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Die Freude des Evangeliums als Ausgangspunkt für die Veränderung (in) der Kirche.

Evangelii Gaudium als päpstliche Vision

Es kam schon wie ein unverhoffter Blitz aus heiterem Himmel, als am 24. November 2013 das Apostolische Schreiben „Evangelii Gaudium“ (EG) veröffentlicht wurde. Waren viele Beobachter davon ausgegangen, dass in Lumen Fidei die Quintessenz der Ordentlichen Bischofssynode vorliege, war das Erstaunen umso größer, dass Papst Franziskus mit sei­nem nun ersten allein vorgelegten Text nicht nur in den Geleisen der neuen Evan­gelisierung verbleibt, die seine beiden Vorgänger gelegt hat­ten. Vielmehr bietet uns der Papst aus Argentinien in EG nicht nur ein nachsynodales Schreiben, sondern etwas Eigenes, eine eigene Missions­theologie und -pragmatik, die eine grundlegende Ermutigung zur Evan­gelisierung und zum Aufbruch als Glaubender und als Kirche darstellt. Ein neuer Stil als Inhalt der evangelisierenden Erneuerung ist die Vision und Aufforderung zum pastoralen Aufbruch mit dem Ziel, dass die Strukturen der Kirche missionarischer, expansiver, offener werden (Nr. 27). Dieser neue Stil beginnt mit der Sprache des Dokuments: einfach ist sie, belebt, bildreich und appellativ, direkt, fast im Predigtstil, ermuti­gend, aber auch herausfordernd, eine Sprache der Leichtigkeit statt schwe­­rer Kost, eine Sprache, die Theologie vom Leben her denkt und auch so formuliert. Viele, die anfingen zu lesen, konnten nicht aufhören, weil sie so gefesselt waren von der Realitätsnähe und pastoralen Aktua­li­tät dieses Dokuments, mancher sagte: „Das ist einmal ein päpstliches Schreiben, das ich als Nicht-Theologe auch verstehe.“ Es ist auffällig, dass sich Franziskus in seinen Zitationen nicht nur auf das II. Vatikani­sche Konzil und einschlägige Lehrverkündigung regionaler Bi­schofs­konferenzen bezieht, sondern insbesondere auf das Abschluss­dokument der lateinamerikanischen Bischöfe in Aparecida 2007 sowie auf Evangelii Nuntiandi Pauls VI von 1975 zurückgreift. Das Leitmotiv seiner Theologie ist die Freude am Evangelium, die sich in der Barmher­zigkeit (Nr. 37) einer einladenden Kirche widerspiegeln soll. Dieses Grundmotiv durchzieht wie ein roter Faden als Ermutigung und Her­aus­forderung zum kirchlichen Aufbruch das gesamte Dokument. Der Bischof von Rom zeigt deutlich, dass es nicht mehr so weiter gehen kön­ne wie bisher. Sondern dass von einer „bewahrenden“ Pastoral zu einer „entschieden missionarischen Pastoral“ übergegangen werden müsse. Diese von ihm so genannte „missionarische Umgestaltung der Kirche“ wird in vielen Facetten durchleuchtet. Indem er das missionarische Han­deln als Paradigma für alles Wirken der Kirche (Nr. 15) sieht, knüpft er an die Gedanken des französischen Dominikaners Marie-Dominique Chénu an, dessen Denken insbesondere das konziliare Dokument Gaudium et Spes prägte: Die Kirche hat oder macht keine Mission, sie ist Mission, muss sich gewissermaßen im Stadium der Mission befinden („l’église en état de mission“). Dabei vermeidet Franziskus eine Engfüh­rung auf Lehre oder Verkündigung, will vielmehr alle Aspekte in die Evangeli­sie­rung einbeziehen.

