25 Jahre Mauerfall – Wandlungsprozesse in den Neuen Ländern
Aus der Geschichte lernen?
In sogenannten Jubiläumsjahren gibt es eine Konjunktur an historischen Rück- und Ausblicken. 25 Jahre nach dem politischen und gesellschaftlichen Umbruch ist das nicht anders. Neben Fachtagungen und Symposien über die DDR oder über die Rolle der Kirchen in der DDR gibt es Rückblicke mit der Zielsetzung, ein möglichst umfassendes Bild zu vermitteln. Die Ergebnisse schaffen zumeist einen besseren Informationsstand der Teilnehmer über die Lebensumstände in der ehemaligen DDR, kaum aber eine wirkliche Klärung historischer Zusammenhänge. Natürlich gehören zu solchen Rückblicken auch Überlegungen über die Katholische Kirche und kirchliches Leben in Mitteldeutschland. Was können solche Rückblicke und ihre Ergebnisse für die gegenwärtige Situation der Kirche in den Neuen Ländern bedeuten? Kann man möglicherweise aus der Geschichte der Katholischen Kirche in der DDR lernen?
Auf dem Historikertag 1962 fiel der Satz: „Schlimm sind diejenigen, die aus der Geschichte nichts lernen wollen, aber noch schlimmer diejenigen, die unbedingt aus ihr lernen wollen.“ Lernen im Sinne von Vermeidung von persönlichen Fehlern der Vergangenheit bzw. Verhinderung solcher ist nicht aus der Beschäftigung mit der Geschichte möglich. Gerade dies als Aufgabe von Geschichte sehen zu wollen, ist ein Irrtum. Die letzten anderthalb Jahrhunderte lehrten, was wir nicht aus der Geschichte lernen können. Das Wissen um die Vergangenheit gibt nicht die Gewissheit, dass wir das Vergangene bewahren können, bzw. sich Fehler und Katastrophen der Vergangenheit nicht wiederholen könnten. Ein Dictum von Mahatma Gandhi bringt dies so auf den Punkt: „Die Geschichte lehrt die Menschen, daß die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“
Ehemalige DDR-Bürger wissen nur zu gut, was es heißt, aus der Vergangenheit lernen zu müssen. Schon den Kindern wurden vermeintliche Lehren aus einer „Klassengeschichte“ pädagogisch geschickt aufbereitet präsentiert und ständig zu Postulaten des Handelns gemacht. Genutzt hat es nichts!
Aus dem Geschichtsverlauf lässt sich auch keine Strukturformel herleiten, woraus alles erklärbar würde, nicht bloß das Vergangene, sondern auch die Zukunft. Zur Geschichte gehört auch immer das Nichtwissen, Nichterklären-Können. Anhand von Geschichte alles erklären und verstehen zu wollen, heißt, sie zu instrumentalisieren; dann aber ist sie nicht mehr Geschichte, sondern Richterin, Anklägerin und Moralistin. So gilt auch, dass man sich der Vergangenheit zuwenden muss, ohne sie schon gleich für die Gegenwart einspannen zu wollen oder mit Fragestellungen an die Zukunft zu belasten. „Denn wer die Unverfügbarkeit der Zukunft verteidigt, verteidigt ein Stück menschlicher Freiheit“ (Nipperdey 1990, 366).
Wie verhält es sich mit der Kirchengeschichte? Kirchengeschichte ist Teil der allgemeinen historischen Arbeit. Sie wird natürlich auch in den sogenannten allgemeinen historischen Zusammenhängen und Einrichtungen betrieben. Allerdings kann diese Tätigkeit auch im Rahmen der Theologie ausgeübt werden (vgl. Markschies 1995, 2f). Dann verändert sich zwar nicht die allgemeine historische Methode, sondern erweitern sich die Fragerichtung der Forschung und der Gesprächszusammenhang der Disziplin. In diesem speziellen Umfeld fragt die Kirchengeschichte beispielsweise, wie weit historische Vollzüge, Entwicklungen, Ansichten und Traditionen in der Kirche gelungen oder misslungen sind. Sie trägt damit auf ihre Weise wie die ganze Theologie zur Entwicklung von Beurteilungskriterien für echte Verkündigung und ihre angemessene Sozialgestalt innerhalb und in bestimmten Grenzen auch außerhalb der Kirche bei.
