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Reorganisation oder Verwandlung

Die Glauben zeugende Pastoral aus Frankreich auf der Folie aktueller nordamerikanischer Pfarreientwicklungsprogramme

Diese Ausgabe von euangel befasst sich mit der sogenannten Pastoral der Zeugung (pastorale d’engendrement), einem pastoraltheologischen Ansatz aus Frankreich. Um dessen Potenzial und Dynamik für pastorale Entwicklun­gen deutlicher zu erfassen, unternimmt Hubertus Schönemann den Versuch, ihn mit in Nordamerika entwickelten Ansätzen von Pfarreierneuerung zu kontrastieren.

In der pastoraltheologischen Diskussion werden für die Entwicklung von Pastoral und Kirche unterschiedliche Ansätze diskutiert und aus­probiert. Ich nenne hier stellvertretend das community building und small christian communities (KCG) mit Methoden des Bibelteilens aus den Ländern des Südens sowie die Gründungsperspektiven (church planting) der kontextuellen Gemeinschaftsformen aus der anglika­nischen Kirche (fresh expressions of church) sowie aus den betriebswirt­schaftlichen Unternehmenswissenschaften (Ekklesiopreneurship).

Es ist unstrittig, dass das Christentum und seine soziale Gestalt in den gegenwärtigen Gesellschaften Mitteleuropas einer erneuernden Verän­derung bedürfen. Manche sprechen gar von einer grundsätzlichen Sys­temtransformation. Die Aufnahme und Vermittlung unterschiedlicher Ansätze zeigt, dass sich das Verständnis von Glaube und Kirche, von Gott, Kultur und Gesellschaft innerhalb einer religiös-konfessionellen Tradition wie der katholischen Weltkirche derzeit stark ausdifferenziert. Auswirkungen davon sind auch hierzulande zu spüren. Brückenschläge von geistigen Strömungen schaffen über die Grenzen von bisherigen Konfessionsgrenzen hinweg neue Konstellationen und Koalitionen. So entstehen neue Ausdrucks- und Praxisformen des Christlichen und sei­ner kirchlichen Gestalt. Möglicherweise kommt die Entgegensetzung der nordamerikanischen Pfarreientwicklungsprozesse und des franzö­sischen Ansatzes einer pastorale d’engendrement in diesem Beitrag etwas holzschnittartig daher. An den „Bruchstellen“ verschiedener Ansätze jedoch werden unterschiedliche Vorstellungen von Evangeli­sierung deutlich, auch wenn diese nicht immer explizit reflektiert und benannt werden.

1. Die Pfarreientwicklungsprogramme aus den USA und Kanada

Als Pfarreientwicklungsprogramme werden derzeit im deutschsprachi­gen Raum vor allem das Konzept „Divine Renovation. Wie Gott sein Haus saniert. Von einer bewahrenden zu einer missionarischen Kirchen­gemeinde“ (James Mallon), das in Halifax, Kanada, entwickelt wurde (Rezension in euangel 1/2018), sowie „Rebuilt. Die Geschichte einer katholischen Pfarrgemeinde“ (Michael White und Tim Corcoran aus Baltimore, USA) gehandelt. Beide „Konzepte“ heben schwerpunkt­mäßig auf das Ziel ab, Jüngerinnen und Jünger Jesu zu „machen“ (vgl. Mt 28,19 f.).

Der Kontext Nordamerikas transportiert eine starke Gemeindeorientie­rung und Marktförmigkeit. Da in Nordamerika kein territorial-staat­liches Meldewesen die Zugehörigkeit zu einer Pfarrei bestimmt, suchen sich Menschen, die ein religiöses Interesse haben, ihre religiöse Gemein­schaft nach bestimmten Kriterien aus. Dabei stehen Pfarreien nicht nur in Konkurrenz mit anders-konfessionellen Religionsanbietern (die allge­meine und persönliche Konversionsrate ist in den USA ungleich höher als in Deutschland), sondern auch mit den anderen katholischen Kir­chengemeinden, die mit einer hohen Adressatenorientierung um Mit­glieder und Spenden zur Finanzierung des kirchlichen Lebens werben. Ein konfessionelles, manchmal auch ethnisches Profil ist um der Mar­kenbildung im Wettbewerb willen stark ausgeprägt.

