Anfangen zu leben und dem eigenen Verlangen Raum zu geben
Zeugende Pastoral – eine Pastoral im Dienst des Anfangendürfens
Wer bin ich in meinen Begegnungen mit anderen?
Ausgangspunkt der zeugenden Pastoral ist die einzelne Person bzw. die Begegnung mit dem Einzelnen. „Man kann die zeugende Pastoral folgendermaßen charakterisieren: Sie ist eine Weise, in Beziehung(en) zu stehen, und eine Weise zu handeln, beide inspiriert vom Evangelium, die es Gott erlauben, Menschen zu ihrem eigenen Leben aufstehen zu lassen“ (Bacq 2019; Übersetzung H. M.). Entsprechend lautet die zentrale Frage der zeugenden Pastoral: Wer bin ich in meinen Begegnungen mit dem bzw. der anderen? Bin ich so voller Wissen und pastoraler Kompetenz, dass ich bei meiner Begegnung mit dem anderen schon eine fertige Idee davon habe, wer er sein kann und was gut für ihn ist? Oder bestimmt mich ein Nichtwissen, eine Offenheit, so dass ich der anderen Person mit dem Verlangen begegne, sie möge mehr sie selber werden, ja, sie möge mich durch ihre Fremdheit überraschen? Begegne ich einem anderen gemäß meiner Vorstellung von ihm oder gemäß der in den Evangelien erzählten Art und Weise, wie Christus Menschen begegnete?
2004 hörte ich das erste Mal von einer pastorale d’engendrement. Am Ende eines deutsch-französischen Praxisseminars erklärte Christoph Theobald, dass es gegenwärtig in Frankreich eher angebracht sei, vom Glauben zu sprechen als von Gott. Dann stellte er uns seine Überlegungen vor, ausgehend von dem in den Evangelien mehrmals erzählten Ausruf Jesu: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Offensichtlich entdeckt Jesus einen Glauben ohne religiösen Bezug bei Frauen und Männern, die in ihrer Lebendigkeit eingeschränkt sind. Das Gerücht, dass Jesus von Nazareth Menschen zu mehr Leben hilft, und ihr tiefes Verlangen zu leben lassen sie die Begegnung mit Jesus suchen. Dieser ist betroffen von ihrem Verlangen und erkennt darin den Glauben, der „heilt“ bzw. der zum Leben bringt. Das Verlangen zu leben verweist auf einen allerersten Glauben, nämlich das Vertrauen, dass es sich zu leben lohnt. Es ist der Glaube an das Gutsein des Lebens, gemäß dem vom Schöpfer ausgesprochenen Segen.
Inspiriert von der Geste Jesu beginnt die pastorale d’engendrement mit dem Staunen über diesen allerersten Glauben. Als ich diese Überlegungen von Christoph Theobald hörte, kamen mir Fragen: Um welchen Glauben geht es hier? Wenn er an mehreren Stellen der Evangelien Jesu Staunen weckt, warum habe ich nie darüber nachgedacht? Warum spricht die Kirche nicht davon? Was ändert sich, wenn man diesen Glauben, dieses Lebensvertrauen zuerst betont, bevor man sich um die Weitergabe des Glaubens der Kirche sorgt? Bin ich selber fähig, diesen Glauben in bedrückten Menschen wahrzunehmen und ihnen meine Entdeckung so mitzuteilen, dass ihre Lebenskraft geweckt wird? Hat jemand in mir schon einmal eine Lebensquelle entdeckt, von der ich nichts ahnte? Kann die Weise, in der Jesus den Menschen begegnete, mir als Beispiel dienen, es ähnlich zu machen? Habe ich mich in der Lektüre der Evangelienerzählungen so weit engagiert, dass sie mich herausfordern? Wer bin ich in meinen Begegnungen mit anderen? Was habe ich dafür getan, mich immer wieder von Neuem von biblischen Texten überraschen zu lassen?
