Inhalt

Hören, wer ich sein kann

Einübungen

Nach der fundamentaltheologischen Grundlegung des Glaubens in „Christentum als Stil“ (2018) legt Christoph Theobald mit diesem Band Überlegungen zur Berufung vor. Für eine Pastoral, die sich in vielen deutschen Bistümern derzeit als charismenorientierte neu und ver­än­dert „aufstellen“ will, und für die Frage nach einer authentischen geist­lichen Fundierung des Christseins und Kircheseins bietet Theobald hier wertvolle Gedanken. Für ihn ist Berufung zunächst die jedes Einzelnen und lenkt die Aufmerksamkeit für die eigene, persönliche Gottes­bezie­hung. Angesichts einer oftmals wahrgenommenen Dürre in den kirch­lichen Vollzügen legt der Autor Wert darauf, dass Berufung nicht ein Haben, sondern ein Handeln Gottes ist. Die elementare Erfahrung unseres Glaubens, das Hören des Rufes Gottes, muss offenbar wieder ganz neu eingeübt werden. Christliche Berufung hat eine Vielzahl von Ausdrucksformen. Es gibt Identifikationsfiguren, um das Leben zu ge­stalten und schließlich Jesus Christus zu begegnen, der in die Tiefen­dimension dessen einführt, was es heißt, nach dem Bild Gottes gebildet zu sein. Nachfolge Jesu bedeutet, ihn darin nachzuahmen. Das ist ein langer Weg der Praxis, des Sich-Herantastens und der Unter­schei­dungs­arbeit. Oft genug, so Theobald, gehe es im kirchlichen Kontext immer noch eher um Rekrutierung, ohne sich zuerst für die Personen und deren einmalige Gabe zu interessieren.

Samuel und der Tempelpriester Eli als „Übersetzer“ des Rufens Gottes, Abraham, Mose, Elija und Paulus werden als biblischen Figuren des Gerufenwerdens und des Hörens vorgestellt. Diese Figuren zielen auf die Geschichte Jesu mit seinen Jüngerinnen und Jüngern hin. Die Be­zie­hung zwischen Jesus und ihnen ist der „Raum“, in dem die christ­liche Berufung ihren Ursprung hat. Dies gilt nicht nur für die Zeitgenossen des historischen Jesus, sondern als „Ablösungsgeschehen“ auch für die Jünger nachfolgender Generationen, die auf das „Zeugnis“ der anderen (diachron in der Geschichte des Glaubens und synchron in der Gegen­wart) bauen. Viele christliche Gemeinden und Gläubige wissen nach Theobald nicht mehr, was eine Berufungserfahrung eigentlich ist. Sie können ihren eigenen christlichen Glauben nicht mehr auf einen Ruf zurückführen, geschweige denn diesen Glauben als eine Weise verste­hen, ihr Menschsein zu leben. So geht es ihm auch darum, zunächst die menschliche Berufung als ein Gerufen zum Seinkönnen zu beschreiben. Es geht um die Ganzheit eines Lebens und darum, jemandem dieses Leben zu eigen zu geben. Biblische Grundlage ist die Formung des Men­schen nach dem Bild Gottes. Die christliche Berufung steht im Dienst der menschlichen Berufung. Das beinhaltet eine zu vollziehende Um­kehr: Sie beginnt erst, „wenn wir den Ruf, Christ zu werden, als Einla­dung hören, unser Menschsein und die Welt der Menschen in einer neuen Weise zu bewohnen“ (79). Die Verkünderin des Evangeliums und der Adressat, beide existieren nicht unabhängig von diesem Evange­lium, das Wort ist in ihnen bereits wirksam (vgl. 1 Thess 2,13).

