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Die Kirche als „fruchtbare Mutter“

Wie Papst Franziskus „die Freude der Evangelisierung“ wiedergewinnen möchte

Bereits in seiner „Brandrede“ in einer der Kardinalskongregationen zur Vorbereitung des Konklaves sprach der spätere Papst Franziskus von der Notwendigkeit, die „süße, tröstende Freude der Evangelisierung“, die ja „der Daseinsgrund der Kirche ist“, wiederzugewinnen. Dabei dürfe die Kirche „nicht um sich selbst kreisen“. Dies war ein erstes und wohl wahr­­genommenes Signal, dem andere folgten. Mariano Delgado zum Kir­­chenverständnis von Papst Franziskus.

Im März dieses Jahres wurde Papst Franziskus in Corriere della Sera nach der Bilanz des ersten Jahres seines Pontifikats gefragt (Corriere della Sera 2014). Seine Antwort ist eine gute Kostprobe seines Humors: „Bi­lanz eines Jahres? Nein, mir gefällt diese Art von Bilanzieren nicht. Ich ziehe alle zwei Wochen Bilanz – vor meinem Beichtvater“. Das Inter­view enthält auch Substantielles: wenn nicht eine Bilanz, so doch die Meinung des Papstes über wichtige Aspekte seines ersten Amtsjahres. Er bezeichnet „Zärtlichkeit und Barmherzigkeit“ als die Mitte des Evan­geliums und ist bemüht, das Papstamt zu entmythologisieren: „Der Papst ist ein Mensch, der lacht, weint, ruhig schläft und Freunde hat, wie alle anderen, eine ganz normale Person also“. Sein Wunsch nach einer armen Kirche und einer Kirche für die Armen sei nicht „Pau­perismus“, sondern ein Ernstnehmen der Gerichtsrede Jesu nach Matthäus 25. Es gehe nicht darum, die Lehre in den Grundzügen zu ändern, sondern sich darin zu vertiefen und den neuen Gegebenheiten anzupassen. Das Wichtigste in der Ökumene sei, dass wir vereint mar­schieren, wie 1964 von der Begegnung zwischen Paul VI. und Athena­goras gesagt wurde.

Jorge Mario Bergoglio wurde am 13. März 2013 zum neuen Papst ge­wählt und er wählte seinerseits den Namen „Franziskus“, was ein Novum in der Papstgeschichte darstellt, obwohl es darin etliche Päpste aus der franziskanischen Familie gegeben hat. Für Puristen unter den Papsthistorikern ist dies ein Tabubruch, denn bisher haben alle Päpste traditionsbewusst die Namen fortgeführt, die im ersten Jahrtausend vorkamen. Nur der Papst aus Argentinien, der sonst um ein bescheide­nes Auftreten bemüht ist, nahm sich das Recht, die ungeschriebenen Regeln der Papstgeschichte zu ändern – so können wir auf weitere Tabu­brüche gespannt sein, denn Argentinier, das weiß man in der hispani­schen Welt sehr gut, reden wie Goldmund, und ihnen mangelt es nicht gerade an Selbstbewusstsein. Vielleicht waren doch die besten Schlag­zeilen zur Papstwahl die, die eine kolumbianische Zeitung produzierte: „Argentino, pero humilde“ (Argentinier, aber bescheiden).

Wiedergewinnung der Freude der Evangelisierung

Bereits beim Konklave von 2005 war Bergoglio für eine beachtliche An­zahl von Kardinälen der Wunschkandidat gewesen. Dass er nun, acht Jahre später, im fünften Wahlgang mit großer Mehrheit gewählt wurde, hat nicht zuletzt mit der „Brandrede“ zu tun, die er am 9. März in einer der Kardinalskongregationen zur Vorbereitung des Konklaves hielt (vgl. Papst Franziskus, Rede Vorkonklave 2013). In dieser kurzen Rede findet sich schon in nuce das Programm seines Pontifikats.

