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Atlas neue Gemeindeformen

Erste Ergebnisse der midi-Erhebung

Nicht nur in der katholischen Kirche wird eine einseitige Fokussierung auf die Pfarrei als der lokalen kirchlichen Organisationsform zuneh­mend aufgebrochen. Auch in der EKD treten zu den „klassischen“ Orts­gemeinden immer mehr neue Gemeinde- und Gemeinschaftsformen hinzu.

Diese Veränderungen kirchlicher Sozialgestalt umfassend zu sichten, hat die EKD-Synode im November 2018 beschlossen. Mit der Durchfüh­rung wurde die Evangelische Arbeitsstelle für missionarische Kirchen­entwicklung und diakonische Profilbildung (midi) betraut, die dabei durch das Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeinde­entwicklung (IEEG) unterstützt wird.

Ungewöhnlich ist der Zeitplan: Das gesamte Projekt soll innerhalb von nur zwei Jahren zum Abschluss gebracht werden! Die mittlerweile vor­liegende Broschüre vom November 2019, die hier vorgestellt wird, stellt eine Erstauswertung dar. Trotz des Titels „Atlas neue Gemeindeformen. Vielfalt von Kirche wird sichtbar“ ist sie nur eine Art Vorstufe zum um­fassenden Auswertungsband, der 2020 erscheinen soll.

Grundlage der Studie ist eine Online-Befragung, die durch das Anschrei­ben von über 700 Multiplikatoren und über andere Kanäle bekannt ge­macht wurde. Bei 211 auswertbaren Rückmeldungen, die sich über ganz Deutschland verteilen, sprechen die Autoren von einer „gewissen Repräsentativität“ (19); trotzdem ist eine Nacherhebung geplant.

Der Fragebogen mit seinen 104 Einzelfragen orientierte sich an vier Kriterien-Clustern (15 f.):

  • „I. Geistlich-spirituelle Identität / geistliches Leben / Selbstverständnis“
  • „II. Missional in der Orientierung / Außenwirkung“
  • „III. Kontextuelle Ausstrahlung und Verankerung im Sozialraum“
  • „IV. Ressourcenperspektive“

Gefragt waren zum einen „neue Gemeindeformen“: „Ausdrucksformen der religiösen Praxis und der alltäglichen Glaubenskultur […], wenn sie sich kirchlich oder gemeindlich organisieren und die Praxis auf eine Glaubensvergewisserung, Glaubensentdeckung oder Glaubensfindung gerichtet ist“ (8); zum anderen „innovative christliche Sozialformen“, in denen „Menschen einer bestimmten Gemeinschaft ‚folgenreiche [im Sinne von nachhaltig wirksame], vom bisher gewohnten Schema abwei­chende Regelungen von Tätigkeiten und Vorgehensweisen‘ präferieren und danach handeln“ (9).

Leider bleiben beide Begrifflichkeiten in dieser Erstauswertung ziemlich unkonkret – auch bei der Vorstellung der einzelnen Befragungsergeb­nisse –, selbst wenn in wenigen Zeilen zwei Beispiele (eine mobile Kapelle und ein sozial-missionarisches Projekt in einer Plattenbausied­lung) vorgestellt werden. Allerdings steht die Auswertung der Textfel­der im Fragebogen noch aus, ebenso die Ergänzung der quantitativen Daten durch qualitative Interviews.

Zu den einzelnen Befunden – die Gemeinde- und Sozialformen werden dazu in der Broschüre zusammengenommen:

„Die Initiativen gaben an, dass rund 1.200 Menschen hauptamtlich bei ihnen beschäftigt sind, sich 12 000 Menschen ehrenamtlich einbringen und rund 320 000 Menschen insgesamt durch sie erreicht werden“ (22); zu einer Verteilung einzelner Größen (Vielleicht gibt es ja einige wenige sehr große und sonst viele kleine Initiativen?) erfährt man jedoch nur dies: „Mehr als die Hälfte der Initiativen beschäftigt ein oder zwei Hauptamtliche“ (34). Beachtlich ist aber das überraschend geringe Durchschnittsalter der Ehrenamtlichen.

Dagegen gibt die Broschüre in grafischer Form Auskunft über die Ver­teil­ung der Formen – auch differenziert nach Status. Dabei zeigen sich deutliche regionale/​landeskirchenbezogene Unterschiede. Insgesamt ist aber der größte Teil der Formen innerhalb von Kirchengemeinde, Kirchenkreis oder Landeskirche verortet (41 %; eigenständiger Verein: 18 %; eigenständige Gemeinde: 12 %; innerhalb CVJM: 3 %; Sonstiges: 24 %; in Klärung: 2 %). Zudem fühlen sich rund zwei Drittel der örtli­chen Kirchengemeinde eng oder sehr eng verbunden (sehr eng: 28 %; eng: 36 %; kaum: 29 %; überhaupt nicht: 4 %).