Die zeugende Pastoral hat also zunächst mit dem einzelnen Menschen zu tun. Dem entspricht zumindest die eine der Situationen, in denen sich die Prinzipien der zeugenden Pastoral entwickelten: die Krankenhausseelsorge. Entsprechend versteht Christoph Theobald Pastoral „als die Kunst, durch die eigene Anwesenheit den anderen in seiner Einmaligkeit zum Vorschein zu bringen“ (Christoph Theobald, zitiert nach Bacq 2012, 47). Worin besteht nun diese Kunst? Was kennzeichnet die vom Evangelium inspirierte Weise, in Beziehung zu stehen und zu handeln? Dass sie zuerst vom anderen der Beziehung oder der Begegnung bestimmt ist, und zwar radikal. In aktuellen Überlegungen und Anleitungen einer zeitgemäßen Pastoral ist es ja durchaus an der Tagesordnung, die Frage nach den Adressaten pastoralen Handelns zu stellen. Aber das Interesse am anderen Menschen, um das es in der zeugenden Pastoral geht, ist radikaler. Albert Rouet, der emeritierte Bischof von Poitiers, hat darüber vor fünf Jahren ein leidenschaftliches Buch geschrieben (Rouet 2013; die Seitenangaben im Folgenden beziehen sich auf dieses Buch; Übersetzungen von der Autorin). Der Umweg über sein Buch kann ein hilfreicher Zugang zur zeugenden Pastoral sein.
„Staunender Glaube“
Herausgefordert davon, dass es immer mehr Menschen gibt, denen es recht ist, dass sie für gleichgültig gehalten werden, weil sie nichts Anderes wollen, als in Ruhe gelassen zu werden, interessiert sich Albert Rouet für eben diese Menschen bzw. für ihre Gleichgültigkeit, ihre „indifférence“. Das tut er, weil sie ihn entdecken lassen, dass er selber staunt zu glauben. Sein Buch heißt „L’étonnement de croire“. „Diejenigen, die staunend glauben, können diejenigen verstehen, die sich dem Glauben gegenüber indifferent verhalten“ (183).
Eine schützende Nebelmauer
In Gesellschaften, in denen ein Maximum von Uniformität und Individualisierung zusammengehen, ist der Individualismus die einzige Waffe des Überlebens und die unmittelbare Folge – um sich zu schützen – die Indifferenz (vgl. 19). „Die persönliche Geschichte der Einzelnen erscheint unbedeutend und uninteressant, und doch enthält sie eine Vielzahl von Einzelheiten, die kostbar sind. Das konkrete Bewusstsein, wer ich bin, wurzelt in diesen Einzelheiten. Zugleich kehren in einer individuellen Geschichte Momente der Schwäche, des Leidens, der Unzufriedenheit wieder“ (56 f.). Alle Erfahrungen, mögen sie noch so geringfügig sein, sind kostbar. Sie machen die Einzigartigkeit dieser Person aus. Weil sie so kostbar sind, errichten Menschen einen Schutzschild. Die persönlichen Erfahrungen werden hinter der Indifferenz wie hinter einem Nebel verborgen (vgl. 57).
Das Verlangen zu existieren
Wie eine Schutzmauer hält die Indifferenz das Verlangen gefangen. „Jemand weiß, was in ihm pocht: das Verlangen, zu existieren, in den Augen eines anderen zu existieren, als einzigartig erkannt zu werden“ (178). Er hat jedoch Angst, sich in eine Beziehung hineinzugeben, sich zu geben. Die Furcht, getäuscht zu werden, lähmt das Engagement. „Was nicht glaubwürdig ist, kann nicht ertragen werden“ (74). „Nicht glaubwürdig z. B. ist das Wort vom Heil. Es erscheint fremd und unangemessen Menschen gegenüber, die sich nicht verloren fühlen, sondern vernichtet, nicht als Sünder, sondern als Nullen. Menschen, die sich fragen, ob ihre Existenz einen Wert hat“ (158). Nicht die sogenannten großen Fragen beschäftigen sie: Woher kommen wir, wohin gehen wir, wer sind wir? Sondern die Angst, der Arbeit nicht gewachsen zu sein, die Angst vor den Schulden am Ende des Monats. Sie wehren sich gegen theologische Reden, die zum Gegenstand machen, was das Innerste der Person berührt. Für hehre Ziele können sie sich nicht begeistern. Ihre Wertschätzung gilt dem alltäglichen Leben. Hier ist der Ort, um ganz und gar das eigene Leben zu leben. „Das Wesentliche spielt sich in den unwesentlichen Dingen ab. Menschen, die sich durch Indifferenz schützen, leben außerhalb eines religiösen Systems, aber sie leben nicht ohne Spiritualität“ (114). „Ihr Gefühl, in keiner Weise notwendig zu sein, durch das eigene Dasein nichts zur Veränderung der Welt beizutragen, begründet eine geistliche Haltung: das Bewusstsein der eigenen Widerruflichkeit“ (117).