Unter Bezug auf Paul VI. sprach er von der Notwendigkeit, die „süße, tröstende Freude der Evangelisierung“ wiederzugewinnen, zu der Jesus Christus selbst „uns von innen her“ antreibt. Dazu ist auch die Wieder­­ge­winnung der parrhesia, der prophetischen Redefreiheit innerhalb der Kirche nötig, ebenso der Wille, aus sich selbst herauszugehen – bis an die Grenzen der menschlichen Existenz: „die des Mysteriums der Sün­de, die des Schmerzes, die der Ungerechtigkeit, die der Ignoranz, die der fehlenden religiösen Praxis, die des Denkens, die jeglichen Elends“. In sich selbst verschlossen zu bleiben, das wäre kirchlicher und theologi­scher „Narzissmus“, oder eine „mondäne Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt“, in der „die einen die anderen beweihräuchern“. Bergoglio erinnerte an das Wort Jesu in der Offenbarung, „dass er vor der Tür steht und anklopft“ (Offb 3,20). Und er kommentierte das so: „In dem Bibeltext geht es offensichtlich darum, dass er von außen klopft, um hereinzukommen. Aber ich denke an die Male, wenn Jesus von innen klopft, damit wir ihn herauskommen lassen. Die egozentrische Kirche beansprucht Jesus für sich drinnen und lässt ihn nicht nach außen treten“. Anschließend skizzierte Bergoglio das Profil des neuen Papstes: Es soll ein Mann sein, „der aus der Betrachtung Jesu Christi und aus der Anbetung Jesu Christi der Kirche hilft, an die existenziellen Enden der Erde zu gehen, der ihr hilft, die fruchtbare Mutter zu sein, die aus der ‚süßen und tröstenden Freude der Evangelisierung‘ lebt.“ In seinem Brief vom 25. März 2013 an die Teilnehmer der 105. Vollversammlung der argentinischen Bischofskonferenz geißelte Franziskus nochmals die „Selbstgefälligkeit“, den „Narzissmus“, die „mondäne Spiritualität“ und den „ausgeklügelten Klerikalismus“ als die Krankheiten der Kirche, die uns daran hindern, die „süße, tröstende Freude der Evangelisie­rung“ zu erfahren (Papst Franziskus, Brief 2013). Und in seiner Predigt vom 5. Mai 2014 im vatikanischen Gästehaus „Domus Sanctae Martae“ prangerte er „Eitelkeit“, „Machtstreben“ und „Geldgier“ (also Ehrsucht, Machtsucht und Habsucht in der Sprache Kants) als die Grundversu­chun­gen klerikaler Karrieristen in der Kirche an, die keinen Platz in der Kirche haben sollten (vgl. Papst Franziskus, Predigt 2014/1).

Viele Gesten und ein neuer Stil

Gleich zu Beginn seines Pontifikats wartete Franziskus mit neuen Gesten auf: Auf der Loggia der Petersbasilika erschien er in einfacher weißer Soutane und grüßte alle mit einem freundlichen „buona sera“; er sagte, dass die Kardinäle scheinbar bis ans Ende der Welt gegangen seien, um einen neuen „Bischof von Rom“ zu wählen, und bat seine neue Herde, für ihn still zu beten: ein Hauch epochaler kirchenhisto­rischer Wende lag in der Luft!

Neue Gesten waren ebenfalls bei der Messe zur Amtseinführung am 19. März deutlich zu merken (vgl. Papst Franziskus, Amtseinführung 2013). Erstmals seit dem Schisma von 1054 war mit Bartholomaios I. ein Ökumenischer Patriarch dabei, und das Evangelium wurde auf Grie­chisch ohne lateinische Übersetzung gelesen, während der Papst im einfachen, weißen Messgewand ohne jede Prunksucht die Eucharistie präsidierte. Abgesehen von diesen kleinen Zeichen ökumenischer Sensibilität ließ auch die Predigt aufhorchen:

In Anlehnung an das Tagesfest des Hl. Josef, der Maria und Jesus „hüte­te“, spricht Franziskus von der „Berufung zum Hüten“, die nicht nur uns Christen angeht, sondern „alle betrifft“. Wir sollen „‚Hüter‘ der Schöpfung, des in die Natur hineingelegten Planes Gottes sein, Hüter des anderen, der Umwelt“. Und Franziskus fügt hinzu: „Das sich Küm­mern, das Hüten verlangt Güte, es verlangt, mit Zärtlichkeit gelebt zu werden … Wir dürfen uns nicht fürchten vor Güte, vor Zärtlichkeit!“ Das Papstamt wird als Liebesdienst und als „Dienst zum Hüten“ ver­standen. Der Papst soll die Arme ausbreiten, „um das ganze Volk Gottes zu hüten und mit Liebe und Zärtlichkeit die gesamte Menschheit anzu­nehmen, besonders die Ärmsten, die Schwächsten, die Geringsten, die­jenigen, die Matthäus im Letzten Gericht über die Liebe beschreibt: die Hungernden, die Durstigen, die Fremden, die Nackten, die Kranken, die Gefangenen (vgl. Mt 25, 31-46)“.

