Religion als Beziehung mit der Welt
Bruno Latours Existenzweisen
„Die Erde scheint sich […] zu wehren gegen den Menschen, der immer denkt, dass er alles kann und alles weiß“. Die Aussage des deutschen Bundestrainers Jogi Löw in einer Videoschalte des DFB zur Coronakrise (18.3.2020) klingt erstaunlich nach den Thesen des französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latour. Er hält ganz Ähnliches in seinem 2012 erschienen Hauptwerk Existenzweisen. Eine Anthropologie der Moderne (auf Deutsch 2014 erschienen) fest: „Wenn es nur eine Erde gibt und sie gegen uns ist, was werden wir tun?“ (Latour 2014, 652; Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf dieses Werk).
Die Coronakrise verleiht dem Werk Latours eine traurige Aktualität, wird doch jetzt für viele plötzlich direkt einsichtig und spürbar, auf was Latour seit vielen Jahren hinweist: Die Modernen fanden sich bisher einer scheinbar gleichgültigen Welt gegenüber, aber im Zeitalter des Anthropozäns, in dem wir uns nun befinden, scheint die Welt, die Natur ein empfindsames Gegenüber zu werden, sie agiert, wehrt sich gegen ihre Zerstörung, geht kaputt, schlägt zurück (etwa in Naturkatastrophen, in der globalen Erwärmung, im Artensterben oder eben mit nicht leicht beherrschbaren Viren). Latour benennt diese antwortende Natur Gaia: „Wenn Gaia gegen uns ist, dann ist nicht mehr sehr viel erlaubt. In Erwartung Gaias ist es nicht mehr wie einst der Sinn des Absurden, der uns bedrohen könnte, sondern eher die Hochstapelei hinsichtlich unserer unzulänglichen Vorbereitungen für die kommende Zivilisation“ (653).
Wer sich jetzt von der Lektüre der Existenzweisen erhofft, einfache Lösungen für die Probleme der Moderne und die ökologische Krise zu finden, wird enttäuscht werden. Das Buch ist vielmehr so etwas wie ein Auftakt, es eröffnet ein „Koordinatensystem“ (43), ein Angebot, für eine nun gemeinsam zu vollziehende Anstrengung. Existenzweisen ist ein sperriges Buch, und es geht um nicht wenig: Um eine neue Gesellschaftstheorie, eine neue „Metasprache“ (58), um den Friedensschluss der Kulturen, um die menschliche und die nichtmenschliche Existenz, um die „Vorbereitung für die kommende Zivilisation“ (653) und um die Rettung vor der planetarischen Klimakatastrophe. Und doch handelt es sich – folgt man Latour – nur um einen „provisorischen Bericht“ (640).
Eine Lektüre lohnt sich dennoch, und das nicht nur wegen der nun deutlich werdenden Aktualität, sondern weil Latours Analysen – obwohl sie am Anfang so klingen mögen – weder mystisch noch esoterisch noch pessimistisch sind. Im Gegenteil, Latour fordert von uns eine radikale erkenntnistheoretische Anstrengung. Er will, dass wir umdenken, unser Verhältnis zur Welt und den Dingen noch einmal ganz neu betrachten. Das mag mühsam sein, aber es ist auch erstaunlich anregend und voller Hoffnung, und genau darin liegt das theologische Potenzial dieses Werks.
Um dieses theologische Potenzial genauer zu erhellen, werden im Folgenden drei Schritte gegangen: Zunächst (1) eine Einordnung von Existenzweisen in Latours Gesamtwerk, darauf folgend (2) eine knappe Einführung in die Existenzweisen und zum Abschluss (3) die Analyse der Bedeutung von Religion bei Latour.
1. Vom Wahrnehmen zum Ordnen
Lange war Latour im deutschsprachigen Raum eher ein Geheimtipp unter Soziologen. Erst mit seiner Kritik an den etablierten Gesellschaftstheorien – Wir sind nie modern gewesen (1991) – ist er hierzulande quasi über Nacht berühmt geworden. 2007 legte er dann mit Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft die ausführliche Einführung in seine Sozialtheorie, die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), vor, die ihn endgültig bekannt machte. Und nun also Existenzweisen, ein Buch, bei dem er gleich im ersten Satz festhält: „Dieses Werk resümiert eine Untersuchung, die ich seit einem Vierteljahrhundert mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolge“ (21). Das lässt darauf schließen, dass eine Kontinuität zu seinen vorherigen Arbeiten besteht. Tatsächlich hilft es beim Verständnis dieses komplexen Buches, das ohne Verweise und theoretische Einordnungen auskommt, mit dem Denken und Werk Latours vertraut zu sein, weswegen hier zunächst eine kurze Einordnung erfolgt.