Eine Tür öffnen
Auf welche Weise dringt man durch die Schutzmauer der Indifferenz? Wie kann das gefangen gehaltene Verlangen geweckt, wie kann das Herz berührt werden? „Diejenigen, denen Indifferenz bescheinigt wird, brauchen zuerst die Anerkennung als Brüder und Schwestern im Menschsein. Bevor sie als ‚Gleichgültige‘ gelten, sind sie Personen, die um ihre Existenz kämpfen und die es, wie sie’s können, mit der Härte des Lebens aufnehmen. Es geht darum, ihnen ihre schmale Freiheit und ihre Verantwortung zurückzugeben. Es fällt doch auf, dass diejenigen, die Jesus heilt, die erste Geste ihrer neuen Verantwortung selber vollbringen sollen: ihr Bett tragen, sich den Vorstehern zeigen. Auf diese Weise zeigt ihnen Jesus sein Vertrauen: Er glaubt an sie. Von nun an bestimmen sie ihr Leben in Freiheit. Durch das Vertrauen, das Jesus ihnen schenkt, gibt er ihnen Hoffnung. Manche Gläubige würden die Gleichgültigen gern bekehren, damit sie ihre Ängste aufgeben und auf ihre Seite wechseln. Aber das, was ihre Schutzschicht durchlässig machen und sie in der Tiefe anrühren würde, wäre eine Geste wie die, mit der Jesus die Menschen durch sein Vertrauen sich selbst zurückgibt und durch sein Mitleid aufrichtet“ (109). Wer sich hinter dem Nebel der Indifferenz verbirgt, weiß nicht, wem sie, wem er Vertrauen schenken darf. Eine solche Person „braucht ‚Orte der Glaubwürdigkeit‘ in einem doppelten Sinn: Begegnungen, bei denen andere wichtig finden, was sie anvertraut, und bei denen sie selber daran glauben kann, dass sie wirklich gehört wird“ (57).
Der Weg von Emmaus
Zuallererst geht es darum, dass diejenigen, die miteinander ins Gespräch kommen, ein Interesse gemeinsam haben. Es geht um ein erstes Einverständnis. Das „Einverständnis des gemeinsamen Wegs, nach dem Bild des Unbekannten, der sich den beiden Männern anschließt, die nach Emmaus unterwegs sind“ (76). „Man begibt sich auf diesen Weg, indem man geduldig den einzigartigen Wert dieser Existenz nachzeichnet. Eine solche positive Lesart verlangt zu akzeptieren, was der andere von sich gibt, so geringfügig es sein mag“ (57). So kann er sein eigenes Leben zu einer Erzählung werden lassen. Darin bekommen Verletzungen und Brüche einen Ort. Er hat das Recht, schwach zu sein, ohne sich dessen schämen zu müssen. „Diese Schwäche öffnet erst den inneren Raum, wo er in sich selber wohnen und sich entfalten kann“ (62). Eine Person begreift, dass ihre Geschichte einzigartig ist, weil ein anderer ihr aufmerksam zuhört und gezeigt hat, dass sie für ihn kostbar ist.
Seine Einzigartigkeit entdecken
Wer seine, ihre Einzigartigkeit entdeckt, braucht sich vor anderen nicht zu schützen und sich auch nicht zu bewahren. „Einzigartigkeit ist das Gegenteil von Individualismus. Während dieser die Einzelnen wie Inseln voneinander isoliert, erlaubt die Einzigartigkeit, in Beziehung zu treten“ (61). „Es geht darum, sich der einzelnen Existenz zuzuwenden, das Besondere anzuerkennen, das Unvergleichliche eines/einer jeden. Hier muss jene Mitte gefunden werden, die eine Existenz zutiefst mit anderen verbindet. Die persönliche Geschichte, die sicher weniger brillant ist als große Ereignisse, ist die Schlüsselstelle“ (121). „Die bisherige Pastoral arbeitet auf der Schiene der Dauer. Die Tatsache der Indifferenz nötigt uns zum Glauben daran, dass in jeder Begegnung auf dem Spiel steht, was die Einzigartigkeit einer Person ausmacht. Die Kraft einer solchen Begegnung ist fruchtbarer als Worte, die einen Inhalt erschöpfend darstellen“ (63).