Dass dies nicht nur rhetorisch gemeint war, geht aus seiner Predigt in Lam­pedusa am 8. Juli 2013 hervor (vgl. Papst Franziskus, Predigt Lampedusa 2013). Als Franziskus die Nachrichten über die dortige Tragödie hörte, habe er gespürt, dass „ich hierher kommen musste, um zu beten, um eine Geste der Nähe zu setzen, aber auch um unsere Ge­wis­sen wachzurütteln, damit sich das Vorgefallene nicht wiederhole“. Unter rhetorischem Rückgriff auf die ersten Fragen Gottes an die Menschheit („Adam, wo bist du?“ und „Kain, wo ist dein Bruder?“) erinnert er uns eindringlich an die Berufung zum Hüten des Nächsten, die uns in die Wiege gelegt wurde. Dem steht die Kultur der Gleichgül­tigkeit entgegen, die sich heute global ausbreitet: „Wir haben uns an das Leiden des anderen gewöhnt, es betrifft uns nicht, es interessiert uns nicht, es geht uns nichts an!“

Eine ähnliche Stoßrichtung hatte die Ansprache bei der Begegnung mit jungen Argentiniern in der Kathedrale von Rio de Janeiro am 25. Juli 2013. Franziskus ermutigte sie, „Wirbel zu machen“, hinauszugehen, sich um die „Randgruppen“ der Gesellschaft zu kümmern: „ich will, dass die Kirche auf die Straßen hinausgeht, ich will, dass wir standhal­ten gegen alle Weltlichkeit, Unbeweglichkeit, Bequemlichkeit, gegen den Klerikalismus und alles In-sich-Verschlossen-Sein“. Und dann em­pfahl er den Jugendlichen, die Seligpreisungen und Matthäus 25, den Kern des Evangeliums für den Poverello von Assisi, zu lesen, um die Freude der Evangelisierung mit deren Ernst zu verbinden: „Schau, lies die Seligpreisungen, die werden dir gut tun. Wenn du dann wissen willst, was du konkret tun musst, lies Matthäus, Kapitel 25. Das ist das Muster, nach dem wir gerichtet werden. Mit diesen beiden Dingen habt ihr den Aktionsplan: die Seligpreisungen und Matthäus 25. Ihr braucht nichts anderes mehr zu lesen. Darum bitte ich euch von ganzem Her­zen“ (Papst Franziskus, Predigt Rio de Janeiro 2013).

Man könnte noch zahlreiche Gesten der Demut und der Zärtlichkeit in Erinnerung bringen, die uns allen präsent sind, oder das „Vorleben von Bescheidenheit und selbst gewählter Armut“ hervorheben. In ihrer Bi­lanz des ersten Amtsjahres spricht die Katholische Internationale Pres­seagentur (KIPA) vom „Papst für die Armen“ und vom „Bergoglio-Style“ (KIPA 2014). Andere sprechen von der „Mystik des neuen Papstes“ (Maier 2014; vgl. auch Waldenfels 2014). Aber hinter all diesen Gesten geht es Franziskus von Anfang an um den „einen Stil“, den er in Evangelii gaudium (= EG) deutlicher umreißt und von dem er sagt, er möchte alle einladen, ihn „in allem, was getan wird“, zu übernehmen (EG 18). Gemeint ist, was eingangs schon erwähnt wurde: die Wieder­gewinnung der Freude der Evangelisierung und das Betrachten von „Zärtlichkeit und Barmherzigkeit“ als die Mitte derselben. Gemeint ist die klare und einladende Präsentation des Evangeliums, wie es in der mystischen Tradition des Christentums verstanden wird: Es geht um das zarte Liebeswerben eines Gottes, der, weil er die immer sprudelnde Quelle der Liebe und der Gnade ist und „uns zuerst geliebt“ hat (1 Joh 4,19), die Initiative ergriffen hat, als guter Hirt bei uns zu wohnen und mit unendlicher Geduld und Barmherzigkeit auf die freiwillige Hingabe unserer Liebe zu warten. Denn als sein Ebenbild sind wir zur Freiheit und zur „Liebesheirat“ mit ihm berufen! Gemeint ist ein Christentum, das um den Ernst der Nachfolge weiß und Gottesliebe mit Nächsten­lie­be verbindet. Gemeint ist ein Stil, der das Recht der Gläubigen respek­tiert, zunächst gehört und nicht belehrt zu werden, denn auch die Schafe wissen um Gott und haben ein Gespür für den Glaubenssinn. Gemeint ist schließlich ein Stil, der die Not der Seelen wahrnimmt und darauf nicht mit dem Kirchenrecht, sondern mit Barmherzigkeit ant­wor­tet. Das ist der bereits von Johannes XXIII. in seiner Ansprache zur Eröffnung des Konzils am 11. Oktober 1962 angemahnte „pastorale“ Stil der Kirche in der Welt von heute, und das ist der von Paul VI. in seiner Rede zur Klausur des Konzils am 8. Dezember 1965 skizzierte Stil einer „samaritanischen“ Kirche (zur „samaritanischen Kirche“ beim Konzil und im Dokument von Aparecida 2007 vgl. Gutiérrez 2013) – und es tut gut, dass Papst Franziskus nun deutlich daran anknüpft, nachdem die­ser Stil in den letzten Jahrzehnten ein wenig in Vergessenheit geraten und die doktrinäre Sprache des 19. Jahrhunderts gegen die Irrtümer der Zeit wieder gefragt war (vgl. dazu z. B. die Erklärung der Glaubenskon­gregation „Dominus Iesus“ vom 6. August 2000).