In den Pfarreientwicklungsprogrammen ist vieles zu entdecken, das auch für Kirchengemeinden in Deutschland hilfreich ist. Eine hoch aus­gebildete Willkommenskultur nimmt den „Neuankömmling“ mit „greeters“, Informationsteams und einer Kundenorientierung in den Blick, die sich bis zu praktischen Fragen wie einem Parkplatz vor der Kirche (!) erstreckt. Kleingruppen und regelmäßige Glaubenskurse wie andere katechetische Programme bieten Gelegenheit, den Glauben ken­nenzulernen und ihn persönlich und gemeinschaftlich weiterzuentwi­ckeln. Für den Sonntag als dem zentralen Treffpunkt der Gemeinde wird Wert auf eine qualitätvolle und lebendige Gestaltung des Gottesdienstes gelegt. Ein hoher Grad an Beteiligung, eine gute musikalische und äs­thetische Gestaltung, eine ansprechende, authentische, somit relevante und „knackige“ Predigt sowie diverse Partizipationsformen für ver­schiedene Lebensalter (spezielle parallele Gottesdienstgestaltungen für Kinder und Jugendliche sowie junge Erwachsene) sind sicherlich mit Gewinn in Deutschland ebenfalls zu entwickeln. Oft ist dies kombiniert mit der Nutzung moderner Technik (Präsentation, Sound, Lichteffekte) und Lobpreismusik in ansprechender musikalischer Gestaltung. Eine anschließende Begegnung und gemeinschaftsorientierte generationen­übergreifende Katecheseformate (whole community catechesis) stärken das Gemeinschaftsleben und Zusammengehörigkeitsgefühl.

Bei „Rebuilt“ ist der primäre Auftrag der Kirche, Menschen zu Jünger/​innen Jesu zu machen. Die fünf zentralen Prinzipien sind Gottesdienst, Gemeinschaft, Nachfolge, Dienst, Evangelisierung. Evangelisierung hat Fokus nach innen („Jüngerschaft“) und nach außen („Evangelisierung“) (vgl. White/​Corcoran 2016, 88). Eine hohe Aufmerksamkeit kommt einer motivierenden, herausfordernden und entwickelnden Leitung sowie unterschiedlichen Formaten von Dienst zu (ministries).

Das Ziel dieser Ansätze ist das Erreichenwollen einer möglichst großen Zahl von Menschen. Dennoch sollen die Erreichten keine Konsumenten religiöser Angebote sein, sondern Jünger werden. Hier spielt also eine Art charismatischer Selbstermächtigung und die Betonung der authen­tischen Erfahrung eine große Rolle. Trotz der Dienste (ministries), die für andere übernommen werden, scheint ein Schwerpunkt auf der Gemeinde­orientierung zu liegen, viele Dienste sind gemeindeintern. Es geht darum, möglichst viele Menschen mit der Gemeindearbeit zu bin­den. Wichtige Kennzahlen, die es zu steigern gilt, sind die Zahl der Gottesdienstteilnehmer und die Höhe des Spendenaufkommens. Die nordamerikanischen Programme weisen so Züge von evangelikalen und charismatischen Formen auf, wie sie sich traditionell in freikirchlichen Traditionen entwickelt haben. Die entsprechende inhaltliche Festlegung von Glaube, Jüngerschaft und Gemeindeleben wäre nicht grundsätzlich problematisch, wenn sie nicht mit einer klaren Unterscheidung zu den Nicht-Aktiven, den „Lauen“, den „Konsumenten“, die unterschwellig mit einer einseitigen (Ab‑)​Wertung verbunden ist, verknüpft wäre. Der geweihte Priester als Pfarrer ist zentraler Bezugspunkt und animieren­der Ausgangspunkt der Evangelisierung. Er entscheidet, nach welchen Kriterien die Jüngerschaft und Nachfolge eine authentische ist.

