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Verwundbarkeit wagen

Kirche in heterogener Gegenwart

In der Vergangenheit sind zumeist Burg und Festung Bilder für eine Kirche ge­we­sen, die sich gegen eine feindliche, „ungläubige“ Umwelt zur Wehr set­zen musste, um die Substanz des christlichen Glaubens zu verteidigen. In einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft – und dafür hat das II. Vatikanische Konzil geworben – scheint es zum Wesen der Kirche zu gehören, sich einzu­mi­schen, inmitten der Menschen zu wirken und sich auf verschlungene menschliche Wege einzulassen: eine Kirche, die berührbar ist und in diesem Sinne „angreifbar“ bleibt. Hildegund Keul reflektiert die neue „Verletzlich­keit“ unter Aufnahme von Gedanken des französischen Theologen Michel de Certeau und fundiert dieses neue Kirchenbild in der inkarnatorischen Ekkle­siologie und Christologie des Konzils.

„Kennen Sie das Gefühl, dass einem keiner was anhaben kann?“ Mit diesen Worten beginnt derzeit die Werbung einer großen Versicherung für ihre preisintensiven Produkte. Sie zielt damit auf ein gesellschaft­liches Grundgefühl: Unsicherheit, die mit Angst vor Verwundung ge­paart ist. Viele Religionen und Kulturen beheimaten sich in Deutsch­land, die mit ihrer Fremdheit irritieren; viele Türen öffnen sich gerade für junge Menschen, aber man weiß nicht, welche davon in Sackgassen oder gar in Abgründe führen. In unserer Gesellschaft, die stark von He­te­rogenität geprägt ist, kommt sehr viel Fremdes auf uns zu. Und wir wissen nicht, welche Gefahren hier lauern. Da geht man doch lieber auf Nummer sicher und schützt sich vor Verwundung – und sei es mit Hilfe einer „Schutzengel-Versicherung“.

Heterogenität, die Erfahrung des Fremden im Eigenen, ist in der Welt von heute eine alltägliche Herausforderung. Aus diesem Grund rückt sie ins Interesse neuer Bildungskonzepte. Ein inklusiver Umgang mit ihr gilt mittlerweile als unverzichtbare Schlüsselkompetenz. Damit steht auch die Kirche vor der Gretchenfrage: Wie hältst Du’s mit Heteroge­nität? Das ist eine äußerst spannende Frage. Denn sie führt mitten in die turbulenten Debatten hinein, die die Kirche um ihre Verortung in der Welt von heute führt.

Im Folgenden gehe ich dieser Gretchenfrage in drei Schritten nach. Zu­nächst kommt das II. Vatikanische Konzil mit seinen "Zeichen der Zeit" zu Wort. Im zweiten Punkt stelle ich die Suchbewegung von Michel de Certeau (1925-1986) vor, einem Schüler der Nouvelle Théologie, der ein Meister in Heterogenität aus theologischer Sicht ist. Und im dritten Punkt bringe ich meine christologische Perspektive ein, die bei Fragen der Verwundbarkeit ansetzt.

1. Die Zeichen der Zeit erforschen – Gegenwart wagen. Eine christologische Antwort auf Heterogenität

Im 19. Jahrhundert setzte die katholische Kirche in weiten Bereichen auf Homogenität. Homogenität denkt im Singular. Certeau beschreibt dies folgendermaßen: „Einst stellte eine Kirche einen Boden bereit, das heißt ein fest umrissenes Terrain, innerhalb dessen man die soziale und kulturelle Garantie hatte, dass man auf dem Acker der Wahrheit wohn­te.“ (Certeau 2009, 243; „Autrefois une Église organisait un sol, c’est-à-dire une terre constituée: à son intérieur, on avait la garantie sociale et culturelle d’habiter le champ de la vérité.“) Um Heterogenes abzuweh­ren, erhöhte die Kirchenleitung den Homogenisierungsdruck. Dies fand seinen Höhepunkt 1910 im Antimodernismus-Eid. Wer sich dem Druck nicht beugte, wurde ausgegrenzt. Hier zeigt sich eine Tendenz strikt ho­mo­gener Systeme: Sie reagieren mit Ausschließung, Exklusion. Man verwundet Andere, weil man davon überzeugt ist, dass man damit die eigene Institution vor Verwundungen schützt. So wurden Vertreter der Nouvelle Théologie, einer der innovativsten Strömungen des 20. Jahr­hun­derts, mit schmerzlichen Lehrverboten belegt, wie Marie-Dominique Chenu und Yves Congar.