Kirchengeschichte hat also eine kritische Funktion (vgl. Wolf 2004, 60). Sie überprüft, ob die Ergebnisse anderer theologischer Fächer mit den Ergebnissen der eigenen Forschung übereinstimmen. Ist dies nicht der Fall, sucht sie Gespräche mit diesen Fächern, um eine Korrektur zu erreichen. Kirchengeschichte ist aber auch konstruktiv, indem sie die ganze Bandbreite kirchlicher Traditionen, Überlieferungen oder theologisch-pastoraler Grundsätze für die heutige Diskussion präsent macht und so auch historische Alternativen zu angeblich ewigen Wahrheiten aufzeigt. Der Blick „auf die Christen früher“ und darauf, „wie sie mit ihrer spezifischen Situation mit den Problemen umgegangen sind“, bietet Orientierung, um heute, in einer ganz anderen Zeit, denselben Glauben zu leben (Lindner 2013, 18).
Katholizismusforschung als „Vergangenheitsbewältigung“?
Die Kirchengeschichte, näherhin die kirchliche Zeitgeschichte, muss natürlich die 45 Jahre von 1945 bis 1989 in den Blick nehmen. Die Forderung nach einer Aufarbeitung der DDR-Geschichte ist bis heute virulent. Eine geschichtlichen Aufarbeitung der letzten 45 Jahre oder das, was mit diesem Anspruch auftritt, erweckt allerdings den Eindruck, als ginge es nur darum, die Geschichte der DDR so schnell wie möglich aufzuarbeiten im Sinne einer Beendigung eines unerfreulichen Kapitels deutscher Vergangenheit. Möglichst schnell möchte man auch ein umfassendes Bild über die Rolle der Kirchen in der DDR erhalten; es geht, so wird behauptet, um „Vergangenheitsbewältigung“, und das bedeute, man könne mit dieser Vergangenheit fertig werden.
Richard Schröder hat seine Anmerkungen zum Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ gemacht (vgl. Schröder 1993). Ich halte sie für bemerkenswert und möchte daraus zitieren. Vergangenheitsbewältigung suggeriert, es ginge um eine zu bewältigende, in begrenzter Zeit zu schaffende Arbeit, von der man einmal sagen kann: „So, nun ist Vergangenheit bewältigt“. Vergangenheit, so Schröder, lässt sich, wenn überhaupt, nur höchstpersönlich bewältigen. […] Was sich aus unserer Biographie nicht gut erzählen läßt, das ist das, was wir gern anders hätten, Schuld und Versagen, aber auch einfach furchtbare Erlebnisse, an denen wir uns keine Schuld zuschreiben müssen, die uns aber belasten wie das Erlebnis einer Haft, eine schwere menschliche Enttäuschung oder ein Schicksalsschlag. Ich komme mit mir und dem, was ich erlebt habe, nicht zurecht. Für diese Lasten gibt es Hilfen, und hier hat das Wort ‚Vergangenheitsbewältigung‘ einen guten Sinn. Für den Christen, der sich in seiner Lebensführung zuletzt vor Gott verantwortlich weiß, kann Gebet und Beichte zu einer Hilfe für einen Neuanfang werden. Diese „Vergangenheitsbewältigung“ ist eine höchstpersönliche Sache. „Das aber setzt Diskretion und Abstand zur Öffentlichkeit voraus. Denn auf den Marktplatz gestellt, wird die Couch zum Pranger.“
In diesem Zusammenhang werden auch Christen in den Neuen Ländern sich fragen müssen, wie weit sie Chancen verpasst haben und manchen Herausforderungen nicht gerecht geworden sind. In seinem Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 1990 hatte Bischof Wanke formuliert: „Ja, auch wir (katholische) Christen haben Buße nötig. Jeder von uns wird bedenken müssen, wo er – mit oder gegen seinen Willen – in die allgemeine Unwahrhaftigkeit dieses Landes mitverstrickt war. Ich frage mich, ob ich als Bischof nicht noch deutlicher Unrecht und Lüge hätte beim Namen nennen müssen. Hatten wir vielleicht zu wenig Mut, besonders in den letzten Jahren, uns in die Gesellschaft einzumischen, um sie zu verändern? Haben wir Gott zu wenig zugetraut und uns zu sehr um uns selbst gesorgt? Mancher von uns wird sagen müssen: Ich habe den Weg des geringsten Widerstandes gewählt. Ja, wir haben Buße und Umkehr nötig und müssen Gott um Vergebung bitten, daß unser Glaube nicht mutiger und unser Zeugnis nicht eindeutiger war.“