Die Moderne – so Latour – hat versucht, klare Trennungen (Natur/Kultur oder Subjekt/Objekt) vorzunehmen und das Soziale in Schubladen zu ordnen, die dann jeweils mit einem Label (wie Religion, Politik, Wissenschaft, Ökonomie und Recht etc.) versehen werden und als getrennte Sphären unverbunden nebeneinanderstehen. Das Wissenschaftsverständnis der Moderne ist davon geprägt, dass sich etwas umfassend, exakt und damit richtig beschreiben lässt, als würden wir die Welt und ihre Zusammenhänge von außen betrachten. Dieser Eindruck aber täuscht, denn nicht nur, dass wir selber mitten drin stecken in diesen Zusammenhängen, auch die Sprache der Moderne verdeckt, dass es Zwischenwesen gibt – Latour spricht auch von Hybriden –, die sich eben nicht so sauber und eindeutig zuteilen lassen, sondern mehreren Sphären angehören. Beispiele, an denen das deutlich wird, wären etwa das Ozonloch, von dem wir nicht klar sagen können, ob es nun zur Kultur oder zur Natur gehört, im Labor erzeugte Viren oder auch Menschen, die Prothesen nutzen. Die Sprache der Moderne mit ihren exakten, sauberen Einteilungen macht demnach den zweiten Schritt vor dem ersten. Sie ordnet die Phänomene einer Sphäre zu, anstatt sie zunächst wahrzunehmen. Sie muss das tun, weil sie keine Sprache hat, um die Hybride zu beschreiben, die es nach ihrem Reinheitsgebot ja gar nicht gibt. Damit aber macht sie die Zwischenwesen quasi unsichtbar. Etwas, wofür wir keine Sprache haben, was es nicht geben kann, kann auch nicht richtig erfasst und beschrieben werden.
Man könnte jetzt fragen, warum das denn ein Problem sein soll. Latour würde antworten: weil wir die Frage, wie wir zusammenleben wollen, nach welchen Regeln wir Gesellschaft gestalten und wie wir über etwas demokratisch verhandeln, nicht richtig angehen können, wenn wir gar nicht genau wissen, wer alles an diesen Prozessen beteiligt ist. Immer schon, würde er sagen, haben Dinge, Hybride und Artefakte, aber auch die Natur, ja sogar die Welt selbst an unseren Handlungen mitgewirkt und haben mitbestimmt, wie wir zusammenleben. Bisher haben wir jedoch so getan, als sei all dies nur der Hintergrund für unsere Handlungen, die Bühne, vor der sich unser Leben vollzieht.
Verschärft wird diese Situation nun durch den technologischen und digitalen Fortschritt sowie die ökologische Krise. Denn damit wird einerseits immer deutlicher, dass wir die Frage nach dem Menschen und dem gesellschaftlichen Zusammenleben gar nicht beantworten können, ohne unsere Beziehung zur Natur und zur Technik mitzudenken. Denn Dinge und Hybride wie Computer, Handys, Mikrochips, Daten und Algorithmen, aber auch Mikroben, Gletscher, Viren, das Klima usw. bestimmen entscheidend mit, wie wir zusammenleben. Andererseits entstehen gerade durch den digitalen und technologischen Fortschritt immer mehr und neue hybride Zwischenwesen, die sich der Kenntnis von breiten Teilen der Bevölkerung entziehen und über die demnach auch keine politisch-demokratische Verhandlung stattfinden kann.
Deswegen wirbt Latour für eine neue Sozialtheorie – die Akteur-Netzwerk-Theorie –, die nicht ordnend von oben auf die Welt blickt, sondern sich hineinbegibt, die den Dingen bis in ihre Verästelungen folgt und die den großen optimistischen Fortschritts- und Erklärungsmodellen der Moderne ebenso misstraut wie der eben nur scheinbar neutralen Beobachterrolle. Stattdessen gilt es, die Netzwerke und Verknüpfungen nachzuzeichnen, in denen sich Natur, Technik und das Soziale gegenseitig beeinflussen. Diesem bisherigen Projekt der Kritik der Moderne stellt Latour nun mit Existenzweisen seine Anthropologie der Moderne an die Seite, bei der es, wie zu Beginn schon angedeutet, um nicht weniger als das Ganze geht.