Diese Homogenisierung machte die Kirche zu einer Art Hochsicherheits­trakt, dessen Mauern, Tore und Wächter die Kommunikation zwischen innen und außen strikt begrenzten. Man bewegte sich theologisch aus­schließlich in Fragen, deren Antwort man schon kannte. Die Theologie war wohlbehütet und relativ unverwundbar, denn sie unterband Ein­­flüs­se von außen. Dies hatte aber zur Folge, dass die Kirche zugleich ihren Einfluss nach außen, in gesellschaftliche und wissenschaftliche Kontexte hinein, verlor. Zudem drang die wachsende Heterogenität durch Risse und Brüche beharrlich in das Innere der Kirche ein. Sie war eine Realität, die sich nicht länger verschweigen ließ. So kam es zu jener entscheidenden Wende, die das II. Vatikanum vollzog.

Dieses Konzil zeichnet sich durch einen neuen Umgang mit Heteroge­nität aus. Das Andere wird nicht mehr ausgegrenzt, sondern „im Licht des Evangeliums“ inkludiert. Es gilt nicht mehr Kirche gegen Welt, son­dern Kirche in der Welt von heute; nicht mehr Ausgrenzung anderer Religionen, son­dern Dialog mit ihnen; nicht mehr Unterordnung der Laien unter den Klerus, sondern Kooperation. Kirche lässt sich auf Differentes ein.

Aber wie kann Heterogenes eine Einheit bilden, ohne dass das Hetero­gene zerstört wird? Diese Frage stellte sich nachdrücklich. Aber sie ist nicht neu. Vielmehr stand sie schon in den ersten Jahrhunderten der Theologiegeschichte zur Debatte, und zwar in der Christologie. Wie kann Jesus Christus zwei verschiedene Naturen in sich verbinden, also wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch zugleich sein, ohne dass weder seine Gottheit noch seine Menschheit zerstört werden? Das Konzil von Chalcedon (451) hat hierzu ein Strukturprinzip entwickelt, das auf Heterogenität generell anwendbar ist. Es sagt, dass beide Naturen, die göttliche und die menschliche, in Jesus Christus „unvermischt und ungetrennt“ (DH 302) erkannt werden. Interessanterweise ist dies eine negative Formulierung, darauf weist der Fundamentaltheologe Gregor Hoff hin. Chalcedon kann nicht positiv sagen, wie es funktioniert. Aber es sagt, welche Fehler man zu vermeiden hat: Man darf weder vermischen noch darf man trennen.

Diesem Strukturprinzip folgt das II. Vatikanum, indem es die „Zeichen der Zeit“ als Schlüsselbegriff einführt. Es sagt: „Zur Erfüllung dieses Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten.“ (Gaudium et Spes 4). Drei Punkte sind hierbei im Blick auf Heterogenität und Verwundbarkeit relevant.

1. Es handelt sich um einen säkularen Begriff. Die Zeichen der Zeit fin­­det man nicht im internen Kirchenraum, sondern draußen in Flücht­lingslagern und Fabriken, in Schulen und anderen gesellschaftlich re­levanten Orten. Hier nimmt Kirche das wahr, was außerhalb des eige­nen Diskurses liegt – „die ganze Menschheitsfamilie mit der Gesamtheit der Wirklichkeiten, in denen sie lebt“ (GS 2). Zeichen der Zeit lenken den Blick auf die Gegenwart, die ein „Alteritätsgeschehen“ ist, so der Dogmatiker Erwin Dirscherl. Sie konfrontiert mit Überraschungen. Was sich in der Welt ereignet, ist noch nicht in Geschichtsbüchern verzeich­net. Es kann alles ganz anders kommen, als zu erwarten war.