Heute die eigene Berufung leben, heißt für Theobald, nicht nur die Situation der Kirche, sondern sich selbst und die Menschen mit anderen Augen zu sehen, sich von den Lebenswegen derjenigen berühren lassen, die einem begegnen. Es gehe darum zu erkennen, wie Gott in der Ge­schichte des eigenen Lebens präsent wird, was er schon getan hat, darüber zu staunen und sich überraschen zu lassen. Dies geschehe, wo der Beter sich selbst hingebend in das Gebet Christi selbst eintritt, wo kleine und große Entscheidungen das Leben strukturieren und Kraft geben. Christ zu werden, Jünger und Apostel des „großen Apostels“, heißt, für alle Aspekte seines Lebens in die Schule Christi zu gehen und von ihm zu lernen, wie man zuerst das Reich Gottes sucht und alles Übrige im Überfluss dazu erhält. Dazu ist das Lesen der Schrift ein initiatorischer Prozess, um aus seinem österlichen Leben zu leben. Die vier Kriterien der Nachfolge als Apostel sind, vom Evangelium beseelt zu sein, das Verlangen zu haben, selbst weiter zu gehen und in anderen das Verlangen nach dem Evangelium zu wecken, dann die Fähigkeit, einen inneren Ruf zu hören und ihn in Beziehung zu einem kirchlichen Ruf zu setzen, und schließlich Realismus und Demut.

So reflektiert Theobald in der Folge konkrete Gestalten der Berufung als schrittweisen Aufbau einer persönlichen Identität: im Berufsleben als Ausdruck der Suche nach dem Reich Gottes, in einer Lebensbeziehung, der Ehe oder dem Zölibat als Entscheidung, die in Freiheit und Treue das ganze Leben einsetzt. Gerade im Vorläufigen zu leben und dabei unwiderrufliche Entscheidungen zu treffen, erfordere heute eine echte spirituelle Arbeit. Eine vereinfachende Vorstellung von fertig vorge­gebe­ner Berufung müsse einer Vorstellung des Wachsens, Reifens und Ganzwerdens weichen. Zentral für eine Berufung sei ihr Engagement in der Gesellschaft und in der Kirche: Christen würden zusammengerufen, um sich selbst in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen und die Sor­gen und Freuden ihrer Umgebung in das Gebet und die Eucharistie der Gemeinde zu tragen.

Theobald wirbt für christliche Gemeinschaftsformen, die sich zuneh­mend aufs Rufen verstehen. Dabei gebe es eine Vielfalt von Beru­fungs­formen. So weit wie möglich sollten die besonderen Bedingungen der Orte, der Bedürfnisse und der Ressourcen der Gemeinden, Phänomene der Entchristlichung und der Exkulturation der christlichen Tradition berücksichtigt werden. Problematisch sei, wenn Charismen nur insti­tutionell-innerkirchlich oder rein charismatisch-spirituell verstanden würden, vielmehr sei alleiniges Ziel der Aufbau des unendlich be­weg­lichen Leibes Christi im Dienst seiner immer deutlicheren Gegenwart in der Gesellschaft.

Deshalb sei auch das Ziel einer zeugenden Pastoral nicht ein adminis­tra­tiver Rahmen (rahmende Pastoral), sondern die größtmögliche Öffnung für die spirituellen Ereignisse, die dort stattfinden. Es gehe darum, dort­hin zu gehen, wo die christliche Berufung auf die menschliche Berufung aufbaut. Die Erstverkündigung des Evangeliums ist in den Mittelpunkt zu stellen: Verlangen zu wecken und zu einem Weg des Glaubens ein­zuladen, Interesse zu wecken, ohne es darauf abzusehen, dass die Per­son, an die sie sich wendet, eine Jüngerin wird. Orte und Pädagogiken einer solchen Zeugung neuen Glaubens in einer Kultur der Berufung zu gestalten, sei die große Herausforderung. Theobald wirbt für eine Pas­toral, die ein brennendes Interesse am Alltag der Menschen hat, die lernt, die Stimme des anderen zu hören und Über‑setzer zu sein.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass das Abschlussdokument der Ordent­lichen Bischofssynode „Die Jugend, der Glaube und die Berufungs­unterscheidung“ vom 27.10.2018 eine ähnliche Orientierung einnimmt: Es geht um das Hören auf die vielen Stimmen, eine Arbeit der Unter­scheidung und eine Kirche, die sich zunehmend als eine begleitende für Menschen zum Finden und Gestalten ihrer je eigenen Lebensberufung versteht und die auch so agiert. Auch wenn viele Gedanken von Theo­bald noch einer „Übersetzung“ in pastorales Handeln bedürfen, sind sie gleichwohl eine anregende Theologie für eine Kirche, die sich am Evan­gelium und am Leben der Menschen orientiert und so erneuern will.

Hubertus Schönemann