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Das Konzil nach 50 Jahren „frei geben“ und rekontextualisieren: Die „Pastoral des Zeugens“

Der in dieser euangel-Ausgabe thematisierte Ansatz einer „zeugenden Pasto­ral“ bedarf einer kritischen Durchsicht, die Jan Loffeld unternimmt. Er geht dabei der Rezeption in der deutschsprachigen Pastoraltheologie nach und beschreibt diese als ein existentiell praktiziertes „Crossing-over“, das bereit ist, angestammte Selbstverständlichkeiten zur Disposition zu stellen.

Dieser Artikel entsteht in den Tagen des Übergangs von Deutschland in die Niederlande. Noch ist das tägliche Pendeln nötig, jeden Tag ist daher der Gang über die Grenze angesagt: Schon der erste Bahnhof auf nieder­­ländischer Seite wirkt völlig anders, die Stadt Utrecht irgendwie mondä­ner und angelsächsischer als ihre gleich großen deutschen Schwestern. Von den 350.000 Einwohnern Utrechts sind gerade mal zehn Prozent katholisch, von denen ein bis zwei Prozent am Sonntag einen Gottes­dienst besuchen. Die meisten Bewohner dieser Stadt, die über Jahrhun­derte religiöses Zentrum war, gehören keiner christlichen Konfession mehr an oder sind konfessionslos – je jünger, desto mehr. Solcher Grenz­wechsel „macht was mit einem“. Denn ganz automatisch trans­formiert und relativiert sich für selbstverständlich Gehaltenes. Das kann Angst machen und gleichzeitig den Horizont weiten: dass alles ganz anders sein kann, ganz anders geht – so, wie schon Aristoteles Kontingenz definiert. Eine Grundbedingung des Menschseins. In diesen Tagen kommt daher manchmal der Gedanke, dass wir gerade in der Praktischen Theologie gerne von „sich aussetzen“ oder „exposure“ spre­chen, was dies aber konkret bedeutet und welche Veränderungen dies tatsächlich beinhalten kann, schließlich, welchen Kontrollverlust oder auch welche Ohnmacht dieser Prozess mitunter birgt, lässt sich vermut­lich vor allem im Über‑Gehen selbst entdecken: im existentiell prakti­zierten „Crossing-over“, das bereit ist, angestammte Selbstverständ­lichkeiten zu disponieren. Die deutsche Rezeption der „Pastoral des Zeugens“ ist ein solches Crossing-over-Projekt par excellence. Eigentlich findet sich gerade im Fachdiskurs der Praktischen Theologie dies viel zu selten. Zu oft scheint hier wie im gesamten Großgebäude der deutschen akademischen Theologie implizit die Einsicht Friedrich Wittgensteins zu gelten: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Die Konzils- und Vorkonzilszeit war da offenbar anders. Große Dokumente zeigen deutliche Spuren französischer, deutscher und belgi­scher bzw. niederländischer Herkunft. Gewiss muss man damals wie heute bei allen Crossing-over-Projekten bezüglich der kulturellen Über­setzbarkeit immer vorsichtig sein. Denn die Grenzen einer Sprache mar­kieren natürlicherweise auch die Grenzen einer Denkkultur und ihrer akademischen Prämissen. Unterschiedlich sind überdies bereits unsere europäischen Nachbarkulturen bezüglich ihrer Geschichte und der Be­deutung von Religiosität und Kirche darin. Daher gilt vielleicht zualler­erst eine „Verhaltensregel“: das Andere soweit als möglich nicht nach den Kategorien des Eigenen bedenken und es daher nicht vorschnell beurteilen. Die Kultur- und Religionsgeschichte Frankreichs ist fraglos eine andere, und was unter dem Schlagwort der „secularité“ verhandelt wird (auch in seinen neuerlichen Ambivalenzen und Anfragen von der „säkularen“ Seite), unterscheidet sich von einem kooperativen Staat-Kirchen-Verhältnis, wie es sich in der deutschen Nachkriegszeit und schließlich nach 1989 auch in den mittel- und ostdeutschen Diözesen Deutschlands etabliert hat. Aber genau der Blick in solch andere (Un-)​Selbstverständlichkeiten kann offenbaren, in welche Richtung sich theologisches Denken gerade angesichts und inmitten radikaler kirch­licher Selbstständigkeit entwickeln kann. Das macht es reizvoll, sich mithilfe der vielfältig geleisteten Übersetzungen gedanklich über die Grenze zu begeben. Denn als so unterschiedlich und unvergleichbar offenbart sich die Nachbarsituation dabei keineswegs. Im Folgenden sollen Aufmerksamkeiten und Lernfrüchte in Form von thematischen Spots aus diesem Grenzgang aufgezeigt, theologisch ansatzweise kon­textualisiert und abschließend zwei Fragen im Interesse des theologi­schen Diskurses gestellt werden. Die Zuwege und Gedanken zur „Pasto­ral des Zeugens“ sind allerdings so vielfältig, dass eine Gesamtwürdi­gung sicherlich viel breiter und tiefer aufgestellt werden müsste. Die folgenden Ausführungen beziehen sich daher insbesondere auf den Ansatz der „Pastoral des Zeugens“, wie er von Christoph Theobald entwickelt wurde (vgl. Theobald 2012a; Theobald 2012b). Auch dafür gilt freilich: subjektiv und selbstredend in den „Grenzen meiner Welt“.