2. Eine Pastoral der Zeugung des Glaubens aus Frankreich

Der Kontext Frankreichs, in dem sich der pastoraltheologische Ansatz einer Glauben zeugenden Pastoral entwickelt hat, zeigt Gemeinsam­keiten und Unterschiede zum nordamerikanischen Kontext. So ist eine klare Trennung von Staat und Kirche ähnlich wie in den USA. Das ist ein deutlicher Unterschied zum religionsverfassungsrechtlichen Modell der „hinkenden Trennung“ in Deutschland, einem Modell der Kooperation der Kirche mit dem Staat, das sich in der Rechtsstellung als Körper­schaft, dem staatlich-religiösen Meldewesen, der wohnsitzgemäßen Zugehörigkeit zur Territorialität der Pfarrei und dem Kirchensteuer­einzug äußert. Jedoch sind die USA insgesamt ein sehr religiöses Land, kaum vergleichbar mit der radikalen Laizität und Säkularität, die sich in Frankreich im Gefolge der Französischen Revolution entwickelt hat. Deutschland nimmt hier sicher eine Mittelposition ein, in vielen deut­schen Großstädten jedoch und in Gegenden Ost- und Norddeutschlands dürfte sich eine säkulare Grundsituation ähnlich wie im französischen Nachbarland entwickelt haben.

Für den Raum der Kirche in Deutschland ist sicherlich langfristig prä­gend, dass sexualisierter Missbrauch, kirchliche Finanzskandale und Reformstau (Umgang mit Macht, Geschlechterrollen, kirchliche Sexual­moral etc.) zur inneren und äußeren Entfernung vieler von der Kirche führen. Sie äußert sich in vermehrter Neigung zum Kirchenaustritt und massiven Vertrauensverlusten der Kirche bei engagierten und identifi­zierten Katholiken. So beschleunigt sich offenbar eine Entwicklung der Modernisierung und der zunehmenden Freiheitsdynamik, die in Mittel­europa offenbar anders als in anderen Teilen der Welt dazu führt, dass die Plausibilität von Religion und des Glaubens insgesamt zurückge­gangen ist, erst recht die der Zugehörigkeit zu und Beteiligung in einer institutionellen Glaubensform. Kirche und Gemeinden werden eher unter der Logik von Vereinen gesehen. Es gelingt zu wenig, kirchliches Leben und Handeln auf den Grund seiner Sendung hin, Evangelium zu leben und zu entdecken, transparent zu machen und zu gestalten.

Daher sind die pastoraltheologischen Ansätze aus Frankreich so interes­sant, weil sie versuchen, aus diesem spezifischen Kontext eine postmo­derne Glaubenstypologie aufzunehmen, die sich von den Revitalisie­rungsversuchen nordamerikanischer Programme weniger im Ausmaß, sondern eher im grundsätzlichen Systemwandel des Verständnisses von Glauben, Christsein und der Kultur deutlich unterscheidet. Neben ande­ren Akteuren ist es insbesondere der in Paris lehrende Jesuit und Funda­mentaltheologe Christoph Theobald, der in seinen Schriften einen alter­nativen pastoralen Ansatz entfaltet. Im deutschen Sprachraum kommt Hadwig Müller und Reinhard Feiter das Verdienst zu, diesen Ansatz zu präsentieren und zu über‑setzen, damit er in der deutschen Pastoral­landschaft fruchtbar werden kann. Der Ansatz wird insbesondere in „Frei geben. Pastoraltheologische Impulse aus Frankreich“ von Reinhard Feiter und Hadwig Müller sowie in zwei Büchern von Christoph Theobald – „Christentum als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa“ und „Hören, wer ich sein kann. Einübungen“ – entfaltet.

Zentraler Ausgangspunkt des Theobald’schen Denkens ist ein elemen­tares Glaubensverständnis. Jeder Mensch – auch der nicht Getaufte, der oftmals als religiös indifferent Bezeichnete – hat einen basalen Lebens­glauben, einen „Mut zum Sein“ (Paul Tillich), eine Hoffnung darauf, dass das Gute des Lebens sich letztlich durchsetzt. Theobald spricht daher von der Interpretationskompetenz JEDERMANNs (mit Großbuch­staben), die es braucht, um Leben in seiner Vielfalt zu gestalten. Darü­ber hinaus sind Jüngerinnen und Jünger Jesu solche, die sich bewusst einem Begegnungs- und Beziehungsgeschehen mit dem lebendigen Auferstandenen aussetzen und sich so von der Gestalt Jesu und von seinem Lebensstil her, wie sie im Evangelium die Jünger zur Verwand­lung einladen, prägen und formen lassen. Sie bleiben immer Schüler (so die eigentliche Bedeutung des griechischen Worts für Jünger), gehen in die Lebensschule Jesu. Dies ist ein lebenslanger Prozess des Hörens, Sich-rufen-Lassens, des Unterscheidens (discretio) und des geistlichen Wachsens im eigenen Lebens- und Glaubensausdruck, der als Entfal­tung der eigenen menschlichen und christlichen Be‑ruf‑ung verstanden wird. (Der jesuitische Hintergrund des Autors und sein Bezug auf den Gedanken des „anonymen Christen“ von Karl Rahner sind unver­kennbar.)

