist Hiphop eine Art verkörperte existenzielle Religion der Enteigneten – derjenigen, die von Kirchen ebenso wie von Staat und Nation oder Kapitalismus vergessen oder geschädigt wurden.
Neben dieser intensiven Konfrontation mit Scheinheiligkeit ist Hiphop zu heterogen, um weitere konkrete Unterschiede aufzuweisen. Aber vielleicht können wir die Ähnlichkeiten diskutieren. Wenn Hiphop und institutionelle Religion durch und durch „eminent“ (um sich an Durkheim anzulehnen) sozial sind, dann haben sie, durch die Werte der Menschen, die diese Gemeinschaften bilden, eine Menge gemeinsam. Rituale spielen für die Identitätsbildung in beiden (Hiphop als auch Religion; d. Übers.) eine Rolle; bestimmte Vorstellungen und Artefakte werden von beiden als „heilig“ behandelt. Ethik und Moralität mögen sich sehr unterschiedlich ausdrücken, aber, wie wir entdecken, wird Moralität auf sehr ähnlichen Wegen festgelegt und organisiert, und sogar das Webersche Konzept von Charisma wirkt sich im Hiphop sehr ähnlich aus wie in institutioneller Religion.
Christopher Driscoll: Wie wir früher schon bemerkten, erfordert Hiphop (vom Religionswissenschaftler, aber auch vom Nicht-Religiösen) eine Neuaushandlung dessen, was wir mit Religion bezeichnen. Wir sind dazu übergegangen, Religion als soziale Formung und Prozess anzusehen, das bedeutet: die Sache, die uns sagt, was wir tun sollen und was wir sind, unsere Identität. Allgemeiner: Die Zuwendung zum Hiphop hilft, unser Verständnis von Religion als Identitätsbildung zu weiten. Sich auf Identitätsbildung zu konzentrieren, im Gegensatz zu klassischeren Rahmungen für Religion (z. B. Institution oder Verhältnis zur Jenseitigkeit), hilft, die Bandbreite gegenwärtiger Belange und Themen von Interesse für uns alle zu verstehen. Bei Gewalt, Hass, Armut, Sexismus, Rassismus und anderen Belangen haben wir grundsätzlich ein Problem: dass wir nicht wissen, wie Differenz zu steuern ist und wie in einem geringeren Maße auch mit ihr zu leben ist. Und die Bilanzen der institutionellen Religionen sind nicht gerade ausgeglichen, wenn es darum geht, die Anhänger zu lehren, wie Differenz angenommen werden kann. Jesus mag gesagt haben: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“, aber historisch hatten religiöse Institutionen Schwierigkeiten, Menschen von der Wirksamkeit dieses ethischen Mandats zu überzeugen. Und wer ist der Nächste? Wer ist der Flüchtling? Wer ist der Migrant? Wer ist wirklich anders? Um das Thema in die aktuelle europäische Debatte über Flüchtlinge einzubetten, wir fragen uns: Hat Europa eine „Flüchtlingskrise“? Oder hat Europa eine „weiße Gastfreundlichkeitskrise“, also eine Krise mit der Tatsache, gerecht und menschlich mit Verschiedenheit zu leben? Indem wir Religion (und Hiphop) als Identitätsbildung verstehen, sind wir vielleicht besser gerüstet, um solche Schwierigkeiten ehrlich zu ergründen.
euangel: Hiphop ist eine in sozial unterprivilegierten Schichten entstandene Jugendkultur. In welchem Verhältnis steht Hiphop zur Black Church und ihrem Kampf für Freiheit?