Spot 1: Die „pastorale d’engendrement“ ist fortgeschriebene Konzilstheologie angesichts durchgesetzter Säkularität

Vielleicht ist genau dies nach dem Konzil einer der entscheidenden „blinden Flecken“ der deutschsprachigen (Pastoral-)​Theologie: Man befasste sich mit Sozialformen, Struktur und kirchenorganisatorischen Fragen und versuchte so, die Kirche und damit das Evangelium in der Moderne ankommen zu lassen. Dabei erscheint aus heutiger Sicht zu­nächst eine Voraussetzung immer prekärer: die Annahme, dass Religion sich privatisiert habe, dabei „nur“ aus der Institution Kirche ausgewan­dert sei und daher für alle pastoralen Zukunftsplanungen vor allem die Arbeit an der Kirchenfrage ausreiche, um die frei flottierende Religiosi­tät neu zu binden. Dieser Grundannahme begegnet Christoph Theobald, indem er innerhalb seiner Reflexionen zu einer „Pastoral des Zeugens“ einen allgemeinen menschlichen Glauben annimmt, der für jedes Leben unverzichtbar ist und den christlichen Glauben differenziert. Dies ist sehr kompatibel etwa mit aktuellen religionssoziologischen Erkennt­nissen aus England, wo gerade jüngere Menschen mit Glauben ihr per­sönliches Vertrauen in das eigene Leben, den eigenen Weg oder das Universum verbinden. Für Theobald ist klar, dass „die Gesellschaften Westeuropas ihren eigenständigen und selbstgeregelten Weg des Aus­zugs aus der Religion fortsetzen“. Daher muss sich das Christentum unter anderem „ohne Groll nach der Besonderheit unseres Glaubens“ fragen (Theobald 2012a, 107). Denn die Situation des Christentums besteht darin, dass das Vorläufige – etwa durch den Reinkarnations­glauben – unendlich verlängert werden soll, weil eine „mit den Grenzen des Lebens zusammenhängende Ungewissheit für die meisten unserer Zeitgenossen“ nicht zwingend bedeutet, „dass sie deswegen für die Transzendenz oder gar im christlichen Sinne für das ‚ewige Leben‘ offen wären“ (ebd. 99). Diese Erkenntnisse bilden folglich andere Vorausset­zungen, als sie etwa Gaudium et spes noch unhinterfragter setzen konn­te. Was für Theobald aber ganz und gar nicht heißt, den pastoralen Grundansatz des Konzils zu verabschieden. Dies wird überdeutlich am nächsten Punkt: 