Mit diesem Glaubensverständnis verbindet sich ein Hören und Teilen (Austauschen) auf verschiedenen Ebenen. Das betrifft genauso den gemeinsamen Umgang mit der Schrift im Hören und Teilen, die im Evangelium das Begegnungs- und Beziehungsgeschehen mit dem Auferstandenen ermöglicht (vgl. den Beitrag von Egbert Ballhorn in dieser Ausgabe). Gefragt ist das Eintreten in einen vielfältigen Dialog mit den Schwestern und Brüdern, die sich gleichfalls von der Lebens­dynamik des Evangeliums ergreifen und umformen lassen, wie auch mit den Menschen, die – gleichwohl nicht Jüngerinnen und Jünger – dennoch ihren elementaren Lebensglauben und ihre Erfahrungen in diesen Dialog des Lebens einbringen. Dieser weitläufige Dialog führt dazu, dass christlicher Glaube im Leben immer wieder neu „geboren“ werden kann, daher die etwas missverständliche Bezeichnung „Pastoral der Zeugung“.

Theobald folgt insofern der Hermeneutik des II. Vatikanischen Konzils, als er einerseits wie die Offenbarungskonstitution Dei verbum einen Weg vom Hören des Gotteswortes über seine Verkündigung bis zu den Emp­fängern und ihrem Glauben, Hoffen und Lieben beschreibt. Zum anderen sind wie in Gaudium et spes Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen ihrerseits der Ausgangspunkt des pastoralen Emp­fangens, Deutens und Gestaltens im Licht des Evangeliums. Theobald nimmt so den Gedanken des Konzils der „Pastoralität“ auf, was besagt, dass das verwandelnde Wort Gottes nicht von außen als etwas Fremdes auf den Hörer zukommt, sondern durch die schaffende und erlösende Kraft Gottes bereits unsichtbar im Adressaten vorhanden und in ihm wirksam ist. Im Dialog des Lebens kann es entdeckt und zur Darstellung gebracht werden. Beide Bewegungen sind komplementär. Zusammen ergeben sie ein spannungsreiches Neuentdecken der Wirklichkeit des Glaubens, der so immer wieder neu „gezeugt“ und „geboren“ wird, nicht nur in jeder Generation in einem bestimmten kulturellen Kontext (synchron), sondern auch biografisch im Lebensprozess des einzelnen Menschen und der gesamten vielfältigen Geschichte des Gottesvolkes (diachron). Der Ansatz kombiniert beständige Glaubensvertiefung und ‑erneuerung einerseits und Sozialraumorientierung andererseits. Er entspricht so in hohem Maße dem missionarisch-diakonischen Perspektivwechsel, der derzeit die deutschen Bistümer beschäftigt.

3. Update oder Upgrade. Zwei pastorale Erneuerungsansätze in der Diskussion

Um die gegenübergestellten Ansätze in ihren tieferliegenden Beweg­gründen, Rahmenbedingungen und Zielsetzungen genauer zu erfassen, sollen hier ausgewählte Aspekte nochmals beleuchtet werden. Dabei soll es nicht darum gehen, den einen Ansatz gegen den anderen auszu­spielen, sondern darum, im einen wie im anderen die positiven und kontextuell möglichen Chancen für eine pastorale und kirchliche Erneu­erungsdynamik in Deutschland herauszuarbeiten.