2. Der zweite Punkt besagt, dass diese säkularen Zeichen theologisch relevant sind. Was in der Welt geschieht, geht nicht spurlos an der Theologie vorbei, sondern es schreibt seine Gravuren in ihre Debatten ein. Gerade das, was heterogen ist, treibt den eigenen Glauben voran. Die Theologie deutet die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums, indem sie nach der Präsenz Got­tes in den Umbrüchen der heutigen Welt fragt. Daher sagt die Pastoralkonstitution weiter, dass es zu unterschei­den gilt, „was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind“ (GS 11). Zeichen der Zeit sind Hoffnungszeichen, insofern sich Gott in ihnen offenbart. Sie geben Orientierung und eröffnen Handlungsraum, so dass der Glaube neu ins Spiel der Welt kommen kann.

3. Das Konzil begründet den neuen Umgang mit Heterogenität mit der Inkarnation. Es argumentiert christologisch. „Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Fleischwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt.“ (GS 22) Ausgangspunkt ist der Glaube, dass Gott in seiner Menschwerdung in Jesus Christus die Menschheit annimmt, sich soli­da­risch mit ihr zeigt. Jesus Christus scheut vor Vielfalt nicht zurück, sondern geht mitten in sie hinein. Christus folgend, liegt die höchste Berufung der Menschen darin, im Fleisch Mensch zu werden, also in den konkreten Realitäten der eigenen Zeit, so heterogen sie auch sind. Der christliche Glaube vollzieht sich in sozialen Verortungen, kultu­rel­len Debatten und politischen Herausforderungen. Auch die Theologie hat ihren Hochsicherheitstrakt zu verlassen und die Grenzen herkömm­licher Einschließung theologischen Wissens zu überwinden.

2. Kirche auf Erkundung – die Stärke der Glaubens-Schwachheit

Weil Gott Mensch geworden ist, ist es Aufgabe der Kirche, sich in den Widersprüchen, Konflikten und Umbrüchen der Gegenwart für Huma­ni­tät einzusetzen. Menschwerdung ist angesagt. Allerdings stoßen sol­che Erkundungen, die den Hoffnungszeichen Gottes folgen, auf spitze Ecken und scharfe Kanten. Dies lassen bereits drei Zeichen der Zeit vermuten, die Papst Johannes XXIII. 1963 in seiner Friedensenzyklika benannt hat: die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung und die Völkerverständigung. Alle drei Zeichen sind bis heute mit Konflikten verbunden.

Heute zeigt sich Migration als Zeichen der Zeit, wo Heterogenes aufein­ander stößt und wo man es mit Verwundungen und Verwundbarkeiten aller Art zu tun bekommt. Kirche im Zeichen der Gegenwart kann hier nicht außen vor bleiben und sich auf jene Felder des Wissens zurück­ziehen, wo sie der Wahrheit immer schon gewiss war; sie kann nicht mehr den „Acker der Wahrheit“ bewohnen. Stattdessen bricht sie auf und geht in Diskursfelder der Ungewissheit, wo sich drängende Fragen stellen, aber noch keine bewährten Antworten gefunden sind. Dieser Weg im Zeichen der Zeit ist prekär, aber zugleich unausweichlich. Denn in den Kirchenräumen und mehr noch vor den Kirchentüren bewegen sich immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund, die andere Sprachen sprechen und in anderen religiösen Traditionen verortet sind.

Homogene, in sich geschlossene Diskurse sind relativ unverwundbar. Man kennt sich aus in den eigenen Argumenten und kann Angriffen standhalten. Eine Kirche hingegen, die sich in der widersprüchlichen, von Verwundungen gezeichneten Gegenwart verortet, macht sich an­greifbar. Sie wird selbst verwundbar. Dies hat Certeau in aller Konse­quenz analysiert. Er wollte die Theologie als „Wissenschaft vom Ande­ren“ begründen, als „Heterologie“. Denn die Theologie macht heute die Erfahrung, dass Andere auf etwas im eigenen Glauben verweisen, was man selbst noch nicht sagen kann. Dies offenbart eine Schwäche, eine „GlaubensSchwachheit“, so ein Buchtitel Certeaus. Im Zeichen der Ge­genwart wird der Glaube aus den Feldern der Gewissheit in Felder der Ungewissheit geführt, aus einer früheren Stärke in eine gegenwärtige Schwäche, aus Unangreifbarkeit in Verletzlichkeit.