Spot 2: Kirche und Evangelium in ein neues Verhältnis setzen

Eine zweite Grundannahme, die mithilfe der Analysen im Kontext der „pastorale d’engendrement“ prekär wird, liegt in der impliziten Gleich­setzung von Kirche und Evangelium (und daher in der Praxis von Kir­chenentwicklung und Evangelisierung). Ihr begegnet die „Pastoral des Zeugens“, indem sie präzise jene beiden Größen (erneut) differenziert. Die Kirche ist nicht das Evangelium und schon gar nicht Christus selber. Auch ist sie nicht „Ziel einer pastoralen Strategie“ (Theobald 2012b, 127). Die Kirche ist eine (!) „Geschichte von Empfangen und Weiterge­ben und von Präsenzweisen des Evangeliums“ (ebd. 120). Sie und alle, die in der Nachfolge Jesu stehen, identifizieren sich im besten Fall mit der Pastoral Jesu und verweisen auf ihn. Dies ist das Geschehen, das die Kirche konstituiert. Diese funktionale – oder theologisch gesprochen – sakramentale Unterordnung der Kirche unter jene „Sache“ der Pastoral lässt sich als eine Art „gefährliche Erinnerung“ an die Konzilstheologie lesen: Hier war es bekanntlich Karl Rahner, der den ersten Satz im vor­bereiteten Schema der Kirchenkonstitution auf revolutionäre Weise veränderte. Aus „Die Kirche ist das Licht der Völker“ formulierte er „Christus ist das Licht der Völker“ und beendete wohl auch damit das lange 19. Jahrhundert eines unguten „Kirchenmonismus“: dass alles daran zu setzen sei, die Kirche auf den Leuchter zu stellen, sie apologe­tisch zu schützen, ihr Ansehen zu wahren. Welche fatalen Folgen eine Nicht-Relativierung konkreter Kirchengestalten und ‑funktionen haben kann, wird nicht zuletzt gegenwärtig in der Aufdeckung der Taten sexu­eller Gewalt und deren kircheninstitutioneller Schutz- und Ermögli­chungsstrukturen deutlich. Theobald nennt dies sehr treffend „institu­tionelles Programm“ (Theobald 2012a, 108 f.), das mittels der Säkulari­sierung als Macht- bzw. Vermittlungstechnik an ein Ende gekommen ist.

Es kann daher nicht in erster Linie darum gehen, allein Kirche bzw. Gemeinde zu bauen, sondern an der „Zeugung des Glaubens“ auch auf andere Weise mitzuwirken. Dies ist – das zeigt auch die Empirie sehr deutlich – nicht dasselbe. Die Kirche ist gewiss nicht überflüssig und sicherlich schon gar nicht eine allein vereinsmäßig zu organisierende Gruppe. Sie behält ihren theologischen Ort, allerdings in deutlicher Zu-, besser noch: Unterordnung unter das Evangelium. Dies schlägt den Bo­gen zum nächsten Punkt, dem Kernstück des französischen Ansatzes:

Spot 3: Die „Zeugung des Glaubens“ als Brennpunkt der Pastoral

Bei Theobald wird der Vertrauensvorschuss ins Leben („Botschaft eines Gutseins in jedem Leben“: Theobald 2012b, 116) zur Brücke für das, was der christliche Glaube möchte. Dabei ist eine Einschränkung sehr wich­tig und wird womöglich in aktuellen pastoralen Vollzügen implizit oft übergangen: Die zeugende Pastoral weiß, dass sie bei der Hervortretung des Glaubens ermöglichend mitwirken darf, selber sein Hervorbringen („Zeugung“) jedoch nicht garantieren kann. Diese kleine Einschrän­kung, die sich leicht überliest, ist ein wichtiger Kontrapunkt gegen alle Phantasien von „Machbarkeit“ im Gewand eher methodischer oder vor­wiegend kompetenzgläubiger pastoraler Haltungen. Glauben ist und bleibt letztlich ein Gnadengeschehen, dem Methoden und Kompeten­zen zweifelsohne dienen, diesen aber nicht an und für sich „herstellen“ können. Gerade darin ist der Begriff der „Zeugens“ hoch instruktiv. Menschen wirken an einem Geschehen mit, dessen Ursprung und Wir­kung sie jedoch nur mittelbar beeinflussen können. Denn Gezeugtes behält notwendig einen Unverfügbarkeitscharakter.

