Wie ticken Jugendliche 2016?
Die aktuelle Sinus-Jugendstudie
Bereits zum dritten Mal in Folge veröffentlicht das Sinus-Institut nach 2008 und 2012 seine Jugendstudie. Wie schon in der Studie von 2012 konzentriert es sich auf Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17, also auf, wenn man so will, Jugendliche im engeren Sinne des Wortes. Wieder umfasst die Stichprobe 72 Jugendliche, gleichmäßig verteilt nach Geschlecht, Wohnort (Stadt/Land sowie geographische Streuung über Deutschland) sowie Besuch von Ganz- oder Halbtagsschule, und ist quotiert nach dem nächsten angestrebten Schulabschluss. Die Lebensweltexplorationen erfolgen nach der bewährten qualitativen Methodik von ca. anderthalbstündigen leitfadengestützten narrativen Interviews, der fotographischen Dokumentation der Wohnwelten der Jugendlichen und von „Hausaufgabenheften“, in denen die Jugendlichen sich vor dem Interview unter dem Titel „So bin ich, das mag ich“ selbst beschreiben und außerdem Fragen nach wichtigen Dingen im Leben, nach Vorbildern und nach ihrer Zukunft beantworten sollten. Neu war eine Aufgabe zum Werteuniversum der Befragten, bei dem besondere Affinität bzw. besondere Distanz zu vorgegebenen Werteaspekten kenntlich gemacht werden sollte. Den Abschluss bildete eine kreative Aufgabe unter dem Thema „Das gibt meinem Leben Sinn“. Neu im Vergleich zu den bisherigen Studien war, dass einige Interviews als Peer-to-Peer-Interviews durchgeführt wurden, also mit Jugendlichen gleichen Alters statt wie sonst mit erwachsenen Interviewern. In diesen Interviews wurden insbesondere jugendspezifische, sensible und „neue“ (im Sinne von Trendscouting) Themen befragt.
Zentrale Forschungsfragen zur Exploration der Lebenswelten waren die Themen Werte, Zukunft, Vorbilder, Freizeit und Konsum sowie Vergemeinschaftung und Abgrenzung. Hinzu kamen Vertiefungsthemen, die durch Kooperationspartner als ‚Themenpaten‘ finanziert wurden. Erstmalig beteiligte sich die Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der DBK (afj) für das Thema „Glaube und Religion“; der BDKJ stand Pate für die Themen „Liebe und Partnerschaft“ sowie (erstmals) „Umweltschutz, Klimawandel und kritischer Konsum“. Weitere Auftraggeber waren die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (Thema „Digitale Medien und digitales Lernen“), die VDV-Akademie – die Akademie des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen – mit dem neuen Thema „Mobilität“ und die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) mit den wiederum neuen Themen „Geschichtsbilder“, „Nation und Nationalität“ sowie „Flucht und Asyl“. Die Studie erfasst somit hochaktuelle Bezüge und erlaubt durch ihre breite Methodenpalette ein alltagsnahes und differenziertes Bild jugendlicher Lebenslagen, das eine anerkannte Ergänzung zu quantitativen Studien wie z. B. der Shell Jugendstudie darstellt.
Das Positionierungsmodell mit der vertikalen Achse der Bildung (als „passiver“ Dimension) und der horizontalen Achse der Grundorientierung (als „aktiver“ Dimension) ist bereits aus den Vorgängerstudien bekannt. Dabei hat sich das Gesamtpanorama mit den sieben Lebenswelten gegenüber 2012 nicht verändert, wohl aber lassen sich Akzentverschiebungen innerhalb der Lebenswelten und in ihrem Verhältnis zueinander erkennen. Zur Beschreibung der Lebenswelten inkl. aktuellem Material aus den Interviews, den Fotodokumentationen und den Hausaufgabenheften verweise ich auf die Studie selbst, die als Open Access online frei verfügbar ist.
Die Autoren nennen drei besonders augenfällige Veränderungen in der Generation der 14‑ bis 17‑Jährigen seit 2012:
- „Neo-Konventionalismus“
Es gibt weniger jugendtypische Abgrenzung von Jugendlichen gegenüber den Erwachsenen. Die Bedeutung von Jugendkulturen oder Jugendszenen, die in den 1980er‑ und 1990er-Jahren für die Identitätsstiftung Jugendlicher wichtig war, hat weiter abgenommen. Der Begriff „Mainstream“ ist im Vergleich zur Studie von 2012 kein Schimpfwort mehr, sondern „ein Schlüsselbegriff im Selbstverständnis und bei der Selbstbeschreibung“ (475). Dem entspricht eine generelle Anpassungsbereitschaft und eine selbstverständliche Akzeptanz von Leistungsnormen und Sekundärtugenden; den Jugendlichen sind insbesondere soziale Werte wie Hilfsbereitschaft und stabile Beziehungen wichtig. Die Studie sieht darin eine neue Sehnsucht nach Normalität, einen starken Wunsch nach Zugehörigkeit, nach Aufgehoben- und Akzeptiertsein in der Gesellschaft. Diese Tendenz zur Mitte, der Wunsch „nach Geborgenheit und auch nach Halt und Orientierung in den zunehmend unübersichtlichen Verhältnissen einer globalisierten Welt“ (ebd.) kann als eine typische Reaktion in einer als krisenhaft erlebten Situation verstanden werden. - Religiöse Toleranz