Bei Certeau kann man lernen, dass diese Erfahrung keine persönliche Unfähigkeit sein muss, sondern eine signifikante Erfahrung der Gegen­wart ist. Er sagt: „So wird, auf tausenderlei Weisen, […] das Aussagbare unablässig von etwas Unsagbarem verletzt“ (Certeau 2010, 123; „l‘énonçable continue d'être blessé par un indicible“; „blessé“). Die Zei­chen der Zeit führen in eine Situation verletzlicher „Glaubens-Schwach­heit“. Certeau erkundet, was mit dem Glauben geschieht, wenn man sich dieser Verletzlichkeit aussetzt, wenn man sie wagt. Ist es etwas Schlechtes, Schwäche zu zeigen? Da meldet sich sofort das paulinische Bibelwort, wo Gott zu Paulus sagt: „Lass dir an meiner Gnade genü­gen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ (2 Kor 12,9, Lutherübersetzung) Dieser Satz war keineswegs zufällig eine trei­ben­de Kraft in den Friedensgebeten der Wende-Zeit im Herbst 1989.

Die Stärke der Glaubens-Schwachheit wäre demnach nicht zu produzie­ren, aber als Gnade zu empfangen. Schwäche zu zeigen und verletzlich zu sein, kann eine Stärke entwickeln. Verletzlichkeit bedeutet ja auch, dass man offen ist, nicht durch Mauern und Stacheldraht abgegrenzt, sondern berührbar, bereit zum Austausch, zur Kommunikation – „Öff­nung und Verletzung zugleich“, nennt dies Certeau (Certeau 2009, 29).

„Eine Schwäche für jemanden haben“, das sagt man im Deutschen (und im Französischen: „avoir un faible pour quelqu‘un“), wenn man eine be­sondere Zuneigung zu jemandem hat, oder mehr noch, wenn man einen Menschen liebt. Liebe und Verletzlichkeit gehören zusammen. Wenn man liebt, baut man Barrieren ab, man öffnet sich und wird verletzlich. Dies ist etwas zutiefst Humanes. Wer liebt, macht sich verwundbar und geht damit große Risiken ein. Diese Verletzlichkeit der Liebe aber ist eine Schwäche, aus der eine Stärke wachsen kann.

3. Human leben – der Macht aus Verwundbarkeit trauen

Eine der großen Fragen der Theologiegeschichte lautet: Warum ist Gott Mensch geworden? Cur Deus Homo? So die klassische Formulierung des Anselm von Canterbury (1033-1109).  Meine Antwort lautet: Weil Gott eine Schwäche für die Menschen hat, besonders für die Armen und Be­drängten aller Art – für die Menschen mit ihren Freuden und Hoffnun­gen, Sorgen und Ängsten. Diese Schwäche Gottes ist die größte Stärke der Menschheit. Denn sie führt zur Inkarnation: Gott wird Mensch. Dies ist das Gründungsgeschehen des Christentums, das wir an Weihnachten in besonderer Weise feiern. Gott schafft nicht nur eine äußerst heteroge­ne, verwundbare Welt – und überlässt sie dann sich selbst. Sondern Jesus Christus geht freiwillig an diesen Ort voll Unsicherheit und Ge­fahr. Er macht sich verwundbar – bis in den Tod am Kreuz. Dieses Wag­nis Gottes aber eröffnet der Menschheit ihr Heil, weil es ein humaner Akt der Liebe ist (vgl. Keul 2013).

Der Weg Gottes mitten in unsere Welt hinein ist eine Gegenbewegung zu dem, wofür die anfangs genannte Schutzengel-Versicherung steht. Versicherungen weisen zu Recht darauf hin, dass Menschen sich selbst und ihre Gemeinschaften (Familie, Religion, Gesellschaft …) vor Ver­wun­dungen schützen müssen. Niemand will verletzt werden und Schmer­zen erleiden. Aber die Inkarnation weist darauf hin, dass Selbstschutz allein nicht genügt, um ein humanes Leben zu führen. Wer sich selbst schützen will, braucht immer höhere Mauern, immer mächtigere Grenzanlagen und immer schärfere Waffen. Das zeigen die gegenwärtigen Debatten um die italienische Insel Lampedusa als Ziel von Flüchtlingen und den europäischen Grenzschutz Frontex. Hetero­ge­nität mag vielerorts akzeptiert sein, aber sie wird dort prekär, wo man befürchten muss, selbst verwundet zu werden.