2. Es geht ums Ganze
Dass Latour Gewaltiges in den Blick nimmt, verrät schon der schiere Umfang des Buches (über 600 Seiten und 10 Seiten Glossar), das sich dennoch nur als ein Teil eines viel größeren Projekts versteht. Workshops sowie eine Kunstausstellung gehören ebenso zu dem von der EU geförderten Projekt wie eine Website (www.modesofexistence.org). Diese Plattform bietet nicht nur eine Online-Version des Buches, sondern neben vielen weiteren Materialien vor allem die Möglichkeit, mitzuwirken, den gedruckten Text zu kommentieren, Missverständnisse auszuräumen, Deutungen zu klären, so das Projekt weiterzuentwickeln und – so heißt es auf der Webseite – „die gemeinsame Welt zu komponieren“. Das gedruckte Buch versteht sich auf diesem Weg nur als ein „Zwischenbericht“ (640).
Existenzweisen lässt sich als Angebot verstehen, für das, was Latour bisher kritisiert hatte (die Ordnung der Moderne), nun selbst einen Versuch der Ordnung vorzulegen. Eine neue Gesellschaftstheorie, die eine „positive, nicht bloß negative Version derer […], die ‚nie modern gewesen sind‘“ (29), anbietet. Latour identifiziert dafür verschiedene Existenzweisen der Moderne (Technologie, Religion, Politik, Recht, aber auch Reproduktion, Moralität, Organisation, Fiktion – insgesamt fünfzehn) und erschließt sie über die in ihnen vertretenen Wertideen und die Erfahrungen, die sie ermöglichen.
Jede dieser Existenzweisen hat nicht nur eine eigene wissenschaftliche, religiöse oder ökonomische etc. Sicht auf die Welt, sondern sie bringen damit die Wirklichkeit – oder besser Wirklichkeiten im Plural – allererst hervor. Es handelt sich also nicht nur um eigene Sprachsysteme, sondern um eine Pluralität von Seinsweisen. „Die Rede von der Pluralität der Existenzweisen, oder der Ontologien, macht dabei deutlich, dass Subjekt und Objekt als das ‚Seiende‘ nicht schlechthin gegeben sind, so dass nur danach gefragt werden könnte oder müsste, wie die beiden Seiten jeweils zueinander in Beziehung treten“ (Rosa 2016, 252).
Das, woran Latour interessiert ist, sind nicht die saubere Trennung, sondern die Kreuzungen, Verflechtungen, Konflikte und Transformationen zwischen diesen Existenzweisen. Besonders im Blick hat er dabei den Klimawandel. Hier zeigt sich, dass die unterschiedlichen Existenzweisen zunächst in ihren Handlungssphären agieren: Wissenschaftler betreiben z. B. Klimaforschung, Unternehmen haben vor allem wirtschaftliche Interessen, auch Politik hat eigene Orientierungen, und dann agiert ja auch noch Gaia. Nicht ohne Weiteres finden die Interessen, Ergebnisse, Werte und Erfahrungen der einen Sphäre Berücksichtigung in der anderen. Dennoch gibt es vielfältige Berührungspunkte, Überschneidungen. Nicht nur, dass alle am Klimawandel mitwirken, wir können ihn auch nur aufhalten, wenn es zu einer diplomatischen Vermittlung zwischen den Existenzweisen und dadurch zu einer gemeinsamen Anstrengung kommt.
Latour verfolgt in Existenzweisen drei Ziele, nämlich 1. eine Neuvermessung der Moderne, die bei den Praktiken der Modernen und nicht bei ihren Selbstbeschreibungen ansetzt; 2. eine Verhandlung mit den bisher ausgeschlossenen und nicht beachteten Anderen, um die gemeinsame Welt zu versammeln, und 3. einen Wechsel des Betriebssystems, eine radikale Neuausrichtung, um die drohende Zerstörung der Lebensgrundlagen abzuwenden (vgl. Laux 2016, 16). „Wenn, anstatt zu modernisieren, es sich nunmehr empfiehlt, zu ökologisieren, ist es mehr als normal, um eine Metapher aus der Informatik zu entlehnen, das Betriebssystem zu wechseln“ (643).
Diese Anstrengung ist nach Latour nötig, weil eine andere Beziehung zur Welt eine ökologische Notwendigkeit ist. Gerade für diese Aufgabe könnte der Religion, die die Existenzform der Beziehung schlechthin zu sein scheint, eine besondere Rolle zukommen. Denn vor allem das, was Latour als [REL] bezeichnet, hat das Potenzial – so zumindest der Eindruck bei der Lektüre –, uns und unsere Beziehung zur Welt zu verwandeln.