Die Bedeutung der Hl. Schrift als Eigentum der gesamten Menschheit ist nach der erzwungenen „Freigabe“ durch Prozesse der kirchlichen Exkulturation potentieller (!) Ort für das Entstehen des Glaubens – vor alledem ist die Schrift allerdings Zugang zum Menschsein an sich. Der Glaubensakt ist damit völlig frei – so wie er es, möchte er heutzutage noch irgendeine Glaubwürdigkeit beanspruchen, nur sein kann. Dies ist sehr kompatibel mit der biblisch bezeugten „Pastoral Jesu“, die sich ge­nau durch diese Haltung auszeichnete: Frei-Lassen. Nur so kann Glaube wirklich tief und authentisch sein. Auf eine Kurzform gebracht: Jünger­schaft ist nicht die einzige mögliche Konsequenz der Jesus-Begegnung durch die Hl. Schrift. Das Evangelium ist als „radikales Gutsein“ damit in jedem menschlichen Leben präsent. Hier setzt die Funktion der Über­setzer*innen ein – ein Prozess, der unter anderem die Kirche konstitu­iert und letztlich ihre Daseinsberechtigung angibt. Glaubwürdigkeit bleibt dabei konstitutiv. Auch dies ist gerade im Jahr 2019 mehr als evident.

Dabei fällt allerdings häufig ein Begriff, der womöglich innerhalb der (Pastoral-)​Theologie hierzulande irritiert: die Umkehr. Ein Umbau von Strukturen oder Strategien ohne eine wirkliche Umkehr zum Evange­lium und seiner wandelnden Kraft wird ausgeschlossen (vgl. Theobald 2012b, 112). Auch mit Blick in die Landschaft pastoraler Umbau- und administrativer Reorganisationsprozesse wirkt „Umkehr“ wie eine befremdliche Dystopie. Was aber kann er – und dies wäre eine erste Frage – gerade für solche zentralen Prozesse innerhalb der deutschen Kirche austragen? Erweisen sich die Sprachspiele von Organisations­entwicklung und ihrer – sicherlich wünschenswerten – geistlichen bzw. aus dem Evangelium abgelesenen Implikate nicht als allzu heterogene Sprachspiele? Solche Fragen leiten über in eine anfanghafte Diskussion, die dieser Artikel auch leisten soll.

Lernfrüchte und Übergänge

Es ist gerade unter gegenwärtigen Bedingungen, in denen die konkrete Kirchengestalt sich einerseits bezüglich ihrer katechetischen Wirkung, aber auch innerhalb der Aufarbeitung sexueller Gewalt durch Kleriker als immer dysfunktionaler erweist, absolut wohltuend, die „pastorale d’engendrement“ als konzilstheologisch basierten und zugleich in die­sem Sinne fortgeschriebenen wirksamen „ekklesialen Relativierungs­faktor“ zu kennen. Sie hebt wesentliche konzilstheologische Wahrheiten erneut hervor und demaskiert damit alle kirchlichen Verzweckungen nur für ihre eigenen Strukturen oder Belange. Zugleich zeigt sie, dass es gerade angesichts fortschreitender kirchlicher Exkulturation niemals darum gehen darf, die Kirche „zu retten“ oder aber ekklesiologische Fragen allein für eine Lösungsstrategie für Gegenwartsfragen des Christentums zu halten. Solche Kausalitäten bricht die „Pastoral des Zeugens“ auf der Linie des Konzils auf – und hier ist sicherlich viel zu lernen bzw. angesichts mancher Pastoralprozesse neu zu denken: Es geht um das Evangelium als Lebens‑Botschaft, als Botschaft radikalen Gutseins und nicht um die Kirche an sich. Beides geht nicht unbedingt und keineswegs unmittelbar auseinander hervor. Jenes Evangelium ist unsere „Marke“. Wenn der Konzilshistoriker Klaus Schatz davon aus­geht, dass Konzilien ihre Wirkung in der Kirchengeschichte eigentlich erst immer 50 Jahre nach ihrem Abschluss wirklich entfalteten, ist somit die „pastorale d’engendrement“ eine theologisch sehr adäquate Weise, die „Pastoralität“ des II. Vatikanums inhaltlich neu zu füllen bzw. fortzuschreiben. Die genuin pastorale Bedeutung und Wirksam­keit der Hl. Schrift als wesentlicher Quelle zieht diese Linie ebenfalls weiter.