Monica Miller: Eine gute und wichtige Frage. Viele in den Vereinigten Staaten sind am Verhältnis zwischen Hiphop-Kultur und den Kirchen der Schwarzen in Amerika interessiert. Es steht außer Frage, dass schwarze Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er eine prägende Rolle gespielt haben. Zu früheren Zeiten war die schwarze Kirche im Wesentlichen der einzige einigermaßen sichere bürgerliche und soziale Raum für Afroamerikaner, um sich zu versammeln und sich für politische Beteiligung zu organisieren. Kürzlich sind die BlackLivesMatter-Bewegungen (Schwarze-Leben-zählen-Bewegungen; d. Übers.) als eine neue Art des Bürgerrechtskampfes hervorgetreten; aber sie sehen sehr anders aus als unsere kollektive Erinnerung an schwarze Kirchen an den Frontlinien des Kampfes. Heutzutage sind einzelne schwarze Kirchen und viele ihrer Mitglieder in der Schwarze-Leben-zählen-Bewegung weiterhin sehr aktiv, aber der Ort der Organisation hat sich in zwei Richtungen verlagert. Eine ist die Hiphop-Kultur. Wir sehen, dass Hiphop-Künstler wie Tef Poe, Talib Kweli und J. Cole bemüht sind, Protestierende zu inspirieren und zu organisieren; in vielen Teilen der USA hat Hiphop – für viele Afroamerikaner – die schwarze Kirche als ein zentrales Vehikel für die Übertragung kultureller, sozialer und politischer Information abgelöst. Der berühmte Hiphop-Künstler Chuck D hat den Hiphop gar als „CNN for he hood“ (etwa „Tagesschau-Sender für den Kiez“; d. Übers.) bezeichnet, weil er meinte, dass er der Ort sei, an dem sich viele schwarze Leute aktuellen Ereignissen zuwenden. Der kulturelle Aufstieg des Hiphop hat Spannungen innerhalb der Kirchen erzeugt, insofern Kirchen häufig um junge Menschen aus einer Vielzahl von Gründen heraus besorgt sind; deren prominentester kommt als Anliegen von Moral und ethischer Tugendhaftigkeit verhüllt zum Ausdruck. Was wir tatsächlich erleben, ist eine Krise von Autorität, in der die schwarze Kirche daran arbeitet, ihre alte Autorität innerhalb der schwarzen Gemeinde zu erhalten. Doch diese vergangene Autorität war das Ergebnis eines Mangels an Räumen, in denen solche Autorität ausgedrückt und Subjektivität gefühlt werden konnte. Heutzutage gibt es, trotz der gegenwärtigen Attacken auf schwarze Körper, (vielleicht) mehr offene Korridore, in denen sich Schwarze subjekthaft ausdrücken können, und Hiphop bleibt der Dreh- und Angelpunkt dieser Räume.
Christopher Driscoll: Die Schwarze-Leben-zählen-Bewegung (BLM- Bewegung) ist weiterhin eine extrem inklusive Bewegung; zentrale Autorität wird aktiv abgelehnt, ebenso wird die Einschätzung verachtet, Rasse sei wichtiger als Geschlecht oder Armut sei tödlicher als Transphobie. Ein solcher Schwerpunkt auf Intersektionalität bedeutet dann zwangsläufig, dass (Rassen-, Geschlechts-, Gender-, Klassen- etc.) Unterschiede als solche wahrgenommen und undogmatisch gelebt werden. Solchermaßen wenden sich viele, die in der BLM-Bewegung involviert sind – insbesondere jene, die hinsichtlich der Form und des Ansatzes ihres sozialen Protestes nahestehen –, explizit kritisch gegen viele schwarze Kirchen, da Homophobie, Patriarchat, Wohlanständigkeit und die schon erwähnte Scheinheiligkeit noch sehr stark innerhalb dieser Kirchen (und anderer historisch bedeutender religiöser Sphären) virulent sind, so wie auch Rassismus, Sexismus und Homophobie/Transphobie in der breiten Gesellschaft virulent sind und wuchern.
euangel: Gibt es andere Szenen/Jugendszenen, wo Sie einen ähnlich intensiven, unkonventionellen Rückgriff auf Religion und religiöse Elemente erkennen?