Die Akzeptanz von gesellschaftlicher Diversität und Pluralität hat weiter zugenommen, entsprechend ist auch religiöse Toleranz als Norm weiter gefestigt. Dies gilt besonders auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Speziell bei den muslimischen Jugendlichen ist eine demonstrative Distanzierung vom radikalen Islamismus zu beobachten. Religiös motivierte Gewalt wird generell verurteilt, der „Islamische Staat“ ist für die muslimischen Jugendlichen nicht eine extreme Form von Religion, sondern gar keine. Offensichtlich rückt die Jugend in Zeiten zunehmender terroristischer Bedrohung näher zusammen. „Die Identifikation mit ‚abendländischen‘ Werten wie Toleranz und Aufklärung steigt, weil sie das ‚gute Leben‘, Freiheit und Wohlstand garantieren“ (476). Hier kann natürlich auch ein Effekt der Selbstauswahl vorliegen: Da nur solche Jugendliche interviewt wurden, die dies auch wollten, kann es sein, dass Jugendliche mit Affinität zu fundamentalistischen Tendenzen unterrepräsentiert sind. - Digitale Sättigung
Als Digital Natives haben die befragten Jugendlichen einen selbstverständlichen und unaufgeregten Umgang mit digitalen Medien; es ist normal, ständig online zu sein. Statt einer bedingungslosen Faszination ist nun ein nüchternes Verhältnis zur digitalen Welt zu beobachten. „Aus Perspektive der Jugendlichen ist der Höhepunkt der digitalen Durchdringung des eigenen Alltags bereits erreicht – mehr geht nicht. Vielmehr werden Wünsche nach Entschleunigung der technologischen Dynamik geäußert“ (ebd.). Die digitale Zukunft wird nicht nur als Verheißung, sondern auch als Herausforderung verstanden. Insbesondere Jugendliche aus bildungsnahen Lebenswelten sind überzeugt, dass der „Umgang mit digitalen Medien Kompetenzen erfordert und dass man diese lernen muss – dazu gehört nicht nur die Nutzung von Geräten, sondern auch die Souveränität, sie ausschalten zu können“ (476 f.).
Exemplarisch seien abschließend die Ergebnisse zweier Vertiefungsthemen mit hoher Relevanz für die kirchliche Jugendarbeit vorgestellt.
Glaube und Religion
Die Studie charakterisiert die große Mehrheit der Jugendlichen hinsichtlich des Themas Glaube und Religion als „religiöse Touristen“. Der Dreiklang von Glaubensinhalten, der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft und der Partizipation an deren Ritualen gehört für Jugendliche oft nicht zusammen; für Jugendliche mit Migrationshintergrund ist dies jedoch anders: Für sie bilden diese Elemente meist eine Einheit. Sie assoziieren mit Religion v. a. Moral, Regeln und Ordnung, während Jugendliche ohne Migrationshintergrund eher an Spiritualität oder die Frage nach dem Leben nach dem Tod denken. Der Austritt aus der Kirche ist für die meisten christlichen Jugendlichen auch bei geringer Religionsverbundenheit kein Thema und wird eher ins Erwachsenenalter projiziert. Da religiöse Toleranz als Norm gefestigt ist (s. o.), stehen unterschiedliche Religionszugehörigkeiten einer Freundschaft nicht im Wege und spielen kaum eine Rolle, ja sind manchmal gar nicht bekannt.
Umweltschutz, Klimawandel, kritischer Konsum
Umweltschutz sehen die Jugendlichen als eine zentrale Herausforderung für die Zukunft, v. a. die bildungsnahen Lebenswelten sind gut informiert über die genauen Zusammenhänge. Die meisten Befragten glauben aber, allein wenig ausrichten zu können, und sehen die Schwierigkeit, Umweltschutz im eigenen Alltag konsequent zu leben. Viele Jugendliche geben an, dass ihnen für das aktive Engagement für den Umweltschutz die Zeit fehle; viele äußern ihre Unsicherheit, ob die Zerstörung der Erde überhaupt noch aufgehalten werden kann.
Die Meinungen der Jugendlichen zum Klimawandel sind hingegen gespalten; es fällt ihnen schwer, die widersprüchlichen Informationen zu durchschauen und sich ein abschließendes Urteil zu bilden. Einige stellen den Klimawandel überhaupt in Frage. Grundsätzlich ist dieses Thema geographisch, zeitlich und inhaltlich weit entfernt für die Jugendlichen, so dass wenig direkter eigener Handlungsdruck wahrgenommen wird. Man setzt mehr auf zukünftige technologische Entwicklungen, um dem Klimawandel zu begegnen.
Der Begriff „kritischer Konsum“ ist den wenigsten Jugendlichen bekannt. Am ehesten verbinden sie das Thema faire Arbeitsbedingungen mit diesem Themenfeld, an andere Umweltaspekte wird weniger gedacht. Auch bei diesem Thema gilt, dass den Jugendlichen das Wissen fehlt, „wie sie an vertrauenswürdige Informationen kommen können. Weil man den gängigen Öko-Siegeln und Fair-Trade-Zertifikaten nicht durchweg vertraut und weil aus Sicht der Jugendlichen der Einzelne ohnehin kaum Veränderung bewirken kann, sehen die Jugendlichen nur wenig Handlungspotential für sich“ (470). Am ehesten wäre man noch bereit, sein Verhalten beim Lebensmitteleinkauf zu verändern, weniger beim Kauf von Kleidung. „Konsumverzicht aus ethischen Gründen ist für die meisten Jugendlichen weder als Möglichkeit präsent, noch im Alltag konkret vorstellbar“ (471).
Marc Calmbach, Silke Borgstedt, Inga Borchard, Peter Martin Thomas und Berthold Bodo Flaig, Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17, Springer: Wiesbaden 2016, ISBN: 978-3-658-12532-5, 481 Seiten, € 53,49.
Als Open Access über Springer Link zugänglich.
Von afj und BDKJ ist eine Kurzfassung der Vertiefungsthemen verfügbar.