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Zum theologischen Hintergrund einer „Leben zeugenden Pastoral“

Was meint „zeugende Pastoral“? Kein neues pastorales Konzept, son­dern eine Perspektive, die an jedem Menschen und an seinem elementaren Lebensglauben interessiert ist. Ein Ausschnitt aus Christoph Theobalds Buch „Hören, wer ich sein kann“ skizziert knapp den theologischen Hintergrund dieser Perspektive.

1. Zunächst: Wie lässt sich die „zeugende Pastoral“ […] definieren? Sie besteht nicht in einem neuen Konzept, sondern versteht sich als Ver­such, den „pastoralen Scheinwerfer“ – wenn ich mich einmal so aus­drücken darf – weg von den natürlich zentralen kirchlichen und litur­gischen Akten und Praktiken samt ihren Spezialisierungen auf das Alltagsleben der heutigen Menschen zu richten. Dies lässt sich nur in einem Hin und Her zwischen der Heiligen Schrift auf der einen und unseren alltäglichen Lebensgeschichten auf der anderen Seite verwirk­lichen. Wie in unserer großen Tradition, aber in einem postmodernen Kontext, dem ein typologisches Denken fremd ist, geht es um das Ein­üben einer doppelten Lektüre: der Lektüre der Schrift und der pastora­len Relektüre dessen, was sich wirklich im Alltag der Menschen ab­spielt, sozusagen im dunklen Hintergrund der uns jeweils zugänglichen Lebens- und Gesellschaftsfragmente. Unter methodischem Aspekt geht es um eine biblisch-pastorale oder pastoral-biblische Hermeneutik, die beide Lektüren in ihrer Autonomie ernst nimmt bzw. jeden direkten, fundamentalistischen Bezug zwischen diesen beiden Ebenen zu ver­meiden und die geschichtliche Differenz schöpferisch fruchtbar zu machen weiß. Damit sind wir aber bei dem […] modus procedendi – wie die Schrift zu lesen und wie das, was sich ereignet, zu entziffern ist – und bei den entsprechenden Dispositiven, die jeweils nach Ort und Zeit variieren. Das kann hier nicht ausgeführt werden, da ich dann von meinen konkreten Erfahrungen in der französischen Pastoral erzählen müsste (vgl. Theobald 2005).

Zwei weitere eng miteinander verknüpfte Elemente gehören noch zur Definition einer „zeugenden Pastoral“: zunächst die ganz wesentliche Unterscheidung zwischen einem universal verbreiteten, auf jeden Fall immer und überall möglichen Lebensglauben – in seiner immer singu­lär-relationalen Struktur und mit seinen gesellschaftlichen Implika­tionen – auf der einen Seite und dem Christus- und Gottesglauben der Jüngerinnen und Jünger Jesu auf der anderen Seite. Ein weiteres Ele­ment ist das in dieser Unterscheidung aufscheinende brennende und bedingungslose Interesse Jesu am anderen Menschen, wer er auch immer sein mag: sein Interesse an dem „Jedermann“ in seiner alltäg­lichen Vielfalt und an seinem elementaren Lebensglauben. In einer Christenheit, die sich über Jahrhunderte darauf verstand, in der Kirche zwischen Klerikern und Laien und in der Gesellschaft zwischen Athe­isten und Angehörigen anderer Religionen zu unterscheiden, ist diese Perspektive wohl etwas Neues. Die Entdeckung dieses niemals selbst­verständlichen Interesses macht die „zeugende Pastoral“ zu einem Ver­such und verwandelt sie in einen nie endenden Konversionsprozess.

2. Damit ist aber bereits der theologische Hintergrund solcher Pastoral skizziert, den ich nun in drei abschließenden Schritten noch kurz be­denken werde:

a) In der Tat ist, wie beim II. Vatikanischen Konzil, die sogenannte „Pas­toralität“ nicht nur der Ausgangs- oder Zielpunkt theologischer Refle­xion, sondern ihr eigentlicher geschichtlicher Raum. Das heißt, am Anfang steht die im Evangelium selbst angelegte Beziehung zwischen der, die es verkündet, und der, die es hört, wobei das, worum es in der Verkündigung geht – entsprechend der anfangs analysierten paradoxen Beziehungsstruktur –, bereits in der Adressatin am Werk ist. Wenn Gott sich dem Menschen nähert, dann bricht er eben nicht bei ihm ein, son­dern kommt in einen Bereich, der ihm seit jeher gehört, wie es der jo­hanneische Prolog ja zeigt. Die „zeugende Pastoral“ ist somit ein Weg zurück zu diesem Ursprungsprinzip aller „Pastoralität“, nämlich zu dem, was Geburt und Reifung des Glaubens in einer Adressatin ermög­licht. Vielleicht wird dies besonders im ersten Thessalonicherbrief deut­lich, in diesem Text, in dem Paulus seine Beziehung zu der von ihm ge­gründeten Gemeinde mit Hilfe einer Analogie zwischen seinem Apos­tolat und einer Mutter- und Vaterschaft verständlich macht. Diese wenig beachtete Analogie ist deshalb so entscheidend, weil sie einer­seits die heute neu zu durchdenkende Beziehung zwischen Mann und Frau, Mutter- und Vaterschaft – auch im Raum der Verkündigung – ins Spiel bringt und andererseits die wechselseitige Beziehung von Leben und Glauben zu denken hilft: Niemand kann ohne einen Lebensglauben leben; wie das Leben wird solcher Glaube zwar „gezeugt“, muss aber gleichzeitig aus der Tiefe der jeweils anderen kommen. In diesem Sinne unterstreicht Paulus dann, dass das aufgenommene Wort sich in dem Augenblick als Gotteswort erweist, in dem diejenigen, die es aufneh­men, entdecken, dass es in ihnen schon am Werk ist (vgl. 1 Thess 2,13).

Diese prophetische und neutestamentliche Grundstruktur beruht auf christologisch-trinitätstheologischen Voraussetzungen und hat ekklesiologische Konsequenzen.

b) Der christologisch-trinitätstheologische Hintergrund der „zeugenden Pastoral“ zeigt sich in der heilsrelevanten Differenz zwischen Jesus und denen, die bis heute in seiner Nachfolge stehen. Hier gilt es jedoch, eine Spannung auszuhalten: Einerseits ist alle pastorale Gegenwart im Alltag der Menschen nur „in seinem Namen“ möglich; andererseits ist dies aber wirklich seine Präsenz, die sich in der Präsenz der Christinnen und dem von ihnen und anderen getragenen Beziehungsgeflecht sozusagen „pneumatologisch“ verbirgt. In diesem oftmals nur in kurzen Augen­blicken aufscheinenden Geschehen geht es letztendlich um „Zeugung“ – „Du bist meine Tochter, mein Sohn; heute habe ich dich gezeugt“ (wie es in Psalm 2 und in den synoptischen Taufperikopen zu lesen ist) oder (in johanneischer Sprache) um „Geburt von oben“ – jener, „die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh 1,13). Hier setzt eine von der Theologie und ihrer Tradition zu begleitende pastorale Grundauf­gabe an, unsere Gottesbilder, die Ablehnung, Distanz oder innere Zu­stim­mung motivieren, einem geistlichen, im Alltag zu vollziehenden Konversionsprozess zu unterziehen, bis das „sehr gut“ des Evangeliums in ihnen den Sieg davonträgt.

c) Die ekklesiologischen Konsequenzen der „zeugenden Pastoral“ erge­ben sich dort, wo im Raum der „Pastoralität“ Spannungen zwischen unseren sakramentalen Zeichen und Riten auf der einen und dem alltäglichen Beziehungsgeflecht der Menschen auf der anderen Seite auftauchen. Ich wies bereits auf die Gefahr hin, dass die messianischen Gesten und Episoden menschlichen Lebens von unseren Sakra­menten und unserer Liturgie sozusagen aufgesogen werden und einer immer schwerer zu passierenden Grenze zwischen dem Heiligen und dem Profanen zum Opfer fallen. Hier scheint mir der vom II. Vatikanischen Konzil geprägte Begriff der „Sakramentalität“ der Kirche eine vielver­sprechende Funktion ausüben zu können; allerdings unter der Bedin­gung, dass solche „Sakramentalität“ nicht nur von unseren Sakra­menten her definiert wird, sondern diese auch umkehrt von den im Alltag gesetzten messianischen Zeichen her verstanden werden.

Mir scheint, dass unsere kirchliche, von der Wissenschaft begleitete Pastoral viel von ihrer Energie in Grabenkämpfen verliert: Kämpfen, die – mit Erich Auerbach gesprochen – „umstrittenen und wankenden Ordnungen“ gelten. „Unterbrechung“ ist hier von Nöten! Unterhalb dieser Ordnungen bietet in der Tat das alltägliche Leben der Menschen, ihr Lebens- oder Christusglauben, der, die Augen und Ohren hat, ein unerschöpfliches Reservoir an Hoffnung.