Christopher Driscoll: Ja, absolut. Hiphop stellt lediglich einen anderen Ausdruck eines Trends dar, Bedeutung durch „säkulare“ Kultur zu erzeugen, den wir schon zwischen den Beatles-Fans und John Lennon beobachteten. Geleichzeitig war dies auch immer ein Merkmal marxistisch-leninistischer Ideologien und Staatsorganisationen. Hinzu kommt, dass heute in den Vereinigten Staaten viel über die „Nones“ (wörtlich: „Nichtse“; d. Übers.) – der Begriff für eine wachsende Gruppe religiös ungebundener und/oder „spiritueller, aber nicht religiöser“ Menschen – gesprochen wird. Junge Amerikaner mit unbekümmerter Affinität zu Hiphop stehen der institutionalisierten Religion wie traditionellen metaphysischen Gedankengängen kritisch gegenüber. Die „Nones“ werden ähnlich behandelt und bewertet wie die Kategorie der „religiös Indifferenten“ in Teilen Deutschlands oder anderswo. Eine Reihe von Problemen taucht mit diesen Kategorien auf. Einerseits ist es unglaublich schwer, „Glaube“ zu messen. Das andere ist, dass in der Konstruktion dieser Kategorien die Annahme steckt, dass etwas, das „religiös“ genannt wird, von etwas anderem, das „nicht-religiös“ oder „säkular“ genannt wird, unterschieden werden könne. Aber wenn unser Augenmerk auf Hiphop uns etwas lehrt, dann das, dass alles, was dies anzeigt, nicht eine Krise der Religion oder der Sinnfindung ist, sondern wiederum eine Krise der gesellschaftlichen Autorität, die die Kirche beansprucht. Wenn religiöse Institutionen einsehen könnten, dass „Institutionen“ stets nur zur Bewahrung von Autorität bewusst konstruiert wurden, dann könnten diese Institutionen möglicherweise eine bessere Grundlage für ihre Relevanz in den kommenden Jahren finden. Mit anderen Worten: In dem Maße, wie Rollenträger innerhalb der Institutionen oder in Leitungspositionen die Unverwechselbarkeit ihrer Rituale, Glaubensvorstellungen oder ihres Gemeinwesens postulieren, verhindern sie ihre eigene Entwicklung. Der große deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer und die Bekennende Kirche sind ein Beispiel dafür, zu verstehen, dass der einfachste Weg für diese Institutionen, belanglos zu werden, darin besteht, sich auf Kosten des Wohlergehens der Menschen auf das Wohlergehen der eigenen Institution zu fokussieren.
euangel: Worin liegen Ihrer Meinung nach die wesentlichen Unterschiede im Bereich Hiphop und Religion zwischen den USA und Europa? Was können wir in Deutschland von Ihren Erkenntnissen, die Sie in den USA gewonnen haben, lernen?
Monica Miller: Machen Sie keinen Fehler! Die USA können von Deutschland genauso viel lernen, wie wir Deutschland anzubieten haben. Hinsichtlich der Hiphop-Kultur: Der deutsche Hiphop trat mit einer offensichtlichen Distanz zur schwarzen und lateinamerikanischen US-Erfahrung auf, nichtsdestoweniger ist die Verbundenheit mit Menschen an den Rändern der Gesellschaft, die sich im US-Hiphop finden lässt, auch im deutschen Hiphop präsent. Und im Falle der häufigen Verherrlichung von Gewalt und Patriarchat, die sich bei einigen Vertretern des US-Hiphop finden lässt, ist auch manch deutscher Hiphop dazu übergegangen, Gewalt und Patriarchat zu verherrlichen. So sind vielleicht die Gemeinsamkeiten zwischen US- und deutschem Hiphop aufschlussreicher als die Unterschiede.