Wenn man in der Heterogenität unserer Gegenwart mit Verwundbarkeit konfrontiert wird – persönlich oder kirchlich, gesellschaftlich oder poli­tisch, steht man immer vor der Doppelfrage:

• Wo ist es notwendig, sich selbst vor Verwundungen zu schützen?

• Wo ist es notwendig, im Sinne der Inkarnation die eigene Verletzlich­keit zu wagen?

Diese zweite Frage bringt das Christentum ein. Wie gehen wir damit um, dass sowohl wir selbst, aber auch die anderen Menschen jenseits unserer Grenzen verletzlich sind? Weil man sich selbst schützen will, verwundet man Andere – diese Strategie ist im persönlichen, gesell­schaftlichen und staatlichen Leben an der Tagesordnung. Die Inkarna­tion aber richtet die Aufmerksamkeit auf die Opfer, die dabei auf Seiten der Anderen provoziert werden. Sie rückt deren Ängste und Trauerfälle, deren Narben und Verwundungen in den Blick. Wo dies nicht geschieht, entsteht eine gnadenlose Gesellschaft. Die Verwundbarkeit des Lebens erfordert Menschen, die sich in der Liebe verletzlich machen.

Der christliche Glaube ermutigt dazu, dieses Wagnis der Verwundbar­keit einzugehen. Man öffnet sich anderen Menschen gegenüber, obwohl man sich nicht sicher ist, ob man dieser Herausforderung Stand halten kann. Der christliche Glaube besagt, dass genau hier jene Kraft wächst, die ich im Anschluss an Paulus „Macht aus Verwundbarkeit“ nenne. Menschen gehen gestärkt aus diesem Wagnis hervor: aus Schwachheit wächst Stärke.

Gott selbst schlägt diesen Weg ein. In Jesus Christus wird er als schutz­bedürftiger, verletzlicher Säugling geboren und geht den Weg verletzli­cher Menschwerdung konsequent bis in den Tod. Die Kirche ist dieser Wegweisung der Inkarnation nicht immer gefolgt. Auch heute schreckt sie häufig vor dem Wagnis eigener Verwundbarkeit zurück. In den letz­ten Jahren hat dies die Aufdeckung sexueller Gewalt und ihrer Vertu­schung durch Führungskräfte besonders schmerzlich gezeigt. Man wollte die Kirche schützen, hat dabei aber die Opfer der Gewalt noch­mals verletzt und weitere Opfer ermöglicht. Auch hier war die Herodes-Strategie (vgl. Mt 2,16) am Werk: Man verwundet Andere, um die eigene Institution vor Verwundungen zu schützen.

Die Kirche ist wahrlich nicht immer ein Feldlazarett, wo die vom Leben Verwundeten Pflege, Versorgung und Heilung finden. Umso wichtiger ist es, an ihren Heilsauftrag zu erinnern, der sich aussetzt und das Wag­nis der Gegenwart eingeht. Tomáš Halík, Prager Theologe und ehemals Priester der tschechischen Untergrundkirche, folgt dieser Spur. Er sagt pointiert: „‚Zeigt zuerst eure Wunden!‘ Ich glaube nämlich nicht mehr an ‚unverwundete Religionen‘. … Mein Gott ist der verwundete Gott.“ (Halík 2013, 13 und 15)

Gott geht das Wagnis der Verwundbarkeit ein, weil er eine Schwä­che für die Menschen hat. Dasselbe kann man heute von der Kirche erwarten. Sie hat eine Leidenschaft für den eigenen Glauben – für seine Dogmen, Traditionen, Rituale. Aber genauso notwendig braucht sie eine Schwä­che für die Menschen, so heterogen sie sind, mit ihren Stärken und Be­hinderungen, ihren Bedrängnissen und Charismen. Diese Schwäche zu leben bedeutet aber, sich dem Fremden auszusetzen, sich angreifbar zu machen und verwundbar zu werden. Nur wenn die Kirche diesen Weg eigener Verletzlichkeit geht und vor der Schwachheit des Glaubens nicht zurückschreckt, kann der Glaube heute eine neue Stärke entwi­ckeln. Und dann besteht die Hoffnung, dass auch die heutige Gesell­schaft eine neue Schwäche für den christlichen Glauben entdeckt.