Seine Missionstheologie des Hörens und Verkündigens wird anhand der Hermeneutik des Evangeliums in Homilie und Vorbereitung auf die Pre­digt durchmeditiert: „Wer predigen will, der muss zuerst bereit sein, sich vom Wort ergreifen zu lassen und es in seinem konkreten Leben Gestalt werden zu lassen“ (Nr. 150). Die Vorbereitung auf die Predigt wird so zu einer gemeinschaftlichen Übung der Unterscheidung der Geister, wie das Evangelium in der konkreten Situation Gestalt gewin­nen kann. Dazu muss der Prediger (also jeder Zeuge, H. S.) sein Ohr am Volk haben, das heißt, sich vertraut machen „mit den Wünschen, Reich­tümern und Grenzen, mit der Art zu beten, zu lieben, Leben und Welt zu betrachten, wie sie für eine bestimmte Menschengruppe charakte­ristisch sind“ (Nr. 154, als Zitat von EN 63). Als „Zielgruppe(n)“ einer solcherart verstandenen Evangelisierung kommt also zunächst das Ich/Wir im Sinne einer Selbstevangelisierung/Umkehr in den Blick, dann in einem weiteren Schritt der Andere im normalen alltäglichen Leben, die christliche Schwester und der Bruder, dann „Fernstehende“ und solche, die das Evangelium nicht kennen oder den Glauben ablehnen. Zumindest erreicht werden sollen sie alle mit der Botschaft des Evangeliums, auch wenn dem Papst natürlich bewusst ist, dass die Annahme der Botschaft eine autonom-personale Freiheit vor­aussetzt.

Grundlage für die Verkündigung der Botschaft ist für den Papst die Be­gegnung und Gemeinschaft mit Christus. So lädt er gleich zu Anfang in fast freikirchlich anmutendem Duktus jeden Christen ein, „gleich an welchem Ort und in welcher Lage er sich befindet, noch heute seine persönliche Begegnung mit Jesus Christus zu erneuern oder zumindest den Entschluss zu fassen, sich von ihm finden zu lassen, ihn jeden Tag ohne Unterlass zu suchen“ (Nr. 3). In dieser Dialektik des Suchens und Findens versteht Franziskus die persönliche Berufung jedes Einzelnen von Gott her. Ekklesial wird dies eingeholt von einer Kirche, die nicht in selbstreferentieller Weise sich selbst und ihre Binnenvollzüge in den Mittelpunkt stellt, sondern eine Kirche, die hinaus auf die Straße geht, eine Kirche, die sich einmischt, eine „verbeulte“ Kirche (49), die sich auch angreifbar macht, sich jedenfalls nicht heraushält aus den Debat­ten und Prozessen des Lebens. Damit gilt es, das Evangelium, mit des­sen Verkündigung die Kirche beauftragt ist, auf seinen inneren Kern hin zuzuspitzen und zu elementarisieren, zu konzentrieren auf das, was schöner, größer, anziehender und zugleich notwendiger ist. Erst das Leben, dann die Lehre, könnte man sagen. Der Papst vertritt in einer bislang in päpstlichen Verlautbarungen ungewohnten Offenheit und eine pragmatische Hierarchie der Wahrheiten und verbindet damit die Aufforderung, diese Konzentration selbst erst einmal wieder für sich zu lernen und auszu­pro­bieren, um selbst (wieder) zu einem glaubwürdigen Zeichen und Zeugnis zu werden.

Die Eucharistie ist für ihn auf diesem Hintergrund nicht etwas, das man sich verdienen muss, sondern symbolisiert eine Kirche, deren Türen weit geöffnet sind für die Menschen. So sind die Sakramente für ihn die Stärkung auf dem Weg, die „Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sa­kra­mentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkomme­nen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwa­chen“ (Nr. 47). Diese Kirche besteht vor dem lateinamerikani­schen Erfahrungshorizont Bergoglios im Volk Gottes, das mehr ist als Institution und Hierarchie. Das Volk Gottes ist „Ein Volk für alle“, das Ferment Gottes inmitten der Menschheit, es ist die Kirche als Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeit von Gott her. Die Vielgestaltigkeit die­ser Kirche begreift Franziskus als Reichtum, nicht als Mangel an Unifor­mi­tät. Von der Berufung und Zusage Christi her entfaltet sich in dieser Kirche die Rolle jedes Getauften als missionarischer Jünger und aktiver Träger der Evangelisierung (Nr. 120). Daher kommt der Papst „vom an­deren Ende der Welt“ auch zu seiner positiven Wertung der Volks­fröm­migkeit. Für ihn ist dies die Art und Weise, wie der Glaube in einer Kul­tur Gestalt angenommen hat, „in der Kultur der Einfachen verkörperte Spiritualität“ (Nr. 124). Er wendet damit den missionswissen­schaftli­chen Begriff der Inkulturation des Evangeliums unmittelbar an und lässt fragen, was denn in verschiedenen Teilen dieser Welt, also auch in Deutschland, eine solche Volksfröm­migkeit wäre, in der sich der gläubi­ge Sinn des Volkes manifestiert. Mit diesen Akzenten kommt das Den­ken des Franziskus – und darin zeigt es sich als eine bestimmte Variante befreiungstheologischer Tradition  – zu der zentralen Bedeutung der Armen, nicht nur als den ersten Adressaten des Evangeliums, sondern als Ausgangspunkt, Prinzip und Herausforderung des Kirche-Seins.