Reformbewusstsein im Zeichen der Evangelisierung

Das Reformbewusstsein des Papstes äußert sich in seiner Aufforderung in Evangelii gaudium, „die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um auf dem Weg einer pastoralen und missionarischen Neuausrichtung voran­zuschreiten, der die Dinge nicht so belassen darf wie sie sind“ (EG 25). Nun, mit dem Wort „Neuausrichtung“ geht in der deutschen Überset­zung einiges aus der Semantik des spanischen Originals verloren. Denn Franziskus spricht von conversión, also von einer inneren Einsicht in die Notwendigkeit einer „Umkehr“ oder „metanoia“ im biblischen Sinne. Franziskus schwebt eine umfassende kirchliche Erneuerung vor, „damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und je­de kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient“ (EG 27). Seine Wahr­nehmung des Ist-Zustandes der Kirche ist nicht nur vom Bewusstsein der Notwendigkeit einer Kirchenreform geprägt, sondern auch vom Wissen um die Befindlichkeit des Kirchenvolkes angesichts der Polari­sierungen im Schatten der Konzilsrezeption. Im Interview mit Antonio Spadaro sagte er: „Ich sehe ganz klar, dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Men­schen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht“ (Spadaro 2013, 47 f.). Kann ein Papst den Reformerwartungen in dieser Situation gerecht werden?

Franziskus will es allemal versuchen – und ihm kommt dabei seine jesuitische Prägung zugute. Hans Maier ist der Meinung, dass es dem Jesuiten-Papst am ehesten gelingen könnte: „die Kunst, das Prophe­tische zu organisieren“. Denn in keinem Orden wurde das Prophe­tische „so überlegt organisiert, so handgreiflich-praktisch ausgestaltet“ wie im Jesuitenorden. Darin verkörpere die Gesellschaft Jesu „eine spezifisch neuzeitliche Geisteshaltung“: „Die radikale Infragestellung alles nur Überlieferten, Etablierten steht am Anfang – alles wird unter das Gesetz Gottes gestellt (darin glich Ignatius Calvin). Aber die Radikalität des ste­ti­gen Neubeginns wird balanciert durch ein hohes Maß persönlichen Vertrauens in vernünftig erzogene, der Sache hingegebene Menschen im Orden, ihre Individualität, ihre Urteilskraft, ihre Fähigkeit zur Unter­scheidung. Daher achtet die Ordensleitung auf die Meinung vieler; sie gibt nicht einfach zentralistisch die Richtung vor. Der Ordensgeneral informiert sich gründlich, er fragt, vergewissert sich, ringt um Einsicht, betet“ (Maier 2014).

Als Sohn des hl. Ignatius von Loyola hat Franziskus die Kunst der Bera­tung, der Unterscheidung und der Entscheidung gelernt. Daher lautet sein modus operandi bei den Reformen: möglichst breite und freimü­tige Beratung (sehen), ruhige und kluge Abwägung (urteilen) und ent­schlossene Entscheidung und Durchführung (handeln). So geht er bei den bisher anvisierten Reformen vor, und so wird er es auch bei anderen tun. Einsame, blitzartige Entscheidungen ohne die entsprechende Kon­sultation wird es nicht geben.