a) Theologie des Glaubens

Die Glaubenstypologie Theobalds erscheint offen und nicht exklusiv, sie ermöglicht unterschiedliche Partizipationsweisen und bestimmt sich prozesshaft und lebensweltlich eingebunden. Sie nimmt eine große Vielfalt der Glaubensfiguren an, die jede für sich zum Ganzen beitragen. Dennoch profiliert sie Jüngerschaft als sich von der Gestalt Jesu prägen zu lassen. Theobalds Glaubensbegriff ist nicht der theistische eines theoretischen Wissens über oder des Für-wahr-Haltens der Existenz eines transzendenten Wesens mit Namen Gott. Die Wahrheit des Glau­bens ist eine, die Beziehung stiftet, eine Wahrheit, die sich ereignet in der Begegnung mit der Person Jesus, dem präsenten Christus Gottes, in Verlässlichkeit und Vertrauen. Wahrheit ist nicht unwandelbare, über­zeitliche Satzwahrheit, sondern vermittelt sich als Beziehungsgesche­hen prozesshaft als Weg und konkret-materialiter als Leben (vgl. Joh 14,6). Der Glaube und die Rede von ihm (Zeugnis, Verkündigung) ist also performativ, nicht ohne die konkrete Verwendung in Praxisvollzü­gen zu verstehen. Es geht nicht um ein Objekt, sondern um mein eige­nes Leben und meinen eigenen Platz in dieser Welt und Zeit. Theobald würde sagen, es geht um die Art und Weise, um den Stil, wie ich die Welt bewohne. Das Leben wird durch das Vertrauen in den lebendigen Auferstandenen als Zusage Gottes befreit und kann reifen. Ich kann darüber reden (Auskunft geben), inwiefern ich von dieser Zusage her oder auf diese Zusage hin in Hoffnung und Liebe zu leben versuche. Damit kann ich aber grundsätzlich in ein Gespräch mit dem nicht Glau­benden oder dem anders Glaubenden eintreten, das mich potenziell selbst beschenkt und meine spezifische Art, die Dinge zu sehen, erst ermöglicht und formt. Hinzu kommt, dass Glaube nicht als Status oder unverlierbarer Besitz gesehen wird.

b) Verhältnis von Christentum/​Kirche und Welt

Ein zentraler Punkt ist, ob „Welt“ mit all ihren Facetten wie Modernität und Fremdheit in den Glauben integriert wird oder dem Glaubensleben entgegengesetzt wird. Entsprechend wird man Christentum in einer gesellschaftlichen Dimension auch als Teilhabe an der Gesellschaft und für sie verstehen oder eben nicht. Der universale Heilswille Gottes für alle Menschen bedeutet, dass das Reich Gottes vermittels seines Geistes auch außerhalb der verfassten Kirche wirkt. Die Kirche und die Christen sind Zeugen dafür, dass das Evangelium allen Menschen zugesagt ist.

Wer „Welt“ als potenzielle Bedrohung des Glaubens sieht, wird sich kirchlich in einen eigenen, binnenprofilierten Raum zurückziehen. Von diesem Standpunkt aus wird er dann die „Welt“ um ihn herum beurtei­len und abschätzen. Es ist derzeit deutlich zu sehen, dass bestimmte Formate kirchlichen Christentums sich aus der zunehmend säkularen Alltagskommunikation und ‑kultur exkulturieren. Ihre Exponenten leben gewissermaßen in zwei Welten, von denen die eine in Fremdheit und kulturellem Konflikt mit der anderen gestaltet wird. Die oftmals wahrgenommene Kluft zwischen postmodernen Lebensstilen und kirchlicher Verkündigung und Praxis (was Partizipationsformen, Ethik etc. anbelangt) stellt massiv die Frage nach der Kompatibilität des Christentums mit der Moderne. Anders gefragt: Geht es um Inkultura­tion des Evangeliums oder um die Profilierung einer Kontrastwelt? Innerkatholische evangelikale Strömungen sind zwar selbst ein Phäno­men der Moderne, versuchen aber, die Moderne zu überwinden, und verbleiben damit oft in einer kritischen Distanz zu gegenwärtigen Lebensäußerungen. Die Rede vom „Zeitgeist“ und der „katholischen Identität“ sind hier verräterisch. Unstrittig ist jedoch, dass die soziokul­turellen Transformationen das Gefüge von Gesellschaft, Kultur und Religion derzeit neu formatieren. Der gesellschaftliche Wandel fordert religiöse Systeme zu neuen Formen ihrer Legitimierung heraus. Daher sind „klare Bekenntnisse“ und Profilierungen des „Klassischen“ auf der einen Seite ebenso wie eine Neuformierung des religiösen Glaubenssys­tems durch Akkommodation andererseits Versuche, diese Verände­rungsdynamik zu bearbeiten.