Entgegen manchen Versuchen, Evangelisierung allein als ein kognitiv-instruktionsorientiertes Verkündigungsgeschehen zu begreifen, entfaltet der Papst in den Mittelteilen seines Schreibens die soziale Dimension des Evangeliums: Die Radikalität der Botschaft des Evangeliums bedingt den Eigentumswechsel in der Abkehr von den „bösen Mächten“ in die Sphäre Gottes. Von dorther ist seine (von manchen als billige Kapitalismuskritik missverstandene) Absage an die absolute Macht von Finanzströmen und Marktmechanismen zu lesen. Der Markt muss dem Menschen die­nen, und Gerechtigkeit ist das Kriterium, an dem das Wirtschaften ge­messen werden muss. Seine vier Absagen („Nein zu …“) gelten einer Wirtschaft der Exklusion, einer neuen Vergötterung des Geldes und sozialer Ungleichheit.

In dem Kapitel „In der Krise des gemeinschaftlichen Engagements“ entwickelt der Papst seine Sicht einer ambivalenten gesellschaftlichen Gegenwart. Dabei ist ihm wichtig, nicht eine soziologische neutrale Analyse zu bieten, sondern aus seiner ignatianischen Tradition heraus eine Unterscheidung der Geister (discretio spirituum) anhand des Evangeli­ums vorzunehmen. Möglicherweise lesen sich deswegen manche Passa­gen seiner „gesellschaftlichen Analyse“ manchmal ein wenig kulturpes­simistisch, etwa, wenn „zwischenmenschliche Beziehungen…, die nur durch hoch entwickelte Apparate vermittelt werden, durch Bildschirme und Systeme, die man auf Kommando ein- und ausschalten kann“ (Nr. 88), beschrieben werden. Auf der anderen Seite ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass gerade die sozialen Kommunikationsmittel auch mani­pu­lative und ökonomistische Tendenzen in sich tragen, da sie „von Zen­tren im Norden der Welt gelenkt“ werden. Der Papst beschreibt die Ge­fahr einer „abgeschotteten Geisteshaltung“, in die eine „Isolierung als falsch verstandene Autonomie“ hineinführen kann, ein „Gnostizismus als in Subjektivismus eingeschlossener Glauben“. Hier wäre gerade im Anschluss an die entsprechenden Formulierungen der neuen Evangeli­sierung zu überprüfen, auf welchem Hintergrund Franziskus Prozesse der Modernisierung wahrnimmt und deutet. Auch in EG ist nicht von der Hand zu weisen, dass Säkularisierung als „ethische Deformation“ und „fortschreitende Zunahme des Relativismus und allgemeiner Orientierungslosigkeit“ verstanden wird. An anderen Stellen des Doku­ments begegnet jedoch eine ganz andere, eine positive Perspektive auf Modernisierungstendenzen: Es ist die Herausforderung der Stadtkul­turen, die eine neue Wahrnehmung Gottes erlauben, „mit einem Blick des Glaubens [zu] erkennen, der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häu­sern, auf ihren Straßen und auf ihren Plätzen wohnt“ (Nr. 71). Die Stadtkul­­tu­ren bieten nach Franziskus „neue Geschichten und Para­dig­men, neue Formen, mit Gott, mit den anderen und mit der Umgebung in Beziehung zu treten“. Hier begegnet eine Offenheit für neue Formen der Wahrnehmung der Gottespräsenz, die ermutigt, auf entsprechende Entdeckungsreisen zu gehen. Ein Horizont der Kontextualität der Got­tes­erfahrung wird eröffnet, der mit dem Bild von der vielfältigen Kirche mit den unterschiedlichen Zeugnissen als Reichtum korrespondiert. Auf dieser Folie erscheint eine überzogene Bürokratie in der Kirche als Hin­der­nis der Evangeli­sierung. Der Papst brandmarkt Haltungen, mit de­nen sich kirchliche Akteure zu „Verwaltern der Gnade“ stilisieren, auch andere Defizite bei den Verkündigern werden schonungslos benannt und in viele Wunden wird der päpstliche Finger gelegt.