Genau an dieser Stelle sollen zwei Fragen formuliert werden. Weniger als Kritikpunkte, vielmehr als Anregungen zum gemeinsamen, gerne auch diskursiven Weiterdenken.

Ottmar Fuchs hat kürzlich in einem ganz anderen Zusammenhang ein ebenfalls biblisches Bild gebraucht, um eine Grundmatrix unserer ge­genwärtigen Pastoral zu beschreiben: den „galiläischen Frühling“. Es ist die Phase in Jesu Wirken, in der noch auf die Aufnahme der Reich-Got­tes-Botschaft Jesu gehofft wird und das aus gutem Grund: Jesus hat Erfolg, manchmal fühlt er sich zwar als „Brotkönig“ missverstanden, aber insgesamt scheinen er und seine Botschaft anzukommen und gebraucht zu werden. Theologisch könnte man dies die Phase einer „gelungenen Korrelation“ nennen, die bei vorausgesetzten Bedürfnis­sen vieler Menschen ansetzt. Die „Pastoral des Zeugens“ geht – wenn man dieses Bild des „galiläischen Frühlings“ weiter gebrauchen will – schon viel weiter, weil sie eben angesichts einer immer dominanteren säkularen Sphäre explizit nicht von einer methodisch in allen oder zu­mindest den meisten Fällen möglichen Korrelation ausgeht. Sie bleibt allerdings bezüglich der gemeinsamen anthropologischen Grundlage optimistisch, wenn sie auch zugleich jenen Schritt von einer anthro­pologischen Korrelation („Glaube an das Leben bzw. Gutsein“) zu einer expliziten Jüngerschaft mit überhaupt keiner Zwangsläufigkeit verbin­det. Dies allein ist ein großer Schritt, der an der Zeit ist, weil eben hier vielfache kirchliche und pastorale Schwierigkeiten schlummern, wenn Freiheiten und (pastorale bzw. theologische) Notwendigkeiten tatsäch­lich auseinandertreten.