c) Die Jüngerinnen Jesu und die anderen

Dem Leser der nordamerikanischen Pfarreierneuerungsprogramme drängt sich der Eindruck auf, dass das Kriterium, ob Menschen Jünge­rinnen oder Jünger sind, vornehmlich die aktive Teilnahme am örtli­chen Pfarrleben ist. Es geht primär um ein Erreichenwollen derjenigen, die „noch nicht dabei sind“, dies in einer Logik von Haben und Entbeh­ren. Die „anderen“ werden als die noch nicht zur wahren Erkenntnis Gekommenen angesehen. Die Beziehung zu ihnen gestaltet sich asym­metrisch: Hier sind die Guten (und wir wissen, wer zu uns gehört) und dort sind die anderen, die defizient sind. Der französische Ansatz hinge­gen geht von einem komplexen Glaubensverständnis aus, das nie end­gültig fixierbar, einem geschichtlichen Prozess unterworfen und mit Zweifel und Fragen verknüpft auf Hoffnung hin existiert und das auch der Erfahrung der Verborgenheit Gottes Raum und Stimme gibt. Daher ist auch das „Bild“ von den „anderen“ eines, das nicht von einer einseiti­gen Subjekt-Objekt-Relation (wissender Sender und zu belehrender Empfänger) geprägt ist. Vielmehr ist jeder ein Nehmender und ein Gebender, der sich in Freiheit auf einen schöpferischen Formgebungs­prozess seines elementaren Glaubens selbst einlässt, so seine Singulari­tät entdeckt. Jüngerinnen und Jünger versuchen bewusst, sich durch die Art und Weise Jesu, die Welt zu bewohnen, prägen und formen zu lassen. Damit ist ein spezifischer Lebensstil von Gastfreundschaft ver­bunden, die anderen angeboten (selbst Gäste einladen) und selbst von anderen angenommen (bei anderen als Gast sein) wird. In Theobalds Denken wird so die Heiligkeit derer entdeckt und gespiegelt, die mit Christus in Verbindung stehen.

Deshalb betont Theobald in der Nachfolge des Konzils (Dei verbum) die Bedeutung des Gesprächs (colloquium) miteinander, des Hörens auf den anderen, auf die Zeichen der Zeit, auf das lebendige Gotteswort in der geteilten und so erschlossenen Schrift, auf die eigenen inneren Stim­men und Stimmungen und deren Ausrichtung (Unterscheidung – discretio). Dieser Dialog der Jüngerinnen und Jünger untereinander und mit den Menschen elementaren Lebensglaubens stellt sich als Begeg­nungs- und Beziehungsgeschehen in der Welt dar. Die Begegnung mit Christus in dem sich ereignenden Geschehen des elementaren Glaubens korreliert mit der Begegnung mit Menschen, die auf ihre Weise deutend unterwegs sind. Es ist wohl nicht zufällig, dass das Abschlussdokument der letzten Bischofssynode „Die Jugendlichen, der Glaube und die Beru­fungsunterscheidung“ ebenfalls ein Bild von einer Kirche zeichnet, die hörend ist, zur Unterscheidung anleitet und somit Menschen zum Ge­heimnis ihres Lebens im Sinne einer fundamentalen und unverwech­selbaren Lebensberufung begleitet.

Es wurde bereits weiter oben darauf hingewiesen, dass es eine wichtige Verbindung gibt zwischen dem Evangelium und dem Lebensstil derer, die es „verkünden“. Offenbarung ist mit ihren kulturellen Bedingungen verbunden. Pastoralitas bedeutet: Der christliche Glaube steht in der pastoralen Beziehung zwischen den „Verkündern“ des Evangeliums und den möglichen Hörern/​Gesprächspartnern, zwischen denen ein dialogi­sches und personal reziprokes Geschehen stattfindet. Damit ergibt sich ein verändertes Verständnis von Verkündigung. Sie ist nicht eine Beleh­rung, sondern ein gemeinsames Entdecken der Logik des Evangeliums. Diese Verkündigung findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern konstituiert ein partnerschaftliches und gegenseitiges Lehr-Lern-Verhältnis zwischen Christentum und Kultur, zwischen Kirche und Welt. Die Kirche ist nicht die einseitige Lehrmeisterin der Menschen und der Gesellschaft, die Christen sind nicht die besseren Menschen.

