Umkehr. Biblische Anmerkungen
Umkehr oder Bleiben, Verharren. Sollte man auf der Suche nach einem Gleichgewicht dieser zwei Pole in der Schrift sein, so wird man enttäuscht. Das Pendel schlägt aus, recht eindeutig – in Richtung Umkehr. Und auch das Ziel dieser Umkehr ist deutlich beschrieben – es ist Gott selbst.
1. Zurück zu Gott – Umkehr im Alten Testament
Im Alten Testament gibt es keinen allgemeinen Begriff der Umkehr oder der Buße. Umkehrterminologien finden sich jedoch seit dem 8. Jh. v. Chr. im Kontext kultisch-ritueller Fast- und Bußtage, und besonders „in Gestalt des prophetischen Gedankens der ‚Umkehr‘“ (Würthwein 1942, 976). Am nächsten kommt der Umkehr das Verbum šūb, das mit „zurückkehren“ oder „unter Abwendung vom Bisherigen zum Ausgangspunkt zurückkehren“ übersetzt werden sollte. Vor allem bei den Propheten kommt die „existentielle Um-Wendung des Menschen … hin zum Wandel vor dem lebendigen Gott“ (März 2001, 364) in den Blick (vgl. Am 4,6–12; 8,2; Jes 6,10; 9,12f.; Hos 2,8). Es geht um die vor allem personale „Rückkehr in das ursprüngliche Jahweverhältnis“ (Wolff 1951, 134).
Doch wird im AT auch nicht vergessen, wie sehr eine solche Umkehr Geschenk Gottes bleibt. Vor allem Jeremia und Ezechiel betonen die von Gottes Gnade bewirkte Umkehr (vgl. Jer 26,3; 31,18; 36,3; Ez 3,19; 33,12.14.19). Es ist deutlich, dass sich „an der Stellung des Menschen zu Gott … alles andere“ (Würthwein 1942, 981) entscheidet. Dies bedeutet für den Menschen, sich Gott in seiner ganzen Existenz zuzuwenden.
2. Metanoia im Neuen Testament
Im Neuen Testament wird die vor allem mit dem Wortfeld metanoia verbundene Umkehr unterschiedlich stark reflektiert, nimmt aber doch einen zentralen Platz ein. Das entscheidende semantische Merkmal des Metanoia-Begriffs ist „das der (Sinnes-)Änderung“ (Merklein 1992, 1024). Er zielt auf eine Kehrtwende des Lebens, die Gott ins Spiel kommen lässt und Institutionen, aber besonders den Menschen selbst im Blick hat. Damit ist „Umkehr“ das „Schlüsselwort des Neuen Testaments, dass verstehen lässt, was ‚Reform‘ heißen kann“ (Söding 2014, 7).
Johannes der Täufer
Mit Johannes dem Täufer steht bereits „an der Pforte zum NT ein Umkehrgedanke“ (Behm 1942, 996). Von acht synoptischen Belegen für den Metanoia-Begriff beziehen sich fünf auf den Täufer (vgl. Mt 3,1–12) – ja, man kann sagen, dass das Thema Umkehr bzw. Buße geradezu ein „Grundton“ seiner Botschaft ist. Aufgrund der unmittelbaren Nähe des Zorngerichts Gottes (Lk 3,7f.) geht es hier bei Umkehr zunächst um eine Abkehr von den Sünden, letztlich aber um eine „radikale Anerkennung Gottes … [die] sich in der ‚Taufe der Umkehr‘ (Mk 1,4 par. Lk 3,3)“ (Merklein 1992, 1026) konkretisiert. Johannes nimmt „unter der drängenden Wucht“ (Behm 1942, 995) des Gerichts in einzigartiger Weise das alte prophetische Anliegen auf. So bietet die vom Täufer angemahnte einmalige, totale und umfassende Umkehr die einzige Möglichkeit, dem Zorn Gottes zu entrinnen – sie erscheint als „letzte von Gott geschenkte Ermöglichung zur Rettung“ (Becker 1993, 447).
Jesus
Für Jesus selbst ist der Umkehrbegriff nicht in dem Maße typisch, wie er es für den Täufer war. Doch zeigt er durch seine Taufe (Mk 1,9–11) an, sich an dessen Bußruf zu orientieren. Auch wenn, wie bei Johannes, angesichts des Gerichts Umkehr von allen, Juden und Heiden, erwartet wird, so muss diese Botschaft doch v. a. im Rahmen der Basileia-Verkündigung verortet werden, also als „Leben aus dem angekündigten und schon präsenten, alle Schuldvergangenheit aufhebenden Heil der Gottesherrschaft“ (Merklein 1992, 1026). Nicht umsonst beginnt die öffentliche Verkündigung Jesu im Markusevangelium mit den bekannten Worten:
Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! (Mk 1,15)
Mk 1,15 verlangt Umkehr „als Antwort auf die Ansage der Gottesherrschaft“ (Merklein 1992, 1027). Jesu Rede von der Umkehr ist also ganz in den Horizont der Reich-Gottes-Verkündigung gestellt und übersteigt daher die „Taufe der Umkehr“ (Mk 1,4) des Täufers, der sich dicht der prophetischen Umkehrbotschaft anschließt (Mt 3,7–10 par.). Die Androhung des Gerichts weicht der Zusage der Gottesherrschaft. Dabei verbindet sich Umkehr mit dem Glauben an das Evangelium und „gewinnt damit den Sinn der Bekehrung“ (Merklein 1992, 1027).
Immer deutlicher wird so auch der Bezug auf Jesus selbst. Umkehr ist Folge der Vergebung durch Gott, die eben in Jesus Christus geschieht – ein Sich-Einlassen auf Jesu Wort und Tat: „Wer angesichts des in Jesus erschienenen Heils nicht umkehrt, verfällt dem Gericht (Lk 10,13; 11,32)“ (Merklein 1992, 1029), denn Gottes letzte entscheidende Offenbarung fordert „letzte, unbedingte Entscheidung des Menschen: radikale Umkehr … entschlossene Hinkehr zu Gott“ (Behm 1942, 997), die sich im Glauben an Jesus konkretisiert. Umkehr ist also eher positive Bewegung auf Gott hin als eine negative Bewegung, eine Abkehr von der bisherigen Unwissenheit. Die Umkehr ergibt sich aus der Hinkehr.
Der Hebräerbrief – ein radikaler Außenseiter?
Aus der Fülle der weiteren neutestamentlichen Schriften sei an dieser Stelle kurz auf einen Solitär, einen Außenseiter, hingewiesen: den Hebräerbrief. Hebr 6,1f. beschreibt die Umkehr als Hinwendung zu dem einen Gott und thematisiert daneben die Unmöglichkeit der zweiten Buße.
Denn es ist unmöglich, Menschen, die einmal erleuchtet worden sind, die von der himmlischen Gabe genossen und Anteil am Heiligen Geist empfangen haben, die das gute Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt kennengelernt haben, dann aber abgefallen sind, erneut zur Umkehr zu bringen; denn sie schlagen jetzt den Sohn Gottes noch einmal ans Kreuz und machen ihn zum Gespött. (Hebr 6,4ff.)
Im Ton einer scharfen seelsorglichen Zurechtweisung und Warnung wird so der „Ernst der ... Umkehr“ (Behm 1942, 1001) betont, die als eine „Existenzwende zum eschatologischen, d.i. unübertreffbaren Heilsbereich und zu Gott verstanden“ (Löhr 1994, 286 f.) wird, ein Vorgang, in dem göttliches Handeln und menschliche Entscheidung zusammengedacht sind. Diese paränetisch orientierten Abschnitte sind in ihrer Zuspitzung und Schärfe des Umkehrgedankens im Neuen Testament ohne weiteres Beispiel.