Einen Glauben entdecken, der uns vorausgeht
„Angesichts der Indifferenz geht es nicht darum, den Glauben vorzuschlagen, sondern, richtiger, mit diesen Menschen einen Glauben zu entdecken, der uns vorausgeht. Gemeinsam dürfen und sollen wir uns von der Interesselosigkeit dieses Glaubens anfragen lassen“ (142). Was ist mit Glauben gemeint, wenn er nicht näher bestimmt wird? „Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter kann als Beispiel dienen. Der Mensch, der halbtot am Wegrand liegen gelassen wurde, hat kaum noch Leben und kaum Kraft zu einem bewussten Akt von Vertrauen und Glauben. Sein Leben hängt ganz und gar von einem anderen ab. Der Priester und der Levit glauben nicht, dass sie etwas für ihn tun können und müssen. Der Samariter hingegen glaubt, den Verletzten retten zu können und zu müssen. Im Herzen dieses Gleichnisses gibt es tatsächlich so etwas wie einen ersten Glauben – in der Fähigkeit, einem anderen zu helfen, zum Leben zu kommen. Vertrauen ist nicht nur da am Werk, wo einem anderen ein Geheimnis mitgeteilt oder ihm bzw. ihr eine Arbeit anvertraut wird. Vertrauen ist auch in der Gegenseitigkeit am Werk, wenn die einen den anderen mehr Leben ermöglichen. Dieses Vertrauen schafft ein Mehr an Menschsein“ (152). Als Vertrauen, das wechselseitig erlaubt, da zu sein, ist der „erste Glaube“ konstitutiv für das Menschsein. Der andere ist es, der an mich glaubt und begreift, dass ich an ihn glaube. Weil sich das Vertrauen dem Zugriff des Subjekts entzieht, ist es die einzige Tür, durch die einer den innersten Garten eines anderen betreten darf.
Anfangendürfen
Anfangen dürfen zu vertrauen, dem eigenen Verlangen Raum zu geben, das Leben neu zu wählen: Das ist das Ziel, dem die pastorale d’engendrement dient. Bisher haben wir im Deutschen von der zeugenden Pastoral gesprochen. Ich ziehe jetzt vor, von der Pastoral des Anfangendürfens zu sprechen. Warum? Der Begriff des Zeugens ist eine Metapher, und es gehört zur Metapher, dass sie „nicht stimmt“ (vgl. Feiter 2012, 140), sie soll gerade irritieren. Es ist hilfreich, durch eine Metapher ins Stolpern zu kommen. Das Stolpern über die Metapher des Zeugens bringt dem Hörer, der Leserin, die untrennbare Verbindung von Glauben und Leben bzw. Leben und Glauben in neuer Weise nahe (vgl. ebd. 143). Nicht hilfreich ist es jedoch, durch die Metapher möglicherweise in einer Vorstellung bestärkt zu werden, die dem Ursprungsprinzip der Pastoralität zuwiderläuft: dass Pastoral nämlich etwas wäre, was von einem pastoral Tätigen ausgeht. Dem Ursprungsprinzip der Pastoralität entsprechend rechnet der pastoral Tätige vielmehr mit dem Zusammenwirken mehrerer Subjekte (vgl. Donegani 2012, 70). Freilich ist da eine Pastoralarbeiterin, aber ihre Aufgabe ist es nicht zuletzt, aufmerksam dafür zu sein, dass und auch in welcher Weise das gute Leben, dem sie zu dienen sich müht, in der anderen Person schon am Werk ist.
Dieser Plural der Subjekte einer Pastoral kommt besser zum Ausdruck, wenn ich von der Pastoral des Anfangendürfens spreche. In seiner Relecture der Hintergründe der pastorale d’engendrement hebt Reinhard Feiter die Aufmerksamkeit hervor, die hier „eben diesem immer wieder von Neuem erstaunlichen Anfang eines Anfangens selbst“ gilt. Und er präzisiert unter Verweis auf Hannah Arendt: „Nicht dem, was sich entwickelt und andauert oder auch vergeht, seinen Anfang aber nur hat, wendet sich die zeugende Pastoral zu, sondern dem, was fähig ist anzufangen“ (Feiter 2012, 114). Der Zusatz des Anfangendürfens deutet an, dass diese ursprüngliche Fähigkeit und Freiheit des Anfangens nicht eine Sache des eigenen Wollens und Machens ist, sondern ein Geschenk.