Gegenstand kirchengeschichtlicher Forschung ist natürlich auch die Frage nach einer möglichen Verstrickung der katholischen Kirche in die Machenschaften eines totalitären Staates. Bei der „Aufarbeitung“ der Geschichte darf es der Kirche aber nicht in erster Linie und ausschließlich um Aufdeckung irgendwelcher Verstrickungen in die Machenschaften des totalitären Staates, besonders des MfS gehen. Natürlich ist Einsicht in „staatliche“ Akten wichtig, um schuldhafte Kollaboration aufzudecken, die Kirchenpolitik des Staates darzustellen oder kirchliche Handlungen auf dem Hintergrund staatlicher Pressionen deutlich zu machen. Der Kirche in den Neuen Ländern muss es darum gehen, ihre eigene Geschichte in einer Weise darzustellen, die entweder, negativ formuliert, erkennen lässt, dass öffentliches kirchliches Leben oft Reaktion auf staatliche Praktiken war oder positiv ausgedrückt, eine angefochtener, schwieriger Weg unter der Parole: „Nicht Bekämpfung des Sozialismus, sondern Aufbau des Leibes Christi“ gewesen ist. Und so muss im Vordergrund aller Beschäftigung mit der Geschichte der katholischen Kirche in der DDR eine theologische Fragestellung stehen, die so formuliert sein könnte: Wie ist die Kirche in einem totalitären System ihrer ureigensten Aufgabe gerecht geworden?
Katholische Kirche in den Neuen Ländern als paradigmatischer Fall?
Die Katholische Kirche in der DDR war eine „Flüchtlingskirche“. Sie entstand durch die Fluchtbewegungen am Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Jahre 1949 und war von rund 1 Million Katholiken auf 2,7 Millionen angewachsen. Viele Namen wurden den „Vertriebenen“ vor allem in der SBZ/DDR gegeben, um das Vertreibungsgeschehen zu verharmlosen bzw. den Verlust der nun zu den sogenannten sozialistischen Ländern gehörenden ehemaligen deutschen Ostgebiete ursächlich als Folge des „faschistischen Krieges“ zu interpretieren.
Mit unterschiedlichen Bildern, Thesen und Parolen versuchten die damaligen Bischöfe, eine Beheimatung der Vertriebenen und Flüchtlinge zu erreichen, das Verhältnis Staat - Kirche zu beschreiben sowie den Umgang mit dem SED-Staat und seinen Funktionären zu definieren.
Wilhelm Weskamm, Bischof von Berlin seit 1951, suchte als erster nach einem eigenständigen Weg der aus Flüchtlingen und Vertriebenen zusammengesetzten disparaten „Flüchtlingskirche“. Er verglich die kirchliche Situation in der DDR mit einer Gärtnerei: „Es ist so, wie wenn man eine Gärtnerei im Norden betreiben würde. Die ganze Atmosphäre ist areligiös und antireligiös.“ Der Meißner Bischof Otto Spülbeck umschrieb auf dem Kölner Katholikentag 1956 mit dem Bild des „Fremden Hauses“ das Dilemma der Christen in der DDR. „Aber wir leben in einem Haus, dessen Grundfesten wir nicht gebaut haben, dessen tragende Fundamente wir sogar für falsch halten. … Wir tragen gerne dazu bei, daß wir selbst in diesem Haus noch menschenwürdig und als Christen leben können, aber wir können kein neues Stockwerk draufsetzen, da wir das Fundament für fehlerhaft halten. Das Menschenbild des Marxismus und seine Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung stimmt mit dem Bild, das wir haben, nicht überein. Dieses Haus bleibt uns ein fremdes Haus….“
Dem Berliner Erzbischof Alfred Bengsch war es gelungen, die überaus schwierigen Verhältnisse für die katholische Kirche in der DDR nach dem Mauerbau 1961 zu ordnen. Zunächst galt es, Einheit und Zusammenhalt der Kirche zu sichern, was sowohl sein geteiltes Bistum Berlin betraf als auch die gesamte Kirche in der DDR. Angesichts staatlicher Ansprüche, aber auch innerkirchlicher Entwicklungen musste die Einheit bewahrt werden. Auf der einen Seite erläuterte er Christsein als In-der-Welt-Sein und definierte caritatives Handeln als „die Möglichkeit eines Hineinwirkens in die Gesellschaft, wie sie auf keinem anderen Gebiet in vergleichbarer Weise möglich ist.“ Auf der anderen Seite hatte er gegen die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“, die ein Hineinwirken der Kirche in die Gesellschaft postulierte, gestimmt. Dieser Dialektik entsprach auch ein Bild, mit dem er Christsein in der DDR umschrieb: Der Christ sitzt in der Löwengrube. Er wird den Löwen aber weder streicheln noch am Schwanz ziehen.