Es sei noch ein Gedanke über das Verständnis vom geweihten Amt (ordo) hinzugefügt. In den nordamerikanischen Programmen fällt auf, dass die treibende Kraft immer der Pfarrer ist. Er entscheidet über die Schritte der Veränderung in der Pfarrei, über die Wertigkeit der Arten von Versammlungen und Initiativen in den pfarrlichen Räumen, über den Status von Jüngern und Mitarbeitern. So zeigen sich diese pasto­ralen Ansätze vor dem Horizont eines Priesterbildes, wie es in charisma­tischen Spielarten der katholischen Kirche derzeit neu aufscheint. Der Priester als Superheld (hero) ist der, der als „Geheimnisträger“ die Rolle der Vermittlung und Heilung hat. Er repräsentiert in seiner Person die radikale Lebenserneuerung durch die Betonung von Umkehr und Jün­gerschaft, von prophetischer Rede und visionärer Kraft. Die französi­schen Ansätze hingegen sprechen eher zwischen den Zeilen und ohne Pathos von der priesterlichen Aufgabe, die Jüngerinnen und Jünger zum beständigen Dialog und zur Gastfreundschaft und Heiligkeit einzula­den, zu begleiten, sie zu motivieren und zu ermutigen, sich von Christus her formen zu lassen.

d) Die Wirkweise des Evangeliums

Geht es um Proklamation der geoffenbarten Wahrheit an die Unwissen­den oder um ein gemeinsames Entdecken der Facetten des Reiches Got­tes im Evangelium? Die klassische Missionshermeneutik von Sender und Empfänger, von Glaubenden und Nicht-Glaubenden, von Aktivis­ten, die die „zu erreichenden“ Adressaten zu sich „herüberziehen“ wol­len, ist offenbar trotz vieler missionswissenschaftlicher Reflexionen noch sehr lebendig. Mit ihr verbindet sich oft die Vorstellung eines Comebacks einer bestimmten Gestalt von kirchlicher Institution. Der Charme des französischen Pastoralansatzes ist, dass alle einer lebens­langen Umkehr und Erneuerung bedürfen.

4. Pastorale Entwürfe als Reaktion auf Entwicklungen des religiösen Systems in der Gegenwart. Ein Resümee

Es ist unübersehbar, dass sich insbesondere in den (in unterschiedlicher Weise) säkularisierten Staaten Mitteleuropas der Status von Religion im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext massiv verändert (radikale Modernisierung). Dabei verändert sich die Relevanz des Religiösen und dessen institutioneller Repräsentanz und kommt in ein neues Gefüge. Es entwickeln sich neue Dialektiken von Privatheit und Öffentlichkeit und des Glaubens im Sinne einer Betonung auf der je eigenen Bezie­hung zu Jesus Christus (Jünger sein) und einem authentischen Erleben dieser Beziehung.

Auf diesem Hintergrund ist es sehr verständlich, dass es bei pastoral Verantwortlichen auf verschiedenen Ebenen eine Sehnsucht nach klaren und praktikablen Modellen gibt, wie Aufbruch und geistliche Erneuerung gelingen kann. Da oft eher Depression, Rückschritte und Abbrüche des bisherigen Systems wahrgenommen werden, wird die Sehnsucht nach Wachstum und Erneuerung bedient: Wie haben die das geschafft? Der nordamerikanische Pragmatismus der Pfarreientwick­lungsprogramme stellt die Verheißung einer wachsenden Gemeinde katholisch-profilierter Mitglieder dar und macht das Versprechen der Erneuerung, die sich an konkreten Kennzahlen (einer traditionell-institutionellen Kirchlichkeit: Mitglieder, Gottesdienstteilnehmer, Finanzierungsaufkommen) ablesen lässt. Viele Inhalte stammen aus dem evangelisch-freikirchlichen Raum der Gemeindewachstums­bewegung (Kleingruppen, Alphakurs, inspirierender Gottesdienst, Predigt, Welcome-Teams, gastfreundliche Kultur …) und verknüpfen sich derzeit mit Aspekten einer fortschreitenden Charismatisierung (Lobpreis, Anbetung, Geistbegabung, „Rettung für alle“) innerhalb der katholischen Kirche.