Entsprechend seiner kurzen „Brandrede“ im Vorkonklave wünscht sich Franziskus keine Kirche, die mit sich selbst beschäftigt ist, sondern eine, die wirklich verstanden hat, was das Konzil sagte: dass sie „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1) ist, dass sie sich als „der Menschheitsfamilie … eingefügt“ (GS 3) versteht, und dass sie daher „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ als „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“ betrachtet; dass sie dabei „das Werk Christi selbst“ (GS 1) weiterführen möchte, „der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben; zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen“ (GS 3). Franziskus ist „eine ‚verbeulte‘ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist“ (EG 49).

Franziskus träumt von einer kirchlichen Erneuerung, „die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für die pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sor­gen, dass sie alle missionarischer werden, dass die gewöhnliche Seel­sorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ‚Aufbruchs‘ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet“ (EG 27).

Franziskus spricht von der Notwendigkeit „in einer heilsamen Dezen­tra­­lisierung voranzuschreiten“ (EG 16), die den Bischofskonferenzen und den Ortskirchen mehr Autonomie ermöglicht. Manches erinnert dabei an Karl Rahners Rede von den „Teilkirchen“, die in „Lehre, Leben und Kult“ eigene Wege gehen könnten, solange die grundlegende Kom­munion mit Rom gewährleistet ist. Ein Modell dazu wären die orienta­lisch-katholischen Kirchen. Ebenso heilsam sind die Kritik des „über­­trie­benen Klerikalismus“ (EG 102), der die Laien – „die riesige Mehrheit des Gottesvolkes“ (ebd.) – nicht in die Entscheidungen einbezieht (ob dies auch für die Bischofswahl gilt?), und der Wunsch nach Hirten mit dem „Geruch der Schafe“ (EG 24). Und er spricht auch von einer „Neu­aus­richtung des Papsttums“ (EG 32) im Sinne von mehr Kollegialität und einer Form der Primatsausübung, die der Ökumene dienlich ist. Franziskus erkennt an, dass man seit der Enzyklika Ut unum sint (1995) in dieser Sache wenig vorangekommen sei, und er hält fest: „Auch das Papsttum und die zentralen Strukturen der Universalkirche haben es nötig, dem Aufruf zu einer pastoralen Neuausrichtung zu folgen“ (EG 32). Man sieht: die „pastorale oder missionarische Neuausrichtung“ (EG 25, 27, 30, 32) ist das Wesentliche, und davon hängt alles andere ab. Und das bedeutet auch die Bereitschaft, von jenen kirchlichen Struk­turen Abschied zu nehmen, „die eine Dynamik der Evangelisierung beeinträchtigen können“ (EG 26). Damit wird die Evangelisierung zum hermeneutischen Prinzip der Kirchenreform (vgl. Delgado/Sievernich 2013, 29 f.).

Die Kirche ist frei

Wie dies zu verstehen sei, hatte Franziskus in seiner Homilie während der hl. Messe in Santa Marta vom 6. Juli 2013 angedeutet. Er ließ erken­nen, dass er seinen Dienst „petrinisch und paulinisch“ versteht, dass er also petrinische Einheitsverantwortung mit paulinischer Kühnheit ver­binden möchte. Während das Papsttum der letzten Jahrzehnte eher von der petrinischen Einheitsverantwortung und der Sorge um die Wahrung der Kontinuität in den Grundsätzen geprägt war, wäre es an der Zeit, mehr paulinische Kühnheit angesichts der Zeichen der Zeit walten zu lassen, bevor es zu spät ist. Papst Franziskus erinnerte an Jesu Wort von den neuen Schläuchen, die man für den neuen Wein benötige (Mt 9,17), bevor er auf das Jerusalemer Konzil anspielte: „Im christlichen Leben, wie auch im Leben der Kirche, gibt es einfallende Strukturen. Es ist er­forderlich, dass sie erneuert werden. Die Kirche hat stets auf den Dialog mit den Kulturen Rücksicht genommen und versuche, sich zu erneuern, um den unterschiedlichen Anforderungen zu genügen, die durch Ort, Zeit und Menschen an sie gestellt werden. Das sei eine Arbeit, die die Kirche immer gemacht hat, vom ersten Augenblick an. Erinnern wir uns an die erste theologische Auseinandersetzung: muss man, um Christ zu werden, alle religiösen jüdischen Gebote befolgen, oder nicht? Nein, sie haben nein gesagt“. Bereits in den Anfängen habe die Kirche gelehrt, „keine Angst vor der Neuheit des Evangeliums zu haben, keine Angst vor der Erneuerung zu haben, die der Heilige Geist in uns bewirkt, keine Angst vor der Erneuerung der Strukturen zu haben. Die Kirche ist frei. Der Heilige Geist treibt sie an“ (L’Osservatore Romano 2013). In der Pre­digt zur Morgenmesse vom 5. Juni 2014 betonte Franziskus erneut die (Reform-)Freiheit der Kirche: „Die Kirche ist nicht steif: die Kirche ist frei!“ (Papst Franziskus, Predigt 2014/2). Und mit einem Wort des spa­nischen Mystikers Johannes vom Kreuz lädt uns Franziskus in Evangelii gaudium zur immerwährenden Entdeckung der in Christus verborgenen Schätze ein: „Dieses Dickicht von Gottes Weisheit und Wissen ist so tief und unendlich, dass ein Mensch, auch wenn er noch so viel davon weiß, immer tiefer eindringen kann“ (EG 11).