Über den Hiphop hinaus und in Bezug auf die USA und Deutschland allgemein gibt es viel, was wir auf dem Wege der Idee, wie Zusammenleben funktionieren kann, austauschen könnten (und sollten). Als Amerikaner waren wir, als wir Deutschland besuchten, immer sehr fasziniert von den „Stolpersteinen“, die überall im Land auf den Gehsteigen platziert waren. Die Deutschen scheinen ein starkes geschichtliches Gefühl zu haben und eine Erinnerung an die Abscheulichkeiten, die im Menschlichen fortdauern können. Und eine solche Erinnerung – wenngleich sie düster ist – ist erfrischend aufrichtig und ist weit entfernt von den fortwährenden Leugnungen von Rassismus, die die US-amerikanische Gesellschaft und Geschichte durchziehen. Auf der anderen Seite sind die Vereinigten Staaten in vielerlei Hinsichten der „Wilde Westen“, zumeist in negativer Hinsicht. Dennoch hat die fortwährende Konfrontation und Sorge Amerikas mit Fragen sozialer Identität unsere gemeinsamen Diskussionen über soziale Unterschiede vielfach stärker vorangebracht als den Rest der Welt, Deutschland (in vielerlei Hinsicht) eingeschlossen. Und so können möglicherweise die vergangenen (und fortlaufenden) Fehler der Vereinigten Staaten im Lichte dessen, was alles in Europa geschieht (steigende Fluten des Nationalismus und autoritärer Aktivität als Antwort auf sich verändernde Demografien), Deutschland und anderen Ländern in der EU (und der Euro-Zone im Besonderen) als Lehre dienen.
Christopher Driscoll: Im Sinne dieses Lernens fühlen wir uns an Cornel Wests (ein Vertreter des Amerikanischen Pragmatismus; d. Red.) unglaubliche Toni-Morrison-Vorlesungen an der Princeton-Universität vor einigen Jahren erinnert. Sie trugen den Titel: „The Gifts of Black Folk in an Age of Terrorism“ („Die Gaben des schwarzen Volkes im Zeitalter des Terrorismus“; d. Übers.). Das Leid der Schwarzamerikaner und des schwarzen Volkes weltweit ist vielleicht der größte Lackmustest der westlichen Hemisphäre hinsichtlich der Frage, wer oder was Europa oder die USA in den kommenden Jahrzehnten sein werden. Weder der Nationalstaat noch die religiöse Institution kann unsere kollektive Verantwortlichkeit für Sklaverei und Kolonialismus verbergen oder bestreiten. Viel von dem Durcheinander und der Unordnung, die wir heute sehen und erleben, ist direkt verwandt mit diesen langjährigen Grundpfeilern des modernen westlichen sozialen Lebens. Die Sache einer solchen postkolonialen Antwort und Durcharbeitung ist nicht neu, aber die Botschaft erscheint so wichtig wie eh und je. Die Werke von Denkern wie Gustavo Gutiérrez (Mitbegründer und Namensgeber der Befreiungstheologie; d. Red.) und James Cone (Fürsprecher einer schwarzen Befreiungstheologie; d. Red.) und des bereits genannten Cornel West könnten Erkenntnisse liefern, wie Kirchen und Gesellschaften für die kommenden Jahre gut gewappnet sind. Die schwarzamerikanische Erfahrung und deren Erlebnisse mit der Moderne und den allgegenwärtigen Ausgrenzungen des Kolonialismus sind eine Autorität, mit der die Kirche befasst sein sollte.
euangel: Haben Sie – von Ihrer Wahrnehmung her – einen Rat für die Kirchen in Deutschland – gerade angesichts solcher nicht-institutionalisierter Formen von Religion wie im Hiphop?
Christopher Driscoll: Im Jahr 1903 hat der afroamerikanische Soziologe W. E. B. DuBois die schwarzamerikanische Erfahrung durch eine Frage charakterisiert: „Wie fühlt es sich an, ein Problem zu sein?“ Auf vielerlei Weise ist das „Problem“, als das DuBois die Afroamerikaner beschrieben hat, aufschlussreich für das zeitgenössische Nordamerika, und für Deutschland ebenfalls. Durch die letzten vierhundert Jahre hindurch haben Europäer und Euro-Amerikaner versucht, das Problem zu lösen, indem sie schwarze (und lateinamerikanische) Menschen zum Problem gemacht haben. Schwarze und lateinamerikanische Menschen wurden genötigt, die Last der weißen technologischen Entwicklung, Gesellschaftsbildung und sogar Demokratie, Liberalismus und stellvertretende Regierung selbst, die grundlegenden Kennzeichen des Westens, zu tragen. Heute spürt der Westen die soziale und psychologische Unsicherheit, vor der zu bewahren diese Innovationen entworfen worden waren. Doch diese Entwürfe versteckten nur diese Unsicherheiten. Sie lösten sie nicht auf. Vielleicht ist der Versuch, ohne Lebensentwurf zu leben, die einzige Art von „Lebensentwurf“, der für deutsche und US-Bürger gleichermaßen gilt. Vielleicht müssen wir hieraus die Konsequenz ziehen, anzuerkennen, dass wir nicht länger eine Lösung haben. Hinsichtlich der institutionellen Kirche(n) könnte dies bedeuten, von der Sorge abzulassen, den Rückgang der Mitgliederzahlen abzuwenden. Es könnte stattdessen heißen: „sterben zu lernen“ in dem Sinne, dass wir unseren menschlichen Status, Sterbliche zu sein, als Vorrecht begreifen und ihn mit einer Kultur des Zusammenlebens ausstatten, die ein solches Schicksal erfordert. Zumindest dann, wenn wir nicht dem Tod mit derselben Tödlichkeit entgegengehen wollen, die die früheren Begegnungen kennzeichnete, in denen diese Bedrohtheit unseres Lebens aufleuchtete. Institutionen könnten anfangen, Wege zu erdenken, den Rückgang von Autorität zu gestalten. Nicht nur, indem sie ihre noch vorhandene politische oder soziale Macht, sondern eher noch, indem sie die Struktur künftigen Verlustes als ein Mittel nutzen, um zu neuen Visionen menschlicher Gesellschaft beizutragen. Solch eine Gesellschaft würde sehr wahrscheinlich nicht Grenzen wieder neu verstärken, sondern sie überschreiten, zwischen ihnen wandeln und mit den Menschen ziehen.
Monica Miller: Innerhalb solcher Anstrengungen ermutigen wir dazu, sich mit dem Hiphop als auch mit den Ressourcen, die von Studien zu Religion und Hiphop bereitgestellt werden, auseinanderzusetzen. Diese Arten von Ressourcen gehen allerdings noch weit über den Hiphop hinaus und beinhalten unbestreitbar, sich dem reichen historischen, theologischen, literarischen und philosophischen Erbe der Afroamerikaner zuzuwenden. Diese Zuwendung zu schwarzen Quellen könnte vielleicht auch die schon reiche Schatzkiste deutscher Ressourcen weiter füllen, inklusive besonders jene Schatzkiste derer, die den Mut hatten, der sozialen Krise mit Trauer und Fantasie entgegenzutreten. Man denke an einige wie den schon genannten Bonhoeffer, aber auch an Walter Benjamin, Jürgen Moltmann, Johann Baptist Metz, Dorothee Sölle und Jürgen Manemann, unter vielen, vielen anderen. Unserer Einschätzung nach sollte man sich dieser Denkerinnen und Denker entsinnen, um sie als Stimmen eines organischen, indigenen deutschen Hiphop zu studieren, der all das vorwegnimmt und übertrifft, was Haftbefehl (ein deutscher Hiphopper; d. Red.) und alle seiner Zeitgenossen möglicherweise repräsentieren könnten.
euangel: Professor Manemann, Sie haben sich in einer Veranstaltung in Hannover mit der Thematik „Stimmen der Stadt – Hiphop-Botschaften“ befasst (Infos unter http://www.fiph.de): Was haben Sie dabei gelernt, was ist Ihnen dabei aufgegangen?
Jürgen Manemann: Dass Hiphop sich neben Blues, Jazz und anderen Musikformen etabliert hat, das war mir schon vorher bewusst. Dass Hiphop aber nicht nur philosophische Inhalte besitzt, sondern eine eigene Form von Philosophieren ist, das habe ich durch die Veranstaltung gelernt. Nach Sokrates heißt philosophieren, das eigene Leben prüfen. RapperInnen provozieren mit Tabubrüchen, um zu kritischen Selbstreflexionen herauszufordern. Und so konfrontieren sie uns mit den Grundfragen des Lebens: Wer sind wir und wo stehen wir? Warum sind wir hier? Woher kommen wir, wohin gehen wir? Hiphop ist für viele junge Menschen weltweit der Way of Life: Diese Kultur bietet nämlich vielseitige kulturelle, religiöse und philosophische Ausdrucksformen und verschiedene Praktiken (Break-Dance, Beatboxing, Rap, Graffiti, Kleidung etc.), die helfen, eigene Lebenswirklichkeiten zum Ausdruck zu bringen und eine eigene Stimme zu finden. Hiphop ist der Versuch, zu performen, was an der Zeit ist.
euangel: Auch an Sie noch einmal die Frage: Wie weit sind die Erkenntnisse von Monica Miller zu Hiphop und Religion in den USA auch auf die deutsche Situation übertragbar? Was kann bzw. sollte speziell die Kirche daraus lernen?
Jürgen Manemann: Es gibt viele Unterschiede zwischen dem Hiphop in den USA und dem deutschen Hiphop. Das muss auch so sein, da Hiphop immer Ausdruck der Verbindung von Globalität und Lokalität ist. Im deutschen Hiphop sind die Bezüge zu religiösen Traditionen nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Um diese zu entdecken, wäre besser von Spiritualität statt von Religion im Hiphop zu reden. Insbesondere die Songs des Rappers Megaloh besitzen eine tiefe Spiritualität. In seinem Song „Programmier’ dich neu“ rappt Megaloh:
„Das erste Kapitel, das schwerste Kapitel,
das letzte, das Beste der Bibel
Ist das Ende zu ändern,
und wenn dann,
ist das was, das der Mensch kann?“
Im Hiphop werden immer wieder Anleihen bei religiösen Traditionen gemacht, wobei diese verfremdet und neu zur Sprache gebracht werden. Was ich gelernt habe, ist nicht nur zu fragen, wie viel Religion im Hiphop steckt, sondern auch, wie viel Hiphop in Religion steckt. Rapper singen immer wieder gegen vermachtete Strukturen an, und das gilt auch im Blick auf vermachtete religiöse Strukturen. Insbesondere die feministische Rapperin Sookee kritisiert die Homophobie der katholischen Kirche scharf.
euangel: Im Hiphop wird Religion – wie wir gesehen haben – speziell unter sozio-politischen Vorzeichen rezipiert. Ist das ein Aspekt von Religion, den Kirche stärker in den Blick nehmen sollte?
Jürgen Manemann: Rapper stellen immer wieder neu die Frage „Wie sollen wir zusammen leben?“, und zwar in einem umfassenden Sinn. Sie fragen nicht nur nach dem, was wir zum Überleben benötigen, sondern auch nach dem, was wir für ein gutes Leben brauchen. In seinen neuen Songs thematisiert Spax die Fragen nach Glück, Schönheit und Natur – unbedingt zu empfehlen. Rap-Texte handeln also nicht nur von Gewalt und Verzweiflung, sondern auch vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe. Es reicht aber nicht aus, bloß die thematischen Aspekte in den Blick zu nehmen, da Hiphop Performance ist. Und diese Performance genießt nur Respekt, wenn sie „real“ ist. „Realness“ steht dafür, den Graben zwischen Rhetorik und Realität zu überbrücken. Gerade die Kirche wird von jungen Menschen oft nicht mehr als „real“ (authentisch) erlebt. Wie Kirche „Realness“ repräsentieren kann, dazu könnte sie sich von Rappern und den wenigen Rapperinnen inspirieren lassen.