Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
der quantitative Anstieg der Zahlen von Konfessionslosen, nicht nur im Osten Deutschlands, sondern mittlerweile auch in Westdeutschland, besonders in den großen Städten, fordert die Kirche in ihrem Selbstbild, ihrem Zielsystem und damit in ihrer pastoralen Praxis heraus. Die sogenannten Konfessionslosen (zunächst einmal negativ und resthaft bestimmt als Nicht-Mitglieder einer religiösen Bekenntnisgemeinschaft) im Westen Deutschlands sind zumeist Ausgetretene, die in kritischer Distanz zur Kirche leben, oft aber religiös suchend und/oder Experimentierende sind. Im Osten ganz anders: Hier gibt es einen kleinen Teil bekennender Atheisten, einen ebenso kleinen Teil von religiös Interessierten oder (im weitesten Sinne) „Suchenden“, der weitaus größte Teil dürfte jedoch als religiös indifferent zu bezeichnen sein. Die Menschen dieser Gruppe leben zumeist ohne religiöse oder transzendente Bezüge. Sie handeln nach bestimmten Werten von Solidarität und Gerechtigkeit, sind also nicht als inhuman anzusehen, nur weil sie ihre Wertmaßstäbe nicht religiös grundieren.
Hier beginnt es für Theologie und Kirche spannend und herausfordernd zu werden. Eine „klassische“ Missionsvorstellung, die von der grundsätzlichen Religiosität des Menschen ausgeht, kann hier nur Defizite wahrnehmen, die es über Verkündigung und Werbung in den Schoß des Glaubens und der Kirche und damit auf „den richtigen Weg“ zu holen gilt (die 75% „Noch-nicht-Getauften“ im Osten Deutschlands). Demgegenüber ist gelegentlich die Vorstellung anzutreffen, dass der Nicht-Glaubende nicht einfach ein Defizit gegenüber einer als religiös verstandenen „Normalität“ (der Mensch also mit einem religiösen „Apriori“) aufweist, sondern einfach anders ist („Alteritätsorientierung“), sein Leben eben nicht-religiös, vielmehr mit religionsanalogen Kategorien (Maria Widl) deutet.
Hinzu kommt, dass die vielfache Meinung, ohne Christentum oder Religion gäbe es keine Werte, würden die Menschen übereinander herfallen, empirisch nicht aufrechtzuerhalten ist. Man kann natürlich annehmen, dass in Deutschland jüdisch-christliche Werte im Verlauf der säkularisierenden Modernisierung sich aus dem kirchlich verfassten Bereich herausemanzipiert haben und als Gemeingut in die säkulare Gesellschaft übergegangen sind. Immerhin fordert die Tatsache, dass es gemeinsame Werte gibt, die offenbar Christen nicht einfach so als ihr Eigenes verbuchen können, dazu heraus, nochmals intensiv nach dem verpflichtenden Grund solcher Wertvorstellungen zu fragen. Das Bonmot des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, der freiheitliche säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne, gewinnt so neue Plausibilität für den religionspolitischen Diskurs und ist sowohl religiös wie nicht-religiös durchzubuchstabieren.
Die zu verhandelnden theologischen Fragen sind hier sicher einerseits, inwieweit Christentum ein explizites Bekenntnis benötigt und welche Gestalten dies annehmen kann. Andererseits verändert sich die Rolle der Kirche als Glaubensgemeinschaft in einem zunehmenden Kontext religiöser Indifferenz. Die sichtbare Gestalt der Glaubensgemeinschaft ist eine Herausforderung, nicht revisionistischen Erfassungsvorstellungen zu verfallen („Wir kriegen sie alle noch!“). Vielmehr entwickeln sich ekklesiologische Konzepte, die Kirche als „kreative Minderheit“ (Bischof Gerhard Feige) neu buchstabieren und den Aspekt des „Für“ herausheben. Möglicherweise müsste noch stärker als bisher ein Modell der (legitimen) stellvertretenden Religiosität (vicarious religion) in der Dialektik von „Ich muss das jetzt als Christ hier tun!“ und „Es kommt aber auf mich allein nicht an!“ durchdacht werden. Wie verändert ein solcher Horizont das, was Bekenntnis (confessio) als persönliches und gemeinschaftliches Lebens- und Glaubenszeugnis heißt? Nähern sich Glaube und Nicht-Glaube womöglich an? Ist der Vorwurf der Selbstsäkularisierung oder der „Verwässerung“ des Christentums und seiner biblischen Offenbarungsbotschaft gerechtfertigt? Könnte es nicht sein, dass das, was das christliche Mysterium im Spannungsfeld von Schöpfung, Fleischwerdung und Erlösung/Vollendung meint, religiös und nicht-religiös erlebt und erfahren werden kann? Wäre es dann nicht gerechtfertigt, auch von den Erfahrungen des Indifferenten zu lernen, was das Evangelium vom Gottesreich hier und heute sagt und in Gang setzt?
In diesem Zusammenhang scheinen uns einige theologische und lebenspraktische Entwürfe sinnführend zu sein für eine Spiritualität eines im rechten Sinne verstandenen „säkularen Christentums“. Wo findet das Christentum zu sich selbst? Wie kann ich Christ sein in dieser Welt, und zwar welthaftig?
In dieser Ausgabe von euangel spürt Gunter Prüller-Jagenteufel dem Gedanken einer „nicht-religiösen Interpretation des Christentums“ nach, den Dietrich Bonhoeffer in seinen letzten Lebensmonaten entfaltet hat. Josef Freitag entwickelt von Charles de Foucauld her Überlegungen zur christlichen Begegnung mit Konfessionslosen. Johannes Quack und Cora Schuh betrachten Indifferenz aus der Perspektive des Religionswissenschaftlers. Thomas Pogoda zeigt am Beispiel des Bistums Magdeburg, wie sich Christen als schöpferische Minderheit zu begreifen lernen. Jörg Bahrke, katholischer Pfarrer in Burg (bei Magdeburg), lässt sich über den praktischen Umgang mit Nicht-Glaubenden im Pfarreialltag befragen. Hans-Hermann Pompe schließlich, der Leiter des Kompetenzzentrums für Mission in der Region (ZMiR) der EKD, bündelt die Thematik mit einem Zwischenruf aus der protestantischen Tradition.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen
Ihr