Spannend ist nun, welche Menschen mit diesen Formen erreicht wer­den. Auf die Frage „Aus welchen Lebenswelten kommen die Menschen überwiegend in Ihrer Gemeinde-/​Sozialform?“ antworteten 43 % mit „modern“, 31 % mit „postmodern“ und 14 % mit „traditionell“ (keine Angabe: 12 %). Zudem gab eine übergroße Mehrheit an, Menschen zu erreichen, „die sich sonst in der Parochie nicht verorten würden“ (trifft voll zu: 66 %; trifft etwas zu: 20 %); dass die Formen Menschen mit einem Altersdurchschnitt von 35 Jahren umfassen, bestätigt das ein­drücklich. Entsprechend ist es der „Anspruch der Gemeinde-/​Sozial­formen […], missionarisch unterwegs zu sein (70 %)“ (26), in ihnen entsteht nach eigener Aussage Gemeinde Jesu neu (92 %: „trifft voll zu“ oder „trifft etwas zu“). Dagegen sind „eine evangelische Identität oder das Selbstverständnis als Kirche weniger stark ausgeprägt […] Hier wird ein Spannungsfeld deutlich, das auf unterschiedliche Kirchenbilder und ‑verständnisse schließen lässt“ (29).

Gemeinschaft hat einen zentralen Stellenwert (sehr hoch: 63 %; hoch: „32 %). „Untermauert wird dies mit dem Befund, dass bei einer Mehr­heit tägliche oder wöchentliche gemeinschaftsfördernde Treffen statt­finden, was wiederum zu einem hohen Maß an Verbindlichkeit der Ge­meinschaft beiträgt“ (30). Der Befund zu Sakramenten, Ritualen und geistlichen Praktiken fällt aber uneinheitlich aus: Während „das Sakra­ment der Taufe eine untergeordnete Rolle spielt“, „wird das Sakrament des Abendmahls überraschenderweise von rund zwei Drittel der Ge­meinde-/​Sozialformen gefeiert“ (28); dagegen „spielt bei knapp der Hälfte der Gemeinde-/​Sozialformen die Bibelarbeit eine untergeord­nete oder keine Rolle“, während dem Gebet „zwei Drittel eine hohe Bedeutung zumessen“ (31).

Beachtlich ist der große Einzugsraum der Formen, der überwiegend über 10 km hinausreicht (über 20 km: 30 %; 11–20 km: 28 %; 6–10 km: 17 %; bis 5 km: 19 %). „Wenn man dies in Zusammenhang mit der Er­reichbarkeit in einer Parochie bringt, zeigt es, dass Gemeinde-/​Sozi­al­formen den parochialen Raum weiten“ (31). Allerdings: Obwohl „bei fast der Hälfte der Initiativen die Quartiersarbeit Bestandteil ihrer Ar­beit“ (33) ist, verbleibt die Sozi­alraumorientierung doch überwiegend in den bisherigen kirchengemeindlichen Parametern.

Auch zur Art der Leitung wurde gefragt: „Zwei Drittel […] geben an, dass bei Ihnen im Team geleitet wird“ (36). Was schließlich die Ressour­cenfrage anbelangt, so zeigt sich eine Mischung aus Spendenakquise und Finanzierung durch Kirchengemeinde und Kirchenkreis.

Vertieft wird die Vorstellung der Befragungsergebnisse durch zwei Auf­sätze von Daniel Hörsch und Michael Herbst, die einzelne Befunde hervorheben und eine erste Einordnung vornehmen. Daniel Hörsch, sozialwissenschaftlicher midi-Referent, weist u. a. darauf hin, „dass die Selbsteinschätzung der teilnehmenden Gemeinde-/​Sozialformen auch davon abhängt, ob sie im Westen oder Süden der Republik beheimatet sind, wo von einer Kultur der Konfessionszugehörigkeit gesprochen werden kann, oder ob die Initiativen im Norden und Osten zu finden sind, wo von einer Kultur der Religionslosigkeit gesprochen wer­den kann“ (38). Auch wenn dadurch die Bedingungen für solche Formen unterschiedlich sind, so plädiert er doch dafür, den Blick auf die „Plura­lität der Möglichkeiten zu richten“ (39): U. a. tragen „Gemeinde-/​So­zialformen […] nachweislich dazu bei, dass sich Menschen in der Parochie beheimaten, die dort sonst nicht zu finden wären“ (ebd.).

Auch Michael Herbst, der Direktor des IEEG, macht in seinem „Versuch einer kirchentheoretischen Einordnung“ auf einige markante Ergeb­nisse aufmerksam; so hebt er u. a. „das Verhältnis von Nähe und Distanz der Protagonisten zu den vorhandenen kirchlichen Strukturen“ (53) hervor. Zugleich benennt er weitere Fragen, etwa nach Konflikterfah­rungen, nach strukturellen Zuordnungen zu herkömmlichen kirchli­chen Organisationsformen oder nach Bedürfnissen nach Bildungs­angeboten.

Abgeschlossen wird die Broschüre durch einen zweiseitigen „Überblick ‚ekklesiale Vielfalt‘ im Raum der EKD“ – eine Vielfalt, „die nicht dezi­diert Bestandteil dieser explorativen Untersuchung“ (70) war, aber in den noch zu erstellenden umfassenden Auswertungsband einfließen soll.

 

Berneburg, Erhard/​Hörsch, Daniel (Hg.), Atlas neue Gemeindeformen. Vielfalt von Kirche wird sichtbar, Berlin [2019].

Unter https://www.mi-di.de/themen/atlas-neue-gemeindeformen finden sich weitere Informationen zur Studie; die vorgestellte Publikation ist dort auch als PDF verfügbar.

Die oben abgebildete Karte ist der Publikation entnommen (S. 23 bzw. 66). Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung.