Inhalt

Liest du auch, was du verstehst?

Umgang mit der Schrift als Begegnungs- und Beziehungsgeschehen

Im französischen pastoralen Ansatz der „zeugenden Pastoral“ ist ein be­stimmter Umgang mit der Schrift zentral, obwohl dieser in den einschlägi­gen Texten der Protagonisten eher „zwischen den Zeilen“ als eine Verbin­dung eines hermeneutischen und eines phänomenologischen Ansatzes vorgestellt wird. Das Evangelium ereignet sich im Hören auf das lebendige Wort Gottes, das in den Gläubigen wirksam ist (vgl. 1 Thess 2,13) und so aus dem gemeinsamen Lesen und Teilen der Schrift und des Lebens heraus seine Wirkung für das je neue Geborenwerden des Glaubens entfalten kann. „Jesus war kein Schriftsteller […] und hat auch nichts geschrieben. Und wenn die Urgemeinde und ihre ‚Schriftsteller‘ wieder zu schreiben beginnen, dann tun sie dies […], um das gleiche, bereits zwischen Jesus dem Christus und denen, die ihm begegneten, sich ereignende Glaubensgeschehen zu ermöglichen“ (Theobald 2018, 51 f.). Theobald nennt dies den „österlichen ‚Übergang‘ von der ‚Jesusbewegung‘ […] zur entstehenden Kirche und zur Schriftwerdung eines immer wieder von neuem zu ‚erzeugenden‘ Glaubens“ (ebd. 52).

Egbert Ballhorn zeichnet hier den „Raum“ der Schrift als „Raum“ der Begeg­nung und „Aneignung“. Er wirbt so für einen Umgang mit der Schrift, mit dem die Beziehung zu und die Begegnung mit dem lebendigen Christus zu Glauben und zur Kirchwerdung führen kann. Der Stilbegriff ermöglicht es Theobald, die Kommunikation der Schrift nicht als Mitteilungsgeschehen (Instruktionsmodell), sondern als kommunikative und Glauben zeugende Formgebung (Beziehungsmodell) zu verstehen, indem das verbum externum des Kerygmas und das verbum internum des Herzens zusammenwirken.

In der Apostelgeschichte gibt es eine berühmte Szene: Der Apostel Phi­lippus ist auf Geheiß Gottes auf Missionsreise unterwegs und trifft auf der Straße einen Äthiopier, der, obwohl kein Jude, auf der Heimreise von einer Wallfahrt nach Jerusalem in seinem Wagen sitzt und für sich halblaut die Bibel liest. „Verstehst du auch, was du liest?“, fragt Philip­pus, und der Äthiopier antwortet: „Wie könnte ich es, wenn mich nicht jemand anleitet?“ (Apg 8,30 f.). Daraufhin steigt Philippus zu ihm in den Wagen und legt ihm den Bibeltext aus. Die Erzählung ist einpräg­sam und regt sofort zu Deutungen an. Daher wird diese Szene auch oft und zu Recht als Keimzelle der christlichen Missionstätigkeit ausgelegt. Das birgt jedoch auch eine Gefahr, die darin liegt, zu schnell eine Rollen­verteilung vorzunehmen: Der eine liest, der andere kennt sich aus. Wer Bescheid weiß, erklärt es dem, der nichts weiß. Eine solche „Kurzfas­sung“ ist im Zusammenhang der lukanischen Theologie eine Engfüh­rung, die in die falsche Richtung weist. Auf diesen großen Kontext möchte ich jedoch jetzt nicht eingehen, sondern auf die konkrete Situa­tion. Da ist jemand, der sich durch einen Bibeltext Wort für Wort mur­melnd hindurchliest. Und neben ihm geht jemand, der den gelesenen Worten zuhört und darüber ein Gespräch anfängt. Philippus ist hier in der Rolle des Erklärers, aber auch er muss zuerst ein Hörer sein, und zwar ein doppelter: Er hört den Worten der Schrift zu, die der Äthiopier zitiert, und längst zuvor muss auch er diese Worte schon kennengelernt und sich existenziell darauf eingelassen haben.

Interessanterweise kommt die Figur des Philippus im Doppelwerk des Lukas (Evangelium und Apostelgeschichte) nur ganz am Rande vor. Gleich zu Anfang wird er mit den Zwölf berufen (Lk 6,14), dann hört man nichts von ihm bis zur Himmelfahrt Christi (Apg 1,13). Erst danach tritt er reisend und verkündigend in der Apostelgeschichte auf. Philip­pus war lange Zeit schweigender Augen-, oder besser noch: Ohrenzeuge, bis er selbst das Wort ergreift. Dem „Zeugesein“ entspricht in der Kon­zeption des Lukas und der Bibel insgesamt das Bibellesen und ‑verste­hen. Wer die Bibel liest und sich die Worte aneignet, wird Zeuge der Taten Gottes.

Was bedeutet Bibellesen? Hierüber lohnt es sich nachzudenken. Dass die Bibel die Grundlage des Glaubens ist, wird jeder kirchlich bewegte Mensch sofort bestätigen. Das heißt aber noch nicht, dass die Bibel wirklich gelesen wird. In der pastoralen Praxis wird sie regelmäßig verwendet, aber nicht in gleichem Ausmaß gelesen. Das liegt daran, dass die Bedeutung der Bibel mit ihren Inhalten kurzgeschlossen wird. Aber die Bibel lässt sich nicht downloaden wie ein Programm oder eine App. Der Weg der Aneignung, der Lektüre, ist ein ganz eigenes Vorgehen und ist selbst Bestandteil ihrer Glaubensbotschaft. Bibel wird nicht ein­fach „angewandt“, sondern muss prozessorientiert gelesen werden. Ge­rade darin unterscheidet sie sich von einer anderen Glaubensgattung, dem Katechismus. Katechismen sind informative Werke, die autoritativ, sachgerecht und gut strukturiert die kirchlichen Glaubensüberzeugun­gen und ‑inhalte darstellen. Die Bibel als Buch umfasst zwar auch „kate­chistische“ Aspekte, als Buch göttlicher Inspiration geht ihr Anliegen jedoch weit darüber hinaus. Ihre Botschaft ist in eine ganze Fülle von biblischen Büchern, Texten und Gattungen gekleidet. Ihr literarischer Charakter ist Bestandteil der Offenbarungsstruktur. Dementsprechend ist der Vorgang der Bibellektüre und des Bibelverstehens ein Vorgang ganz eigener Art. Eigentlich „weiß“ die Liturgie das, denn der Akt der Verlesung der Heiligen Schrift wird als feierliches Geschehen inszeniert. Das Vorlesen und das Hören ist ein echtes Ereignis. Nicht von ungefähr ist eine in der Bibel häufig vorkommende Formel „und es geschah …“. Das kann man auch sagen, wenn Worte der Bibel gelesen werden (vgl. Mt 18,20). Was die Liturgie prägend vormacht, sollte für den gesamten Umgang mit der Bibel gelten: Die Worte werden sorgfältig gelesen. Die äußere Form und die innere Haltung sind darauf ausgerichtet, dass das Wort sich ereignen kann. Es besteht dann immer die Gefahr, dass das vorschnelle „Deuten“, sei es in Predigt, Katechese oder im eigenen Nachdenken, sich vor das geduldige Lesen und Abtasten des Textes stellt.

Aus diesem Grund soll hier der Akzent umgedreht werden. Es gilt nicht nur die Frage: „Verstehst du auch, was du liest?“, sondern auch umge­kehrt: „Liest du auch, was du verstehst?“ Denn ein zu schnelles Verste­hen – ohne den Akt des Lesens – gerät oft zu einem Missverstehen, zu einem Reproduzieren der eigenen Gedanken und Ideen, die schon da sind, bevor der Bibeltext angeschaut wird.

Was geschieht beim Bibel-Lesen?

Ich brauche nur folgende Worte zu hören: „Ein Mann ging von Jerusa­lem nach Jericho hinab“ (Lk 10,30), und schon entsteht vor meinem inneren Auge ein Bild. Alles ist äußerst knapp gehalten, und doch bin ich als Zuhörer intensiv dabei. Jedes weitere Verb spornt mich weiter an, meine Vorstellungskraft, aber auch mein Einfühlungsvermögen zu gebrauchen. Zuhören ist kein passiver Vorgang, es ist ein höchst aktives, synthetisches Geschehen. Die Worte, die erklingen, rufen in mir etwas wach, wecken meine Erinnerung und meine Phantasie. Die Ausgangs­frage: „Wer ist mein Nächster?“ kehrt sich direkt um und richtet sich an mich: „Für wen bin ich der Nächste?“ Nicht allein für die damaligen Zu­hörer, auch für mich heute steht der Perspektivwechsel im Raum. Man kann dies den performativen Aspekt der Bibel nennen. Indem Jesus in Gleichnissen von der Königsherrschaft Gottes spricht und was sie für die Menschen und ihr Verhalten bedeuten kann, fängt diese Herrschaft be­reits an, Wirklichkeit zu werden und Menschen in ihrem Handeln zu ergreifen. Der Text wird mir nicht allein zur Kenntnis gebracht, viel­mehr werde ich in ihn hinein eingeladen. Man kann solchen Darstellun­gen gar nicht neutral-beobachtend gegenüberstehen, sondern muss Stellung beziehen. Und wer angerührt wird, fängt selbst an, sich ent­sprechend der Logik dieser Texte zu verhalten. Wer Mitleid gegenüber dem unter die Räuber Gefallenen verspürt hat, wer sich über die Unge­rührtheit der Vorüberziehenden geärgert hat, der wird sich vielleicht bemühen, am Leid anderer Menschen auch selbst nicht vorbeizugehen, und wird selbst so zu einem Einwohner der Königsherrschaft Gottes. Was vom berühmten Gleichnis des barmherzigen Samariters gilt, kann man über die gesamte Bibel sagen: Die Texte aktualisieren sich im Lese­vorgang. Das ist ganz ernst zu nehmen.

Bibel als Lebensraum

Das Wort Gottes in der Gestalt der Bibel ist mehr als die Rechtsgrund­lage der Gemeinschaft der Gläubigen, es ist Lebensform und Lebens­raum. Die Bibel ist nicht allein Gegenüber oder Sachgegenstand kirch­licher Beschäftigung mit ihr. Es werden nicht bestimmte Inhalte aus der Bibel herausgeholt; vielmehr ist das Wort selbst der Lebensraum des Glaubens. Das bedeutet einen Perspektivenwechsel. Statt des „Heraus­holens“ gilt viel eher das „Einsteigen“. Hier meint der kontextuelle Blick das Hereinnehmen der pragmatischen, der sozialen und der liturgi­schen Perspektiven der Bibel.

„Wort Gottes“ ist nicht einfach da, sondern aktualisiert sich in der Feier. Der Raum der Schrift ist einerseits vor‑gegeben, dies ist Bestandteil der Offenbarungsgestalt; und andererseits wird dieser Raum in Feier- und Gemeindegestalt liturgisch in der Kraft des Geistes immer neu errichtet. In diesem Sinne kann Kirche als „Lesegemeinschaft des Wortes Gottes“ definiert werden, Kirche als creatura verbi (Geschöpf des Wortes). Der Begriff „Wort“ ist hier natürlich denkbar weit zu fassen: Er meint das Gotteswort in umfassendem Sinne, das Schöpfungs- und Berufungswort von Anbeginn an, das Wort im Sinn der Inkarnation und auch der Ver­kündigung Jesu, dann in der Predigt der Apostel und schließlich in der Buchgestalt der Bibel. Von hier ist das Wort Gottes von Anfang an in einen komplexen, gemeinschaftlichen, ekklesialen Kontext eingebun­den. Wenn das Wort verkündet wird, aktualisieren sich diese Zusam­menhänge.

Räumlichkeit und Körperlichkeit

Dass das Wort Gottes im Wort und in der Gestalt des Nächsten begegnet, ist nicht zu gering einzuschätzen. Das konkret verkündete Wort bindet sich an einen Menschen, mit all dessen Stärken und Schwächen, auch im Lesen. Wer selbst liest, leiht seinen Körper und seine Fähigkeiten (auch samt seinen persönlichen Begrenzungen) dem Wort Gottes. Und die Hörenden sind darauf angewiesen. Die Gottesbegegnung ist an die Begegnung mit dem Nächsten gebunden. Und selbst die individuelle Bibellektüre lebt noch von dieser Gemeinschaft und ist von ihr her zu definieren. Gotteswahrnehmung und Nächstenwahrnehmung sind im Gottesdienst miteinander verschränkt und aufeinander verwiesen. Es braucht die regelmäßige Gottesdienstfeier, um die Haltung der Auf­merksamkeit beständig einzuüben. Die Hinwendung zum Nächsten ist nichts, was in einem einzelnen Willensakt vollzogen wird, sondern etwas, was immer wieder geübt und praktiziert werden muss. Die ge­meinsame regelmäßige Versammlung um die Bibel dient auch diesem Zweck.

Von besonderer Bedeutung ist dann auch, dass der Dienst der Lektors und der Lektorin in den Gemeinden von vielen Menschen ausgeübt wird – und das meint sowohl die Liturgie als auch den Vorlesedienst in Bibel­kreisen oder Lectio-divina-Gruppen, wo dieser Dienst im Laufe der Zeit reihum wechselt. Jeder kann also dieser „Nächste“ selbst sein und jeder Nächste der Verkünder des Wortes. Ein solcher Rollenwechsel ist eine grundsätzliche Voraussetzung von Kirchesein, denn er macht die ge­meinsame Berufung aller Gläubigen deutlich, die allen gegeben ist. Das Wechseln der Dienste unterstreicht das. Zu lesen und zu hören und von dem Zeugnis abzulegen, was einem an Verständnis geschenkt wurde, dazu ist jede und jeder Glaubende eingeladen.

Der/die Nächste neben mir

Die bibellesende Gemeinschaft sollte auch so etwas wie ein Resonanz- und Kommunikationsraum sein. Das Besondere vor Ort versammelter Gemeinschaften ist ihre Konkretheit, auch das gehört zum Kirchesein. Es ist nicht eine anonyme Gruppe, vielmehr aktualisiert sich die univer­sale Kirche je und je in konkreten Gottesdiensten und Ver‑Sammlun­gen. Gerade in kleiner werdenden Gruppen liegt eine Chance, denn sie sind überschaubar. Man kennt sich untereinander gut, es fällt auf, wenn jemand fehlt. So hat jeder seinen persönlichen Ort. Und die Rolle des Einzelnen äußert sich nicht allein in der Möglichkeit der Übernahme des Lektorendienstes, sondern dann stärker noch im Austausch über den Text. Hier kommen individuelle Sichtweisen und Erfahrungen stär­ker zum Ausdruck. Darin liegt in der Praxis für viele auch eine besonde­re Schwierigkeit begründet, denn es ist nicht immer leicht zu ertragen, wenn andere, nicht immer textgerecht, notwendigerweise auf ihre Lieb­lingsthemen zu sprechen kommen, die sie schon immer beschäftigt ha­ben. In diesen Fällen geht es wirklich um das beständige Einüben von Nächstenliebe, darum, den anderen zu ertra­gen. So wie man die ande­ren trägt und auch erträgt, kann man hoffen, auch selbst ertragen zu werden. Es ist die Zumutung des Konkreten, die besonderer Bestandteil des inkarnatorischen Aspektes des Gotteswortes ist. Nächstenliebe gilt u. a. dem, den ich nicht ausgesucht habe, sondern der mir als Nächster gegeben ist.

Zugleich kann sich aber auch etwas öffnen. Das Wort, das mir vielleicht an diesem Tag entgegenkommen will, das mich ergreifen will, spricht mich entweder direkt bei der Lektüre des Textes an, vielleicht aber be­gegnet es mir auch aus dem Mund der Schwester oder des Bruders ne­ben mir. Darauf gilt es zu achten. Gemeinschaft bedeutet, dass man sich gegenseitig wachhält. Immer ist es so, dass in der Versammlung mehre­rer Menschen die Ideen- und Meinungsvielfalt größer ist, als wenn ein Einzelner sich auf ein Thema besinnt. Die fruchtbaren Seiten sind ohne die kräftezehrenden Seiten der Gemeinschaft nicht zu haben. Aneinan­der gebunden zu sein, ist für die Berufung zum Glauben konstitutiv. Dass Paulus in seinen Briefen großartige Bilder der Erwählung zum Glauben und von der Gemeinschaft der Gläubigen entwirft und sich zugleich immer mit harschen Konflikten in den von ihm gegründeten Gemeinden auseinandersetzen muss, ist sicher kein Zufall.

Der in kleinen Gemeinschaften gepflegte Austausch ist grundlegend für das Kirchesein. Die Berufung in die Gemeinschaft der Gläubigen hat zur Folge, dass sich alle Berufenen auf Augenhöhe begegnen können. Zur Gemeinschaft des Glaubens gehört die Wechselseitigkeit des geistlichen Austausches. Glaubenskommunikation sollte niemals Einbahnkommu­nikation sein. Die Gleichheit aller berufenen und in Christus erlösten Menschen ist das Grunddatum von Kirche (vgl. Gal 3,26–29). Gut ist es, wenn sich eine solche grundsätzliche Gleichheit in Formen gemein­schaftlichen Umgangs und gemeinschaftlich gefeierter Liturgie aus­drücken und fortschreiben kann.

Kirche ist auch die Gemeinschaft, die sich vom beständigen Lesen des Wortes Gottes her erneuert. Indem sie hört und liest, fängt sie an zu verstehen.