3. [REL] – retten, transformieren, zum Leben erwecken
Die ausführlichere Beschäftigung mit dem, was Latour als [REL] Religion bezeichnet, findet sich in seinem Buch Jubilieren. Über religiöse Rede. Was aber in Existenzweisen besonders deutlich wird, ist, wie die Religion zu anderen Existenzweisen wie etwa der Wissenschaft in Beziehung steht und worin ihr Beitrag im Konzert der Existenzweisen bestehen könnte.
Interessant ist, dass Latour Religion zugleich zu stärken und zu schwächen scheint. Was er schwächt, ist das, was vermutlich gemeinhin unter Religion verstanden wird. Denn hier handelt es sich um einen Kategorienfehler der Moderne. Dieser zeigt sich deutlich an der für die Moderne so charakteristischen Trennung von Religion und Wissenschaft, bei der so getan wird, als sei Wissenschaft der Ansatz, „der uns die Materie geben würde, das Irdische, das Rationale, das Natürliche“ (444), und Religion derjenige, „der uns das Spirituelle anbieten würde, das Jenseits, das Übernatürliche, die höchsten Werte! Als gäbe es eine Welt hier unten, zu der die Wissenschaft Zugang gewährte, und eine Welt des Jenseits, zu der die Religion einen noch schnelleren Zugang anbieten würde“ (444). Latour spricht dabei von einer „malignen Umkehrung […] Mit einem Kategorienfehler nach dem nächsten ist man dahin gelangt, das Verhältnis dieser beiden Modi fast exakt umzukehren“ (444).
Aber nicht nur die Gegensätzlichkeit – hier Vernunft, dort Glaube –, die hier zum Ausdruck kommt, ist für Latour falsch, sondern auch die Zuteilung der Betätigungsfelder. Latour beschreibt, wie wir fälschlicherweise die Erde der Wissenschaft zugeordnet haben und zum Himmel zeigen, wenn wir von Religion sprechen, dabei müssten wir es eigentlich umgekehrt tun: „Gerade wenn man von der Wissenschaft spricht, muss man die Augen zum Himmel heben, und wenn man von der Religion spricht, muss man sie zur Erde senken. Denn es ist offenkundig die objektive Erkenntnis, die Zugang zum Fernen, zur Ferne hat – und die überallhin geht, ohne eine Grenze, solange man ihr die Mittel dafür bereit stellt; und es ist die Religion, die eine gewisse Chance hat, den Zugang zum Nahen, zum Nächsten zu erlauben“ (444 f.).
Die Folge des modernen Kategorienfehlers ist, dass der Religion genau dieser Zugang zum Nahen und zum Nächsten abgesprochen wurde oder abhandengekommen ist. Latour charakterisiert das als „ontologische Entgleisung ohne Ausweg, denn die Religion hat den einzigen Zugang aufgeben müssen, den sie bieten konnte: den Zugang zum Nahegelegenen. Und so laufen die Modernen, indem sie glauben, sich durch die Vernunft von der Religion befreit zu haben, Gefahr, sowohl das Nahe wie das Ferne zu verlieren“ (443 f.).
Das Problem sind nun nicht nur diejenigen, die Religion und Wissenschaft für unversöhnliche Gegenätze halten, sondern auch diejenigen, die versuchen, beide innerhalb der Kategorien der Moderne zu versöhnen. Religion, so hält Latour fest, „wurde kraftvoller von denen kaputtgeschlagen, die sich als religiös bezeichnen, als von denen, die sich für säkularisiert halten“ (413).
Im Blick hat er bei dieser Kritik eine Theologie, die glaubt, den modernen Rationalisierungsdiskurs nun selber führen zu können: „Als die wissenschaftliche Revolution sich ereignete, hat die Religion sechzehn Jahrhunderte an Scholastik und Rationalismus hinter sich, und daher erliegt sie der Versuchung, sich auf einen Wettstreit über die Fragen der Substanz und der Identität einzulassen“ (440).