Ottmar Fuchs geht allerdings mit seiner Parallele noch einen Schritt weiter. Er schreibt, dass sich gerade in der Ablehnung bzw. im Nicht-Verstehen oder in der Gleichgültigkeit gegenüber der Botschaft Jesu der Weg in eine je spezifische Ohnmachtserfahrung bahnt und neue Fragen aufkommen. Etwa: Gibt es auch noch Rettung bzw. „Lösung“ aus dem Evangelium innerhalb einer gespürten oder tatsächlichen Gottes- oder Menschenferne, angesichts der Teufelskreise menschlicher Schuldver­strickung, des Nicht-Verstehens des eigenen Lebens usw.? All das gehört eher zum „zweiten Teil“ des Lebens und der Botschaft Jesu: den Tagen von Passion, Verlassenheit, sogar durch die, bei denen die Botschaft auf den ersten Blick gefruchtet hatte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch heutzutage viele Menschen inmitten einer ambivalent geworde­nen Moderne ähnliche aporetische Erfahrungen machen, allerdings ist das Evangelium angesichts dessen als Heilungs- bzw. Lösungsweg für die meisten keine wirkliche Option. In der organisierten Pastoral sind parallel dazu offenkundig vergleichbare Prozesse relevant: Viele Enga­gierte erleben nach einer Zeit des „korrelativen Optimismus“ eine nicht gelingende Korrelation – auch dort, wo sie qualitätsvoll gedacht und durchgeführt ist – als existentielle Ohnmachtserfahrung. Daher die Fra­ge: Wäre es nicht auch eine Möglichkeit, die „Rettung“ im Sinne der für die „Pastoral des Zeugens“ so entscheidenden „Bekehrung“ auch als Erfahrung der Befreiung inmitten persönlicher Ohnmacht, Schuld bzw. als Ermöglichung des Neuanfangs in verwirkten Beziehungen gerade vom österlichen Geheimnis her neu zu akzentuieren? Wenn es darum geht – wie Theobald schreibt –, angesichts durchgesetzter Säkularität „ohne Groll nach der Besonderheit unseres Glaubens“ zu fragen: Könnte nicht dies gerade in einer Befreiungssituation auffindbar sein, in der sich aus der menschlich nicht machbaren österlichen Erfahrung eine Neuheit ergibt, die kein belastetes Zuvor kennt? Zumindest in Gestalt einer performativen und zugleich eschatologischen Zusage, wie sie etwa mystagogische Ansätze akzentuieren möchten? Was könnte dies dann für konkrete pastorale Vollzüge wie etwa für die Schriftlektüre in Ge­meinden bedeuten?

Auf dieser Linie schließt sich eine zweite Frage an. Pastorale Beziehun­gen werden sowohl von Ehren- wie Hauptamtlichen häufig als konfliktiv erlebt. Zwischen einzelnen Verantwortungs- bzw. Mandatsträger*in­nen, Nachbargemeinden oder Kirchenkulturen bzw. spirituellen Prak­tiken zeigt sich nicht selten Unverständnis in Verbund mit der schon länger bekannten „invidia clericalis“. Auf der vertikalen Ebene fühlen sich viele pastorale Verantwortungsträger*innen nicht ausreichend seitens der Diözesanebene verstanden oder wertgeschätzt. Auch hier zeigt sich, wenn man so will, zunächst eine spezifisch innerkirchliche Erlösungsbedürftigkeit – noch bevor diese ggf. nach außen hin postu­liert wird. Die folgende Frage geht aber deutlich über solche Zusam­menhänge und bewusst über die „pastorale d’engendrement“ hinaus, indem sie vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen alle pastoraltheo­logische Theoriebildung anfragt: Müssen nicht die realen Fragen, Kon­flikte, Perspektivlosigkeiten, Ängste vieler kirchlich Engagierter auch ein Heimatrecht in pastoraltheo­logischen Gedanken bekommen? Ist „uns“ (Pastoral-)​Theolog*innen nicht häufig der Metadiskurs näher als das tägliche Einerlei pastoraler Praxis? Kommt es nicht auch dadurch – wie oben angedeutet – häufig zu Diskursüberhängen, ‑unverrechen­barkeiten, die – bei allem guten Willen – nicht mehr wirklich ineinan­der übersetzbar sind? Anders gefragt: Machen etwa Jacqueline Straub, die Pfarrer Thomas Frings und Rainer Schießler oder der Strategiebe­rater Erik Flügge aus Sicht pastoraler Praktiker*innen nicht einen bes­seren „Job“ als wir, weil eben Letztere in deren Diskursen ihre Probleme eher abgebildet und bearbeitet finden als in genuin pastoraltheolo­gischen?

Diese beiden Fragen können vielleicht vor allem eines zeigen: Lektüre und Beschäftigung mit einer „Pastoral des Zeugens“ ist äußerst anre­gend, weil sie „an der Zeit“ ist, denn sie kommt zweifelsohne genau aus dieser und ist für diese gedacht. Ein solches Crossing-over lohnt immer und steht hoffentlich erst am Anfang!