Seht, ich mache alles neu! (Offb 21,5)
In der Offenbarung des Johannes ist häufig von Umkehr die Rede (Offb 2,5.16.21.22; 3,3.10), die sich in der Forderung nach einen Rückzug „aus allen Beziehungen zum heidnischen Opferkult“ konkretisiert (März 2001, 366). Ansonsten droht nach dem Seher das Gericht (Offb 2,5.16.22; 3,3). Hier ist also weniger eine Bekehrung als vielmehr eine Rückkehr der Christen „zum ursprünglichen Tun (2,4f; …), das der übernommenen und zu bewahrenden Lehre entspricht“ (Merklein 1992, 1030), im Blick.
Im Hintergrund steht dabei die Überzeugung, dass die Weltgeschichte auf ihre Vollendung zuläuft. Dies findet in der Gottesrede im Ich-Stil in Offb 21,5 ihren Höhepunkt: „Seht, ich mache alles neu.“ Gott selbst gestaltet die Lebensverhältnisse in der neuen Schöpfung grundlegend um und verbürgt sich zudem selbst für „die Zuverlässigkeit seiner Worte“ (Ritt 1986, 106) – er selbst ermöglicht Umkehr.
Gott hat Anspruch – er erhebt ihn, wenn er sein Reich, seine Herrschaft nahekommen lässt. So fordert Jesus „die Hörer seiner Botschaft zu einer radikalen Neuorientierung ihres gesamten Lebens“ (Söding 2014, 19), zu Umkehr und Glaube auf (Mk 1,14f.). Dies bedeutet Solidarisierung mit Jesus selbst. Doch die Zeit Jesu, die „zur Fülle gekommene Zeit“ ist nicht die „Stunde Null“ der Heilsgeschichte (Söding 2014, 116), sie baut auf der Geschichte Israels, auf den Verheißungen Gottes an sein Volk auf.
3. Alles auf Anfang? – Vom Risiko der Umkehr
Umkehr ist Aufgabe des Menschen (Apg 2,38; 3,19; 8,22 etc.) und zugleich und zuallererst Gabe Gottes (Apg 5,31; 11,18; Offb 2,21), denn nur er allein kann Menschen zu Umkehr und Lebenserneuerung bewegen. Doch schließt eben dies die persönliche Bekehrung und die ständige Umkehr des Menschen ein. Spezifisch neutestamentlich ist die Umkehr durch ihre Gründung auf der eschatologischen Offenbarung in Christus (Apg 5,31). Christologisch kann so unter Umkehr insgesamt ein „Sich-Einlassen auf die Botschaft und die Person Jesu Christi“ verstanden werden (Lutz 2001, 368). Denn zur Botschaft Jesu gehört eine „kaum noch zu überbietende Radikalität der Nachfolge“ (Becker 1993, 449). Fast kompromisslos fordert die Gottesherrschaft, alles zu verkaufen, alles aufzugeben, was man besitzt (vgl. das Gleichnis vom Schatz im Acker und von der Perle Mt 13,44–46). Ein solches „Sich-Einlassen“ verläuft immer prozesshaft, selten auf „einen Schlag“ und erfordert zudem eine Risikobereitschaft, die nicht alltäglich ist, nicht alltäglich sein kann.
Diese Risikobereitschaft, dieses Ineinander von Aktivität des Menschen und gnadenhafter Ermöglichung durch Gott, die vollkommene Hinkehr zum Vater findet einen Ausdruck im bekannten Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32). Am Tiefpunkt angekommen, kommt es zur Entscheidung:
Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen. (V. 18)
Der verlorene Sohn weiß nicht, was ihn erwarten wird; er hofft auf Erbarmen, auf ein Leben als „Tagelöhner“ im Haus seines Vaters. Er wird überrascht werden – von der Güte und Liebe seines Vaters, der die Umkehr seines Sohnes nicht erzwingt, sondern sie erhofft und, als es soweit ist, sie feiert. Beide sind dabei ein großes Risiko eingegangen – wir als die nachösterliche Gemeinde aber wissen um die offenen Arme des Vaters und um das ausstehende Festmahl (Lk 15,22–24; vgl. auch Lk 14,15–24).