Stattdessen fordert Latour etwas für bestehende Religionsgemeinschaften Empörendes: die Lösung der Religion von der Botschaft des Jenseits, vom Übernatürlichen, vom Glauben an etwas Substanzielles, ja vom Glauben an etwas: „Man hat den Atem der Religion jedes Mal verloren, wo man fragt: ‚Aber was sagt sie letztendlich?‘ Auf der Stelle ist sie in eine […] Monstrosität verwandelt. Denn strenggenommen sagt sie nichts, sie macht etwas Besseres: Sie bekehrt, sie rettet, sie transportiert Transformationen, sie erweckt Personen wieder zum Leben“ (ebd.). Hierin liegt der Clou der Latourschen Überlegungen, denn Religion ist damit keineswegs überflüssig, im Gegenteil. Es geht nicht um den Glauben an etwas, nicht darum, was Religion sagt oder gar vorschreibt, sondern es geht darum, was Religion tut: retten, transformieren, zum Leben erwecken.
Das Bild, mit dem Latour dieses Tun verdeutlicht, ist das der Liebe. Worte der Liebe vermitteln eine Relation, sie geben dem, an den sie gerichtet sind, „Existenz und Einheit“ (ebd. 418). Liebesworte verwandeln den, den sie treffen, sie stiften Nähen, erwecken, erretten. Hierin liegt Gemeinsamkeit mit der Religion, in der Erfahrung der Unverfügbarkeit und darin, auf andere bezogen zu sein, von anderen ergriffen und verwandelt zu werden: „Das, wovon die Erfahrung die stets wiederaufzunehmende Sicherheit gibt, ist, dass wir diese Gewissheit, zu existieren und nahe zu sein, vereint und vollständig zu sein, nicht aus uns selbst ziehen, sondern dass sie von woanders her kommt, dass man sie empfängt, dass sie eine stets unverdiente Gabe ist, die durch den engen Kanal dieser heilsamen Worte zirkuliert. Sehr besondere Worte: Worte, die Träger von Wesen sind, die fähig sind, diejenigen zu erneuern, an die sie gerichtet sind“ (418 f.).
Worte als Träger des Religiösen führen für Latour vom Fernen zum Nahen und sie erwecken, im Sinne von Wachmachen. Sie entziehen sich dem modernen Rationalitätsverständnis, bei dem Worte Informationen übertragen. Religiöse Worte hingegen sind Boten, ihr Inhalt ist Verwandlung und Beziehung (vgl. 419). „Es würde zu nichts Großem dienen, zu sagen, dass die religiösen Wesen [REL] ‚nur Worte‘ sind, weil es Worte sind, die die Wesen transportieren, die Personen umwandeln, auferwecken und retten. Daher sind es wirkliche Wesen, es gibt wahrhaftig keinen Grund, daran zu zweifeln. Sie kommen von außen, sie fassen uns, bewohnen uns, sprechen zu uns, fordern uns auf: man wendet sich an sie, betet zu ihnen, fleht zu ihnen“ (425).
Das, was Religionsgemeinschaften vermutlich als Provokation verstehen, ist für Latour die Chance, mit Hilfe der Religion unsere Beziehung zur Welt zu verändern. Die Welt, die die Moderne zu einem leblosen, stummen, erforsch- und verwendbaren Etwas gemacht hat, kann durch Religion wieder als lebendig und antwortend erfahrbar werden. „Die Kraft, die Latour der Religion zuschreibt, ist die Transformation dieses stummen, gleichgültigen Weltverhältnisses in eines der […] Bezogenheit“ (Rosa 2016, 257). Die Existenzweise der Religion kann neben die anderen Existenzweisen treten und so etwa der modernen Übermacht der Wissenschaft, der Verwertung der Welt, eine andere Erzählung hinzufügen und deutlich machen, dass wir auf die Welt bezogen sind.
Das ist nicht nur Provokation, sondern auch Herausforderung und Verantwortung für die Theologie: Keine Überbietung im Kampf der Rationalitäten, nicht vom Jenseitigen und Transzendenten reden, nicht von einer anderen Welt spekulieren, keine Metaphysik betreiben, sondern Worte sprechen, die etwas tun und zu dieser einen einzigen Welt eine andere Beziehung aufbauen, alles andere wäre eine Sünde.
Ob Latour mit Existenzweisen ein funktionierendes gesellschaftstheoretisches Konzept vorgelegt hat, ist an dieser Stelle schwer zu beurteilen, zumal es sich um ein noch laufendes Online-Projekt handelt. Ohne Frage ist es ein leidenschaftliches Buch. Latour regt an, umzudenken und neue Sichtweisen einzunehmen. Die Lektüre von Existenzweisen – die keine einfache ist, auch nicht für Latour-Kenner – lohnt sich aber schon allein wegen des Clous, dass die Religion gerade für die Verbindung zur Welt zuständig ist, und wegen des Optimismus Latours, dass das gelingen kann.