Der Papst scheut sich nicht, auch kontrovers diskutierte Themen anzu­sprechen. Im Verhältnis von Laien und Priestern bekennt sich der Papst zum Bewusstsein der Verantwortung aus Taufe und Firmung, das noch weiter wachsen muss. Er prangert übertriebenen Klerikalismus an, da wo priesterliche Vollmacht als Herrschaft, nicht als Dienst verstanden wird. In diesem Zusammenhang lassen seine Formulierungen von der „Funktionalität“ des priesterlichen Amtes aufhorchen, wurde doch lange Jahre gerade die Ontologie des Amtes als Unterscheidendes zur Grund­berufung in Taufe und Firmung gedeutet. EG unterstützt den wachsenden Beitrag von Frauen in der Kirche, der essentiell wichtig ist, obwohl der Papst keinen Zweifel daran lässt, dass die Debatte um die Priesterweihe von Frauen für ihn kein Thema ist. An einigen Stellen lässt Franziskus die zentrale Bedeutung der Pfarrei aufscheinen, die verschiedene Formen annehmen und gerade deshalb „innere Beweg­lich­keit und missionarische Kreativität“ (Nr. 28) entwickeln kann, ein Gedanke, der sicherlich in den aktuellen Veränderungen der pastoralen Strukturen in Deutschland handlungsorientierend weitergedacht wer­den kann. Insgesamt stellt Franziskus einige allgemeine, in Gegensät­zen formulierte Prinzipien auf, die sich lohnen, als Optionen für ver­schiedene Kontexte angewendet zu werden: Die Zentralität hat immer der Dezentralität zu dienen, die Einheit wiegt mehr als der Konflikt, die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee, das Ganze ist dem Teil überge­ordnet.

Der große Mehrwert von EG ist ein Gesamtentwurf, der nach vielen isolierten Äußerungen, die aufhorchen ließen, das Denken dieses Papstes für eine missionarische Neuausrichtung der Kirche aufzeigt. Man darf gespannt sein, ob es ihm angesichts mancher Beharrungskräf­te in und außerhalb Roms gelingen wird, diese Vision einer Kirche, die die Freude und Barmherzigkeit des Evangeliums zur Gestalt bringt, weitere Kreise ziehen zu lassen. Jedenfalls haben die vielfältigen Bemü­hungen der Kirche in Deutschland, eine pastorale Entwicklung mit einer missionarischen Grundorientierung einzuleiten, mit EG ungeheu­ren Rückenwind erhalten. Immerhin – und das ist angesichts aller mög­lichen Rückschläge oder Enttäuschungen auf dem Weg zu einer missio­narischen Kirche eine Ermutigung: „Mission ist weder ein Geschäft noch ein unternehmerisches Projekt, sie ist keine humanitäre Organisa­tion, keine Veranstaltung, um zu zählen, wie viele dank unserer Propa­ganda daran teilgenommen haben; es ist etwas viel Tieferes, das sich jeder Messung entzieht“ (Nr. 279). Dieses Tiefere ist das Geheimnis des menschgewordenen und zugewandten Gottes, der im Mysterion schafft und wirkt, an dessen Wirken die Zeuginnen und Zeugen des Evangeli­ums Anteil haben können.

Es bleibt aus dem Dokument noch vieles zum Weiterdenken und zur Inspiration, was hier nur ansatzweise oder gar nicht angedeutet werden konnte. Es lohnt sich, daraus zu lesen, allein, mit anderen, und immer wieder den Brückenschlag zu versuchen: Wie können und müs­sen Christen, wie kann und muss die Kirche sich verändern, um dieses Zeugnis heller, offener, großherziger, mutiger, gastfreundlicher und radikaler zu realisieren? Man kann diesem Schreiben nur wünschen, auch weiterhin eine inspirierende und ermutigende Grundlage zu blei­ben für den Dialog auf vielen Ebenen, wie die Kirche ihre Sendung ver­wirklichen kann. Es bleibt ein leidenschaftliches Plädoyer für eine evangelisierte und evangelisierende Kirche: „Ich träume von einer mis­sionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient“ (Nr. 27).