Hinter diesen Zitaten versteckt sich das wesentliche Problem der Kir­chenreform: Verstehen wir die Kirche als die materielle Weiterdifferen­zierung der Substanz oder des Schatzes der Anfänge, so dass Neuent­wick­lungen nur in Kontinuität mit der Tradition möglich sind – oder haben wir das Recht, angesichts der Zeichen der Zeit, neue Traditionen zu inaugurieren, weil die Kirche frei ist und wir in der Kraft des Geistes aus den in Christus verborgenen Schätzen Neues zutage fördern können?

Spirituelle Erneuerung und Kirchenreform

Papst Franziskus weiß, dass die Dinge nicht so bleiben können, wie sie sind. Demgegenüber visiert er zunächst eine spirituelle Erneuerung zur Wiedergewinnung der Freude der Evangelisierung an. Dies ist das Ent­scheidende, denn Jesus klopft von innen an, „damit wir ihn herauskom­men lassen“, da­­mit wir ihn in den Armen und Leidenden entdecken, damit wir zum Widerschein seines Lichtes werden, wie es der Mond mit der Sonne tut (Kirche als „mysterium lunae“, wie die Kirchenväter sag­ten). Es geht Franziskus zunächst um eine spirituelle Einkehr und einen neuen Stil der Evangelisierung in den Fußspuren Jesu und im Sinne des Konzils.

Franziskus schwebt auch eine behutsame, mit jesuitischer Klugheit be­triebene Kirchenreform vor. Diese ist bisher nur in Konturen erkennbar und soll auch beim Papsttum (Ökumene, Kollegialität, Dezentra­li­sie­rung) nicht Halt machen. Ihr Prinzip ist, von jenen kirchlichen Struktu­ren Abschied zu nehmen, „die eine Dynamik der Evangelisierung be­einträchtigen können“ (EG 26). Was damit gemeint ist und ob diese Kirchenreform auch die Ämterfrage (Zulassungsbedingungen) und die Laienfrage (mehr Verantwortung) einschließt, wird sich bald zeigen müssen.

Als Franz von Assisi sich 1209 mit „zwölf“ seiner Brüder nach Rom auf­machte, um von Papst Innozenz III. die Bestätigung ihrer Lebens­weise zu erbitten, hatte dieser machtbewusste Nachfolger Petri, der als erster den Titel eines „Stellvertreters Christi“ für sich exklusiv beanspruchte, bekanntlich einen Traum: Die Kirche zerfällt, und der Poverello werde sie stützen und aufrichten. Wir alle kennen das Fresko Giottos. Nun hat ein anderer Franziskus „als Papst“ einen Kirchentraum: Er träumt von einer missionarischen und pastoralen Erneuerung (conversión), „die fä­hig ist, alles zu verwandeln“ (EG 27). Angesichts der Struktur der katho­­lischen Kirche wird bei dieser Erneuerung vieles davon abhängen, in­wie­weit der Papst selbst sein Wirken als „Tutiorismus des Wagnisses“ (Karl Rahner) versteht und nicht nur „petrinische Einheitsverantwor­tung“, sondern auch „paulinische Kühnheit“ zeigt, um die nötigen und nicht aufschiebbaren Reformen zu inaugurieren – auch wenn die heutigen Pharisäer im Namen der Tradition die Innovationen ablehnen (vgl. Apg 15,5 sowie Delgado 2013).

Hinweis:
Der deutsche Text von Evangelii gaudium wird nach der amtlichen Übersetzung in www.vatican.va zitiert. Hin und wieder wird auch auf den spanischen Originaltext aus derselben Quelle verwiesen.