Dabei gibt es wohl, wie der Vergleich zwischen den nordamerikanischen „Programmen“ und dem pastoralen Ansatz aus Frankreich zeigt, prag­matisch einfachere und schwerere Antwortversuche auf die Frage nach der Zukunft des Christentums und der Sendung der Kirche in Deutsch­land. Die Frage bleibt tatsächlich, ob die nordamerikanischen Initiati­ven angesichts der mitteleuropäischen Situation tief genug gehen, um die Glaubwürdigkeits- und Relevanzkrise des christlichen Gottesglau­bens insgesamt zu beantworten und eine Erneuerungsdynamik in Gang zu setzen. Hinzu kommt, dass die Pfarreientwicklungsprogramme in der Vermittlung durch dritte Anbieter als kostenpflichtiges Organisa­tionsentwicklungsmodell angeboten werden. Als ökonomisch orien­tiertes Beratungsmodell insinuiert es, die Methode führe nach Analyse, Projektierung und Umsetzung in Pfarreien und Bistümern nachweislich zu „besseren“ Ergebnissen. Eine gewisse Skepsis ist hier durchaus angebracht.

Das andere ist schwerer, weil unklarer. Die pastorale d’engendrement ist streng genommen kein Modell, sondern eine Haltung, die es mit ande­ren in Mut und Zuversicht einzuüben gilt. Und die Erneuerung, die da­von ausgehen könnte, wenn Christen sich dieser Dynamik anvertrauen, käme wohl nicht unbedingt als numerisches Wachstum daher. Sie näh­me eher die Situation einer zunehmenden Diaspora ernst, stünde aber für eine authentische, in Zuversicht und langfristig auf Gottes Wirken vertrauende und mit dem kulturellen System kommunikativ vernetzte Gestalt einer am Evangelium orientierten Sendung von Kirche.

Auf jeden Fall gilt: Die Bedeutung von ansprechender und berührender Liturgie, von Beziehungen und Kleingruppen, in denen Leben und Glau­ben geteilt werden kann, von katechetischen Kursen zum Kennenlernen und zur Vertiefung des Glaubens, von attraktiv und einladend gestalte­ten Gemeinschaftsbezügen, von qualitätvollen Designs des Glaubens­ausdrucks – hier ist in der pastoralen Entwicklung noch viel „Luft nach oben“.

Die Gegenüberstellung der Pfarreierneuerungsprogramme und der Leben zeugenden Pastoral zeigt, dass unterschiedliche Lebensstil- und Glaubensstilformen legitim sind. Insofern kann man durchaus von einer Ausdifferenzierung von katholischer Kirche in Deutschland sprechen, die womöglich unterschiedlichen geografisch-kulturellen Bedingungen Rechnung trägt. Es braucht jedoch weiterhin den fachlichen Diskurs über positive Ansatzpunkte pastoraler Erneuerung: Wir müssen ehrlich über das Thema Wachstum und Institutionengestalt nachdenken und wie wir eine im Glauben feiernde Gemeinde sind. Die Sehnsucht der Pastoralplaner, die pragmatische Modelle adaptieren möchten, in allen Ehren! Aber authentische Orte des Glaubens kann man wohl nicht „schaffen“, sondern man kann Personen mit Charismen einsetzen. Es kann sich für eine gewisse Zeit etwas entwickeln, es kann aber auch wieder eingehen (liquid church). Wahrscheinlich muss man ermögli­chen, dass immer wieder neu „Orte“, Dialoge und Gemeinschaften des Glaubens entstehen? Gestalten von Kirche werden sich in kürzeren Laufzeiten immer wieder verändern, die Halbwertszeit der Verände­rung wird kürzer.

In vielen Bistümern entfaltet sich derzeit im Reflektieren und in der Praxis der Berufungsgedanke als alternatives Wachstumsverständnis, als Befähigung und Begleitung, damit Menschen in Freiheit ihr Poten­zial entdecken. Ein solches „Glaubensunternehmertum“ setzt nicht darauf, dass die traditionellen Formen erhalten bleiben oder sich „wieder“ festigen (renovation). Vielmehr nimmt sie die Situation der Diaspora des Glaubens ernst und versucht, Menschen zu ermutigen und freizugeben, um sich auf dieses Begegnungs- und Beziehungsgeschehen einzulassen, sich vom Evangelium verwandeln zu lassen und andere zu dieser Verwandlung einzuladen, mit dem Ziel, dass möglichst viele Menschen ein gutes und erfüllendes Leben haben.