Nach dem politischen und gesellschaftlichen Umbruch von 1989 wurden in allen Bereichen die Strukturen der katholischen Kirche an die bundesdeutschen angepasst. Die ohnehin knapper werdenden finanziellen Ressourcen, die durch einen Finanzausgleich verteilt werden, verstärken den Spardruck erheblich. So stellt sich natürlich die Frage, ob die kleinen Bistümer überhaupt auf Dauer ökonomisch lebensfähig sind.
Bis 2014 sank die Zahl der Katholiken in den Neuen Ländern auf ca. 850 000, ist also aktuell geringer als 1945.
Thesenartig lässt sich feststellen: Die katholische Kirche in Mitteldeutschland war, ist und bleibt eine Minderheitenkirche. Wachstum und Abnahme der Gläubigen sind bis heute auf unterschiedlichste Migrationsbewegungen zurückzuführen. Glaubensverbreitung, Evangelisierung, Neuevangelisierung und Missionierung haben bisher zu keinem äußeren Wachstum geführt; selbst eine Stabilisierung des „status quo“ ist nicht gelungen.
Inwieweit die katholische Kirche in den Neuen Ländern ihr Profil bereits gefunden hat und welche pastoralen Spezifika auszumachen sind, bedürfen weiterer eigener bzw. weiterführender Untersuchungen. Mir scheint allerdings, dass sich die katholische Kirche in den Neuen Ländern verstärkt, wie schon seit den 1980er Jahren, als Kirche für alle Menschen dieses Landes versteht. Angesichts der doppelten Diasporasituation könnte es sogar sein, betrachtet man die Entwicklungen in den alten Bundesländern, dass sie eine Vorreiterrolle in einem pastoralen und caritativen Findungsprozess spielen könnte.
Wer allerdings nur flüchtig eine Bestandsaufnahme des kirchlichen Lebens im Osten macht, könnte geneigt sein zu urteilen: „Katholische Kirche im Osten? – Vergeblicher Versuch, volkskirchlich Überkommenes in Diasporaverhältnissen recht und schlecht aufrecht zu erhalten!“ (Vgl. Pilvousek, 2014, 20). Wie könnten der ostdeutsche Katholizismus und seine Erfahrung etwas zu dem gemeinsamen Weg der katholischen Kirche in Deutschland beitragen? Ich möchte bei der Beantwortung der Frage den emeritierte Erfurter Bischof Dr. Joachim Wanke zu Wort kommen lassen. Er erinnert an die Erfahrung, dass der Christ im Osten Abschied nehmen musste von der Meinung, der christliche Glaube müsse sich kraft seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit ausweisen. „Außer Frage steht, dass Glaube fruchtbringender ‚Humus‘ für eine humane Gesellschaft sein kann.“ Wichtiger wird sein, so Wanke, „dass wir uns auf den ‚Acker‘ dieser Welt und Gesellschaft ausstreuen lassen, uns in Nachahmung der Gesinnung unseres Herrn ‚unterpflügen‘ lassen. Man geht dabei nicht unter. Das haben mir immer wieder Gläubige bestätigt, die allen Grund gehabt hätten, ordentlich ‚frustriert‘ zu sein – auch nach der ‚Wende‘. Hier sehe ich Zukunftweisendes, auch für die Gestalt von Christ- und Kirchesein unter den Bedingungen einer freien, liberalen, ökonomisch orientierten Gesellschaft.“